Kurd Laßwitz
Sternentau
Kurd Laßwitz

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Pflanzenseele

Harda las behaglich, sah dazwischen mitunter träumerisch ins Grün und überdachte das Gelesene. Alle diese Worte hörte sie deutlich mit der Stimme des Verfassers, mit den kleinen Eigenheiten seiner Sprache, sie sah das treue, vertraute Antlitz vor sich mit dem weißen, vollen Haar, mit der hohen Stirn und den weichen, bartlosen Lippen, immer bewegt von allerlei schelmischen Einfällen, die über den Grund einer großen, weltumfassenden Seele huschten. Und eine unergründliche Sehnsucht ergriff sie, sich auszusprechen, ihr Herz auszuschütten dem treuen Freunde, vor dem man nichts, gar nichts zu verschweigen brauchte, und der auch alles das sah und erkannte, was ihr selbst noch im Dunkel lag. Ja, wenn sie es eben wüßte, nach was sie sich sehnte!

Sagte nicht der Efeu drüben etwas Ähnliches zu seinem Sproß auf dem Friedhofe? »Wenn Harda wüßte, wie schön es ist –?« Ja, du hast die Buche bei dir, den treuen Freund, und den kleinen Sternentau, der sich an dich hält. So sprich doch, erzähle! Ich bin jetzt hier, ich, Harda. Warum sprichst du nicht jetzt?

Aber der Efeu antwortete nicht. Harda versuchte sich in die Stimmung zu versetzen wie auf dem Friedhofe, sie wollte sehen, ob sie ihre Träumerei nicht erzwingen könne. Es gelang nicht. Die Pflanzen sprachen nicht anders, als sie immer zu aufmerksamen Menschenkindern sprechen, mit sonnigem Farbenschimmer, mit dunklem Schattenwink, mit dem leisen Blätterrauschen und dem reinen, stillen Waldesatem – –

Doch da war ein Laut. Das waren Menschentritte. Jetzt bewegten sich die jungen Buchen am Felsen, ein Mensch trat gebückt hervor und richtete sich dann zu stattlicher Länge auf. Dieser Mensch blieb fast erschrocken stehen und nahm seinen Hut ab.

»Oh,« sagte er dann, »verzeihen Sie, gnädiges Fräulein! Wenn ich das gewußt hätte –«

Harda lachte. Sie dachte gar nicht daran, daß sie gestört wurde.

»Dann wären Sie nicht hergekommen?« fragte sie harmlos.

»Ich glaubte,« sagte Eynitz, »Sie wollten nach dem Friedhof gehen.«

»Da war ich auch, es ist alles besorgt. Es sind dort mindestens ein Dutzend Kapseln aufgesprungen. Ich glaube, die Elfen schwärmen da umher wie Maikäfer, darum bin ich fortgelaufen. Und sehen Sie mal nach, hier ist noch keine einzige Kapsel vertrocknet, hier scheint man vor den Gespenstern noch sicher zu sein.«

Eynitz machte sich wirklich daran, den Efeu zu durchsuchen. Dazwischen sagte er:

»Mich trieb außer meinem botanischen Interesse die alte Touristenleidenschaft, einen unbekannten Weg aufzufinden. Und heute glaubte ich wirklich, Sie in Ihrem Reviere nicht zu stören.«

»Das tun Sie auch nicht. Wir haben ja noch genug zu besprechen. Nehmen Sie nur Platz, da unten finden Sie nichts Neues.«

Eynitz setzte sich neben sie auf die Bank. Er trug einen eleganten Sommeranzug und sah frisch aus, nicht einmal erhitzt. Die Expeditionstasche fehlte. Es fiel ihr auch auf, daß er keinen Stock hatte.

»Nun erzählen Sie erst einmal,« sagte Harda gemütlich, »wie Sie eigentlich hier heraufgekommen sind. Sie sehen gar nicht aus, als wenn Sie gekraxelt wären. Sind Sie die ganze Chaussee bis zur Aussicht gelaufen?«

»Durchaus nicht. Ich habe zunächst die Generalstabskarte studiert. Daraufhin bin ich gleich hinter der Brücke einen Feldweg entlang gegangen bis an den Wald, und dort fand ich einen schmalen Fußweg in westlicher Richtung. Er führte steil bergan, und an einer Lichtung sah ich, daß ich meine Absicht erreicht und das Riesengrab nördlich umgangen hatte. Nun hielt ich mich wieder links und kam auf eine kleine Wiese. Jetzt wußte ich nach der Karte, wo ich war, und so sehen Sie mich hier. Es war gar nicht schwierig. Nur ganz zuletzt mußte ich durchs Gebüsch.«

Er stäubte sich einige welke Blätter vom Anzuge.

»Nun lassen Sie mich Ihnen zunächst für die gütige Vermittlung der Einladung –«

Harda unterbrach ihn. »Da war gar nichts zu vermitteln. Ich erzählte bei Tisch vom Sternentau. Natürlich wurde ich gehörig aufgezogen. Aber Vater interessierte sich doch so dafür, daß er ganz von selbst sagte, er wolle mit Ihnen darüber sprechen, und mir auftrug, Sie zum Abend zu bitten. Das Theoretische ist ihm ja freilich nicht so wichtig, aber bei der Neuheit der Pflanze dachte er an eine mögliche praktische Verwertung.«

»Das wird beides aufs engste zusammenhängen. Was haben Sie denn über das Verschwinden der Gametophyten gesagt?«

»Ich wollte mich nicht in botanische Erklärungen einlassen. Ich habe einfach gesagt, daß die Früchte unsichtbar werden.«

Eynitz sah sie vergnüglich an. Harda fuhr sogleich fort:

»Und was für einen Feldzugsplan haben Sie denn ausgeheckt?«

»Das ist eine schwierige Sache. Sehen Sie, Fräulein Kern, hier ist die Grenze, die mir die ganze Frage sperrt und von einer einfachen wissenschaftlichen Untersuchung zu einem Problem hinweist, das – wie soll ich sagen – das über die mir vertrauten Methoden hinausreicht. Die mikroskopischen Untersuchungen werden ja immer noch ein fruchtbares Arbeitsgebiet liefern, aber diese, wie es scheint, aus allem Botanischen heraustretenden fliegenden – unsichtbaren Wesen – – Es ist vielleicht eine Schwäche von mir, aber ich kann das Gefühl nicht los werden, als würde mir hier der sichere biologische Boden entzogen, als würde ich gegen meinen Willen ins Spekulative geführt.«

»Ich verstehe Sie vollständig,« antwortete Harda. »Ich habe Ihnen auch dann noch etwas darüber zu sagen. Aber lassen Sie mich zunächst einmal ganz praktisch fragen: Was werden Sie meinem Vater vorschlagen? Ist denn nicht jetzt vor allem nötig, diese unsichtbaren – Elfen – zur Stelle zu schaffen?«

»Ganz gewiß. Und da habe ich zwei einfache Wege im Auge. Zunächst die Photographie. Die einzelnen Phasen der letzten Entwicklung und die sich ablösenden »Elfen« – Sie sehen, ich folge schon Ihrem Sprachgebrauch – kürzer ist er jedenfalls, aber die darin liegende psychologische Hypothese lehne ich ab – also die Erscheinung muß photographiert werden. Das wird aber vielleicht große Schwierigkeiten haben, denn für die kurze Expositionszeit, die man zur Verfügung hat, wird die Lichtentwicklung zu schwach sein. Andrerseits ist es denkbar, ja sogar wahrscheinlich, daß von den für unser Auge nicht mehr wahrnehmbaren »Elfen« kurzwellige Strahlen ausgehen, die noch auf die photographische Platte wirken. Könnte man so eine unsichtbare »Elfe« photographisch festhalten, so wäre ihre physische Realität erwiesen, und manches könnte sich aufhellen.«

»Fein!« rief Harda und nickte ihm freundlich zu.

»Und zweitens,« fuhr Eynitz fort, »müssen wir die »Elfen« verhindern, sich uns zu entziehen. Wir müssen die Pflanzen in einen Verschluß bringen, der sie in ihrer Entwicklung nicht stört, aber für die »Elfen« undurchdringlich ist. Einfach mit Drahtgaze kommt man da nicht aus. Ich denke mir Glaskästen, die sowohl an den untern Rändern als oben durch enge Drahtgitter verschlossen sind, um die Luftzirkulation zu erhalten.«

»Sehen Sie! Das ist recht. Daran habe ich auch schon gedacht.«

»Ja, ganz gut! Aber – Fräulein Kern – das alles kostet Geld – und –«

»Aber Herr Doktor,« sagte Harda lachend. »Darum habe ich ja eben den Vater neugierig gemacht. Wenn ich ihn bitte, da bewilligt er alles ohne weiteres. Und auch ohne das würde er ja der Sache näher treten wollen.«

Eynitz sah sie dankbar an. Und als er sie so anblickte, und ihre Augen im Eifer glänzten und ihr jugendfrisches, anmutiges Antlitz leuchtete und im Gegenschein des Buchenlaubes das volle, wellige Haar selbst wie in goldigem Grün schimmerte, alles Leben und Seele zugleich, da vergaß er ganz, was er sagen wollte, und daß er sie anstarrte, und sie merkte es auch nicht gleich, bis er irgend etwas zu stammeln anfing.

»Das versteht sich doch von selbst,« sagte sie errötend. »Es ist ja mein Sternentau, und Ihnen danke ich wirklich von Herzen, daß Sie sich seiner so annehmen. Wissen Sie was?« rief sie übermütig. »Wenn wir erst ein paar Elfen gefangen haben, dann halten wir sie uns im Bauer und richten sie ab!«

»Vielleicht zum Sprechen?« sagte er, auf den Scherz eingehend. »Vielleicht erzählen sie Ihnen dann eine Geschichte aus ihrem pflanzlichen Vorleben.«

Der Übermut verschwand im Augenblick aus Hardas Zügen. Sie senkte den Kopf und saß nachdenklich da.

Eynitz erschrak. Hatte er denn irgend etwas Verletzendes gesagt? Aber schon richtete sich Harda wieder auf und sah ihn ernsthaft an.

»Ich muß Ihnen etwas mitteilen, Herr Doktor,« sagte sie entschlossen, »was ich eigentlich für mich behalten wollte. Denn es ist vielleicht eine krankhafte Einbildung. Aber wir haben hier im Scherz eine Frage berührt, der wir möglicher Weise noch im Ernst näher treten müssen.«

Und sie berichtete dem erstaunt Lauschenden erst über das Verhalten des Hundes an jenem Abende, dann über die verschiedenen Fälle, in denen sie wie in einem Traumzustande die Stimmen der Efeupflanzen zu vernehmen glaubte.

»Ich schlafe ja leicht ein und fahre dann aus einem Traume auf,« sagte sie wehmütig lächelnd, »aber in diesen Fällen war es doch etwas anders. Ich sah die redende Pflanze zwischen den Gegenständen um mich, und die Worte hörte ich eigentlich nicht mit dem Ohre von außen, sondern es war vielmehr, als wenn Vorstellungen in mir selbst entstünden, die ihren akustischen Ausdruck sich in meinen eigenen Organen bildeten.«

»Ich kann so nichts Krankhaftes darin erkennen,« sagte Eynitz kopfschüttelnd. »Aber Sie berühren da eben ein Gebiet, auf das ich schon hindeutete. Ich fürchte, das Sternentau-Problem führt uns weit über die bisherige Erfahrung hinaus.«

»Wollen Sie mir einmal aufrichtig etwas sagen?« fragte Harda.

»Was ich irgend kann.«

»Ich bin fest überzeugt, daß die Pflanzen Bewußtsein besitzen. Das habe ich schon oft mit Onkel Geo besprochen. Ich möchte nun wissen, wie Sie darüber denken, und ob Sie sich irgend eine Möglichkeit vorzustellen vermögen, wie von Pflanzen erlebte Empfindungen und Gefühle in einem Menschengehirn reproduziert werden könnten. Selbstverständlich meine ich nicht mystisch oder poetisch, sondern auf naturgesetzlichem Wege, durch physisch vermittelte Übertragung.«

»Zunächst muß ich konstatieren,« antwortete Eynitz bedachtsam, »daß die Frage nach der Pflanzenseele keine naturwissenschaftliche ist. Ob den Pflanzen Bewußtsein zukommt oder nicht, macht für uns gar nichts aus. Denn etwas erklären können wir nur aus dem, was objektiv feststellbar ist, niemals aber aus dem, was möglicherweise subjektiv irgendwie erlebt wird. Das wäre die Methode des Wilden, der, wo ihm etwas rätselhaft ist, schnell einen Geist hineinsetzt.«

»Einverstanden,« nickte Harda. »Erklären wir die Naturwissenschaft für neutral. Denn Sie sind doch wohl auch der Ansicht, daß die Ergebnisse über den Bau und die Funktionen der Pflanze heutzutage der Annahme einer Pflanzenseele nicht widersprechen.«

»Ich gebe zu, daß, wer die niederen Tiere für beseelt erklärt, auch für die Pflanzen ein Gleiches annehmen darf. Nur ist mir der Ausdruck »Seele« zu unbestimmt. Über die Form dieses Bewußtseins, ob es blos ein dumpfes Gefühl ist, ob es sich bis zur Vorstellung erhebt, inwieweit es Individualität besitzt, darüber läßt sich gar nichts sagen.«

»Jedenfalls werden wohl die Empfindungen und Gefühle, ebenso die Triebe, bei den Pflanzen andersartig sein als bei uns, weil ja ihre Organe abweichend gebaut sind und funktionieren. Aber vieles muß doch auch mit uns übereinstimmen. Und da gäbe es wohl einen Anknüpfungspunkt. Wie?«

»Gewiß,« bestätigte Eynitz. »Die gemeinsame Abstammung von den Einzellern wird sich nicht verläugnen. Ernährung, Stoffwechsel, Fortpflanzung haben soviel Verwandtes bei Tier und Pflanze, daß die Orientierung im Raum, das Verhalten gegen Licht, Wärme usw., chemische und mechanische Reize ohne Zweifel den beiden großen organischen Gruppen gemeinsam sind.«

Da er Hardas Augen noch weiter erwartungsvoll auf sich gerichtet sah, fuhr er fort:

»Ferner besitzen die Pflanzen ein soziales Leben in Wald und Feld, Wiese und Moor, sie wirken aufeinander ein. Die Konsequenz verlangt, daß wir demnach auch bis zu einem gewissen Grade ein individuelles Bewußtsein annehmen, als das notwendige Gegenstück ihrer Einheit im Gesamtverkehr. Bei den höheren Pflanzen wird man eine Form des Bewußtseins zugeben dürfen, die unserm Vorstellungsleben analog ist. Ob sie Erfahrungen sammeln, ob sie diese miteinander austauschen, ob ihr Bewußtsein ganz tief unter dem unseren steht, oder uns vielleicht nach einer uns ganz unbekannten Richtung hin überlegen ist, das kann niemand wissen. Darüber zu grübeln hat auch gar keinen Sinn, es sei denn zur Übung der Phantasie.«

»Ganz so unfruchtbar ist diese Grübelei doch nicht,« sagte Harda nachdenklich. »Sehen Sie, Herr Doktor, Sie geben doch zu, daß eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen dem gesamten Erfahrungsinhalt der Menschen und dem der höchsten Pflanzen besteht, schon weil beide auf einander angewiesene Produkte der gemeinsamen Mutter Erde sind. Nun habe ich mir das etwa so gedacht. Die Pflanzen haben sich nach ihrer Art einen gewissen Schatz von Vorstellungen erworben; dafür werden sie auch irgend eine Form gegenseitiger Mitteilung besitzen, eine Art Sprache. Die braucht natürlich nicht wie bei uns akustisch oder optisch zu sein; vielleicht besteht sie in chemischen oder elektrischen Spannungsreizen, die sich durch den Boden oder die Luft fortpflanzen. Diese Form der Sprache ist nur für Pflanzenorgane verständlich. Aber es können ja doch schon durch unsere Technik feinste chemische und elektrische Reize, die wir direkt nicht wahrnehmen, mittels Mikroskop und Mikrophon für uns sichtbar und hörbar gemacht werden. Daher ist es, wie ich meine, naturwissenschaftlich wohl denkbar, daß jene nur für Pflanzenorgane verständlichen Reize auf irgend eine Weise auch für menschliche Organe faßbar umgeformt werden könnten. Sie könnten z. B. direkt auf unser Gehirn wirken und dort entsprechende Änderungen bewirken, die uns dann in der uns geläufigen Form von Tönen und Farben zum Bewußtsein kommen. Könnte das nicht sein?«

»Denkbar, ja, Fräulein Kern, denkbar, d. h. ohne logischen Widerspruch und ohne Verstoß gegen unsere bisherige wissenschaftliche Erfahrung ist das wohl. Aber –«

»Nun bitte,« rief Harda eifrig. »Das genügt mir vorläufig. Haben Sie irgend eine Idee, wodurch sich etwa die Pflanzenvorstellungen von den unsern unterscheiden könnten?«

»Nein, das ist zuviel verlangt.« Und da Harda eine ungeduldige Bewegung machte, setzte Eynitz hinzu: »Die Reize wirken bei der Pflanze langsamer als im Tierreich, daraus könnte man vermuten, daß auch ihr Vorstellungsleben langsamer, ruhiger, stiller verläuft. Es braucht darum nicht weniger intensiv und nachdrücklich zu sein, vielleicht ist es nach mancher Seite hin viel feiner ausgebildet. Viele Erlebnisse, die uns erst auf Umwegen übermittelt werden, könnten sich z. B. bei den Pflanzen unmittelbar aussprechen, weil sie in ununterbrochenem Zusammenhang mit dem Erdkörper wurzelhaft stehen, während wir uns davon gelöst und befreit haben. Die eigentümliche Art der Vorstellungsweise bei den Pflanzen, wenn sie besteht, läßt sich jedenfalls vom Menschen nicht erfassen, aber ich gebe zu, es ließe sich eine annähernde Übertragung in menschliche Anschauungsweise denken. Sie würde freilich sehr unvollkommen bleiben, etwa, wie man ein Bild oder ein Ereignis nur verstümmelt durch die Sprache beschreiben kann.«

Harda bewegte den Kopf zustimmend.

»Verstümmelt, freilich,« sagte sie nach einer Pause. »Umgeformt in menschliche Erfahrung. Aber ist es denn im Grunde nicht ebenso mit dem Verständnis der Menschen untereinander? Jeder kennt nur, was er selbst erfahren hat. Was der andre erlebt, muß er sich nach seinem eignen Vermögen deuten. Und wie oft mag er sich irren. Manchmal meine ich, eine Pflanze besser zu verstehen als einen Menschen.«

Ihr Blick ruhte unwillkürlich seitwärts auf der Buche. Eynitz suchte nach einem herzlichen Worte, aber er fand nur ein humoristisches.

»O wie unverständlich muß ich mich da ausgedrückt haben!« seufzte er.

»Nein, nein,« sagte Harda lächelnd. »Ich sprach nur ganz allgemein. Ich glaube im Gegenteil, daß wir uns besser verstehen, als es den Anschein hat. Für die Beantwortung meiner zudringlichen Fragen danke ich Ihnen recht herzlich. Aber Sie werden jetzt wohl gemerkt haben, warum ich sie stellte.«

Eynitz blickte sie fragend an.

»Setzen Sie sich nur mal in Gehirnrapport,« sagte sie belustigt. »Formen Sie meine Erfahrung in Ihre individuelle um. Aber vielleicht bin ich zu dumm.«

»Das dachte ich eben von mir. Aber halt! Sie ziehen mich empor! Ich fange an zu begreifen. Ihre Frage knüpfte an den seltsamen Traumzustand an, von dem Sie berichteten. Sie denken doch nicht etwa daran, daß hier eine solche Übertragung des Efeu-Bewußtseins auf das Ihrige stattgefunden habe?«

Harda nickte mit dem Kopfe.

»Und das ist der Ernst der Sache,« sagte sie. »Eine psychische Fernwirkung ist natürlich Unsinn. Aber wenn es ein organisches Wesen gäbe, von pflanzlicher Abstammung, jedoch mit menschenähnlichem Zentralnervensystem und entsprechender Intelligenz, das demnach wirklich Pflanzenbewußtsein aus mein Gehirn übertragen könnte, nämlich Gehirnzustände in mir hervorriefe, die ich nun erlebe als Reproduktion eines Pflanzenerlebnisses – ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke –«

»Ich verstehe, ich verstehe,« sagte Eynitz. »Sie denken an eine zentrale Auslösung sprachlicher Vorstellungen. Aber ich bitte Sie, Fräulein Kern, solche Wesen gibt es ja nicht. Sie müssen sich solchen Phantasien nicht hingeben.«

»Ich phantasiere nicht, ich habe einen ganz bestimmten Verdacht. Diese Zustände sind bei mir nur eingetreten, seit diese »Elfen« des Sternentaus bei uns ausgeschwärmt sind, und sie sind nur dort eingetreten, wo solche in der Nähe zu vermuten waren. Hier bin ich noch frei davon. Die »Elfen« sind pflanzlichen Ursprungs, und Sie selbst haben festgestellt, daß ihre Entwicklung Formen annimmt, wie sie im Gehirn intelligenter Wesen vorkommen –«

»Nein, nein, das muß anders zu deuten sein –«

»Jede solche Einwirkung begann mit einem äußeren Reiz wie mit der Berührung durch einen kühlen Hauch. Es handelt sich um einen fremden Körper, um einen animalischen, denn der Hund witterte ihn wie ein Tier – es kann gar nicht anders sein.«

»Und nochmals, liebes, verehrtes Fräulein,« sagte Eynitz erregt und erschreckt, »glauben Sie mir, solche Wesen sind unmöglich, keine Pflanze auf Erden kann derartige Wesen hervorbringen. Der Stammbaum von Pflanze und Tier schied sich auf der untersten Stufe der Organismen, eine spätere Verwandtschaft ist undenkbar. Ja es gibt Symbiosen, aber es gibt keinen Übergang von höheren Pflanzen in Tiere oder gar in Intelligenzwesen.«

Harda hatte sich erhoben. Sie stützte sich mit der Hand auf den Tisch. Eynitz war ebenfalls aufgesprungen. Eifrig sprach er weiter:

»Und dann, abgesehen von allem andern, warum sollten sich solche Erscheinungen nur bei Ihnen zeigen? Warum nicht auch bei mir oder bei andern?«

»Das kann ja noch kommen. Niemand war den »Elfen« so nahe wie ich, ich hatte sie in meinem Schlafzimmer – und – ich bin vielleicht ein geeigneteres Objekt.«

Sie versuchte zu lächeln. Aber es gelang nicht recht. In ihre Augen drängten sich Tränen. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Sie ergriff ihren Hut, gab ihm einige Püffe mit der Hand und stülpte ihn gewaltsam aus das Haupt.

»So will ich euch kriegen, wartet nur, Elfengesellschaft!« sagte sie halblaut. Sie machte einige Schritte. Dann wandte sie sich zu Eynitz zurück, der ihr ängstlich und mit innigster Teilnahme zugesehen hatte.

»Kommen Sie mit, Herr Doktor?« fragte sie freundlich.

Er nahm das Buch, das sie hatte liegen lassen, und folgte ihr bis an die schmale Treppe zwischen den Felsen. Hier blieb sie stehen. Sie war wieder ruhig. Sie blickte Eynitz an, wie fragend, lächelnd, unendlich anmutig und sagte:

»Seien Sie mir nicht böse, Herr Doktor, und wundern Sie sich nicht über meine Unart. Nein, nein – ich möchte nicht von Ihnen verkannt werden – ich bin Ihnen wirklich von Herzen dankbar. Ich weiß nur nicht, was ich hier will. Diese Anfälle, die ich den Elfen zuschreibe, sind mir nicht unangenehm, ich möchte sie gar nicht entbehren. Aber der Gedanke, dem Willen einer fremden unheimlichen Macht ausgesetzt zu sein, der empört mich. Frei will ich sein. Und dieser Widerspruch regte mich so auf. Verstehen Sie mich?«

Sie streckte ihm die Hand hin und sah ihn treuherzig an.

Eynitz ergriff ihre Hand freudig und hielt sie lange fest.

»Ich verstehe Sie und ich danke Ihnen, und ich bitte Sie, machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind keiner fremden Macht ausgesetzt. Bis jetzt sind Sie nur überrascht worden. Von jetzt ab werden Sie selbst bestimmen. Fühlen Sie das erste Vorzeichen, den kühlen Hauch, und wollen Sie sich dem Einflusse dieses Reizes nicht hingeben, so konzentrieren Sie Ihre Gedanken mit festem Willen auf eine höhere Macht, die Sie ganz erfüllt, auf eine Person, die Sie lieben, auf ein Problem, das Sie beschäftigt, nur nicht auf die »Elfenfrage«. Sie werden dann dem Einflusse nicht erliegen. Die Macht des sittlichen Willens kann auch der geschickteste Hypnotiseur nicht bezwingen. Dessen können Sie sicher sein. Und im Übrigen, Fräulein Harda, wenn Sie einen Rat brauchen, einen Menschen, der ganz –«

Harda sah ihm ernst in die Augen; dann entzog sie ihm mit freundlichem Drucke ihre Hand. »Ich weiß es,« sagte sie. Und dann plötzlich den Ton ändernd:

»Übrigens hab' ich's Ihnen schon mal hier oben gesagt, daß der Doktor Eynitz ein guter Mann ist!«

Damit sprang sie die Stufen hinab. Erst unten sagte sie: »Wir haben ja ganz vergessen, noch Sternentau mitzunehmen. Aber es ist auch nicht nötig. Ich habe einen großen Kasten für Sie, er wird Ihnen noch heute ins Haus gebracht. Kommen Sie nur gleich mit zu uns. Jetzt vor Tisch können Sie am besten mit dem Vater sprechen. Nachher stellt sich jedenfalls mehr Besuch ein.«

Eynitz antwortete noch nicht. Er fürchtete zudringlich zu erscheinen.

Auf dem Steg über die Helle nahm Harda ihren Hut ab und betrachtete ihn prüfend.

»Damit kann ich mich nicht mehr sehen lassen!« rief sie.

Sie hielt ihn weit über das Geländer.

»Rechts oder links?« fragte sie. »Wohin wird er fliegen?«

»Gar nicht,« sagte Eynitz, indem er den Hut an einer Bandschleife faßte. »Damit können Sie noch irgend einen Menschen glücklich machen.«

»Aber ich habe nicht Lust, mich weiter damit zu schleppen. Soll ich mich zur Sklavin meines Hutes machen, der längst ausgedient hat?«

»Dann werfen Sie ihn wenigstens nicht ins Wasser. Wenn Sie keine eigne Vernunftentscheidung treffen wollen, so überlassen sie es dem Zufall, wer ihn findet.«

Harda ließ den Hut los, Eynitz behielt ihn in der Hand. Sie lachte übermütig und rief fröhlich: »Da haben Sie ihn, als ehrlicher Finder!«

Eynitz zog gelassen seine Schere hervor und schnitt ein Stück von dem Hutbande ab, das er andächtig in seine Brieftasche legte.

»Das genügt mir als Andenken,« bemerkte er. »Den Hut wollen wir an dieses Gatter hängen, auf daß er seine Herrin finde.«

Harda lachte aufs neue. »Damit erreichen Sie weiter gar nichts,« sagte sie, »als daß mir Gelimer heute Abend oder morgen früh den Hut wiederbringt und ein Trinkgeld dafür erwartet, das er sofort in Schnaps umsetzen wird. Ist das vernünftig?«

Eynitz zuckte die Schultern. »Dann bleibt nichts übrig, als daß ich um Erlaubnis bitte, Ihnen den Hut bis nach Hause zu tragen.«

»Den Berg hinauf? Also jetzt gleich? Nennen Sie das eine Vernunftentscheidung?«

»Ja, ich handle aus freier Selbstbestimmung«

Hardas Augen leuchteten hell auf, als sie ihn ansah. Dann wandte sie sich schweigend und schritt vorwärts. Eynitz neben ihr, den verstümmelten Hut in der Hand. Für diesen Blick hätte er ihn durch die ganze Stadt getragen.


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