Artur Landsberger
Mensch und Richter
Artur Landsberger

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XXXII.

Es hatte nur eines telephonischen Anrufs von Seiten des Herrn Gugenzeil bedurft, um die Rechtsanwälte Dr. Bloch und Nebel zu bestimmen, die niedergelegte Verteidigung wieder aufzunehmen. – Dr. Bloch verlangte zwar die Erklärung, daß Hilde damit einverstanden sei, begnügte sich in deren Abwesenheit aber mit der Versicherung Gugenzeils, daß Hilde ernstlich diesen Schritt niemals gewollt und ihn nur auf die Probe habe stellen wollen, ob er eine übernommene Pflicht der Laune einer Frau zuliebe verletzen und den Angeklagten der Willkür der Richter aussetzen würde. – Dr. Bloch glaubte das, weil er es glauben wollte – aber auch, weil es in das Ansichtenbild Hildes paßte.

Der Prozeß Krüger – wenn er auch keine große Sensation war, beschäftigte doch die Öffentlichkeit – um so mehr, als das Gerücht, der Angeklagte sei ein unehelicher Sohn Emil Gugenzeils – vom Personal erst unter sich diskutiert, dann in die Villen nebenan getragen, bald allgemein diskutiert wurde. Und darüber hinaus hieß es, daß das gnädige Fräulein – ihrer äußerlichen Reize und ihrer geistigen Vorzüge wegen bei den jungen Damen der umliegenden Villen zwar gesucht, aber beneidet und im geheimen gehaßt – ein Interesse für den Angeklagten an den Tag lege, das nur mit starker Zuneigung zu erklären sei. Ein leiser Spott über Hildes Geschmacksverirrung kam zum Ausdruck – und im geheimen flüsterte man sich sogar zu: Inzest. Und alle diese Gerüchte wären viel lauter und bestimmter aufgetreten, wenn nicht die Mamsell gewesen wäre, die so grob dazwischenfuhr, wenn sie diesen Unsinn hörte, daß man leise blieb und Vorsicht übte.

Am Tage der Hauptverhandlung aber war der Saal von Damen und jungen Mädchen der guten Gesellschaft überfüllt, die in ihrer Eleganz und Bewegtheit den Eindruck machten, als wohnten sie von der Tribüne eines Rennplatzes aus der Entscheidung einer klassischen Prüfung bei. Sie hatten Operngläser bei sich, begrüßten und unterhielten sich über Reihen hinweg so laut, daß der alte Gerichtsdiener sie zur Ruhe mahnte.

Freudig überrascht von dem Anblick waren die Rechtsanwälte Dr. Bloch und Nebel – einmal, weil sie sich einbildeten, das Interesse der großen Welt gälte ihnen, dann aber auch, weil sie glaubten, daß sich ihnen Gelegenheit bot, grade die Kreise zu gewinnen, an denen ihnen besonders lag. Deshalb einigten sie sich stillschweigend dahin, das Publikum nicht zu enttäuschen, Proben ihrer forensischen Beredsamkeit zu geben und alles zu versuchen, den Fall groß aufzuziehen.

Diesen Wünschen kam der Vorsitzende des Gerichtshofes nicht entgegen. Als der Angeklagte aus der Untersuchungshaft in den Saal geführt wurde, ging ein allgemeines »Ach!« durch die Reihen, die Operngläser wurden auf ihn angesetzt und man hörte Worte wie: »Ein hübscher Bursche!« – »Die Hilde Gugenzeil hat gar keinen schlechten Geschmack.« – »Er ist dem alten Gugenzeil aus dem Gesicht geschnitten.«

Der Angeklagte Richard Krüger ließ sich, ohne die vielen Menschen eines Blickes zu würdigen, auf die Anklagebank führen und erwiderte kaum den Gruß der Verteidiger, die mit Worten, die nichts besagten, ihr Interesse zu bekunden suchten.

Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung, rief die Zeugen auf, unter denen zur großen Enttäuschung des Publikums Hilde Gugenzeil fehlte, verlas den Eröffnungsbeschluß und sagte zu Richard Krüger:

»Also, Angeklagter! Sie haben gehört, daß aus § 249 und 250 Absatz 3 Anklage gegen Sie erhoben worden ist. Der § 249 lautet:

›Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, sich dieselbe rechtswidrig anzueignen, wird wegen Raubes mit Zuchthaus und, falls mildernde Umstände vorhanden sind, mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. Ist nach § 250 Absatz 3 der Raub auf einem öffentlichen Wege, einer Straße, einer Eisenbahn, einem öffentlichen Platze, auf offener See oder Wasser begangen, so ist auf Zuchthaus nicht unter fünf Jahren zu erkennen. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahr ein.‹

Sie wissen also, was Ihnen bevorsteht. Bei der klaren Sachlage rate ich Ihnen, das Verteidigungssystem, das Sie während der Voruntersuchung angewandt haben, aufzugeben. Es ist so sinnlos, daß Sie Ihre Lage damit nur verschlechtern und sich um die Möglichkeit bringen, mildernde Umstände zu erhalten. Sie sind noch nicht vorbestraft, eine Gefängnisstrafe wirft Sie noch nicht aus der bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind jung und haben nach Verbüßung der Strafe die Möglichkeit, wieder festen Fuß zu fassen – während Ihnen das im Falle einer Zuchthausstrafe zum mindesten sehr erschwert ist.«

»Ich kann doch nicht etwas eingestehen, was ich nicht begangen habe.«

»Ist das alles, was Sie zu sagen haben?«

»Ich weiß, der Schein spricht gegen mich – ich kann die einzelnen Punkte der Anklage nicht widerlegen – aber ich bleibe dabei . . .«

»Erzählen Sie.«

»Ich fuhr von Paris nach Berlin. In meinem Abteil saß außer mir nur ein Herr, der mir erzählte, daß er Juwelenhändler sei . . .«

»Der Zeuge Brix bestreitet das.«

»Es ist aber so. Er bat mich noch um Einführung in Berliner Familien, wo er den Rest des Schmuckes – die Hauptstücke hatte er in Paris verkauft . . .«

»Woher wissen Sie das?«

»Er hat es mir doch erzählt.«

»Oder haben Sie ihn nicht in Paris beobachtet?«

»Ich habe ihn nie zuvor gesehen.«

»Es ist doch mehr als unwahrscheinlich, daß ein Juwelier einem wildfremden Menschen, mit dem er allein im Coupé sitzt, erzählt, daß er kostbaren Schmuck bei sich trägt.«

»Das war sehr unvorsichtig.«

»Aha! Sie geben also zu, daß er Sie erst durch seine Erzählung auf die Idee gebracht hat, die Juwelen zu stehlen?«

»Ich gebe gar nichts zu.«

»Aber, daß es unvorsichtig war, haben Sie doch eben selbst gesagt.«

»Ja.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch erhob sich und sagte:

»Ich bitte die Herren medizinischen Sachverständigen darauf zu achten, daß der Angeklagte sich ohne jeden Grund selbst belastet.«

»Das fällt mir gar nicht ein.«

»Jeder andere normale Angeklagte an seiner Stelle würde erklären, er habe keine Ahnung davon gehabt, daß der Mitreisende Schmuck bei sich trug.«

Der Vorsitzende fuhr fort:

»Sie haben in der Voruntersuchung zugegeben, an den Zeugen Brix, der es bestätigt, die Frage gestellt zu haben: ›Tragen Sie den Schmuck denn bei sich?‹«

»Ja.«

»Weshalb stellten Sie diese Sie belastende Frage?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

Der Staatsanwalt: »Die Antwort genügt mir.«

Rechtsanwalt Nebel erhob sich und erklärte:

»Der Herr Vorsitzende unterstellt, daß der Angeklagte den Zeugen Brix in Paris beobachtet . . .«

»Ich habe das nicht unterstellt, sondern nur den Angeklagten gefragt, ob es sich so verhält.«

»Gut! Wenn es sich so verhielte, dann wäre die Frage, die den Angeklagten belasten soll: ›Tragen Sie den Schmuck denn bei sich?‹ – dumm und unvorsichtig gewesen.«

»Das sage ich ja!« erklärte Rechtsanwalt Dr. Bloch. »Der Angeklagte belastet sich – auch da, wo er es gar nicht nötig hat.«

»Wenn feststeht – und das glaube ich bewiesen zu haben« – fuhr Dr. Nebel fort – »daß der Angeklagte den Zeugen Brix in Paris nicht verfolgt, sondern erst während der Reise kennengelernt hat, so wußte er bis dahin nicht, daß er einem Juwelier gegenüber sitzt. Das Gespräch über den Schmuck aber wird von dem Zeugen zugegeben. Der Angeklagte muß also ein Hellseher sein, wenn er den Beruf seines Mitreisenden erkannt hat. Ist er das aber nicht, so kann er es nur von dem Zeugen Brix selbst erfahren haben.«

»Natürlich habe ich es von ihm erfahren.«

»Der Zeuge behauptet das Gegenteil.«

»Dann hat der Zeuge die Pflicht, das Rätsel zu lösen«, erklärte Dr. Nebel.

Der Vorsitzende: »Damit, daß der Angeklagte wußte – gleichgültig, ob aus eigener Erfahrung oder aus der Erzählung des Zeugen –, daß er sich einem Juwelier gegenüber befand, wußte er noch immer nicht, wo der Juwelier den Schmuck aufbewahrte. Wenn also der Juwelier so unvorsichtig war und sich zu erkennen gab« – er wandte sich zum Angeklagten – »war Ihre Frage durchaus verständlich. Was hat der Zeuge denn geantwortet?«

»Er sagte: Der Schatz ist fünfmal gesichert – und da ich das nicht verstand, so erklärte er: Erst kommt der Pelz, dann der Rock, dann die Weste, das Oberhemd und die Unterjacke.«

Rechtsanwalt Nebel: »Das ist geradezu eine Offerte für einen Diebstahl.«

Der Angeklagte: »Er traute mir eben.«

Der Vorsitzende: »Sie sollen weiter gefragt haben: ›Für wieviel haben Sie heute bei sich?‹«

»Stimmt.«

»Und der Zeuge Brix will erwidert haben: für eine halbe Million.«

»Jawohl.«

Der Staatsanwalt: Der Zeuge Brix kannte den Angeklagten von Ciro her. Er ist ein großer Musikfreund und vierzehn Tage lang dort gewesen, um den Angeklagten spielen zu hören. Es ist daher durchaus begreiflich, daß er ihm vertraut hat.«

Der Vorsitzende zum Angeklagten:

»Weshalb haben Sie das verschwiegen?«

»Man hat mich nicht danach gefragt.«

»Sie kannten ihn also doch?«

»Ich habe ihn nie gesehen.«

»Obgleich er vierzehn Abende hintereinander im Ciro war? – Hören Sie einmal, das können Sie uns nicht erzählen. Ein Primgeiger kennt sein Stammpublikum.«

»Ich sehe nichts, wenn ich spiele.«

»Und in den Pausen?«

»Ruhe ich aus oder sehe mir die Damen an.«

»Na, hören Sie mal, das klingt nicht gerade glaubwürdig. – Aber was wichtiger ist: Ein Schaffner hat unter seinem Eide ausgesagt, daß Sie ihm hinter Köln drei Mark gegeben und ihn gebeten haben, dafür zu sorgen, daß Sie mit dem Zeugen allein bleiben.«

»Jawohl!«

Bewegung im Zuschauerraum.

»Weshalb taten Sie das?«

»Um uns hinlegen zu können.«

»Dem Zeugen Brix haben Sie davon aber nichts gesagt.«

»Nein!«

»Weshalb nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Was taten Sie dann?«

»Ich legte mich hin.«

»Und der Zeuge Brix?«

»Legte sich auch hin.«

»Vorher sollen Sie mehrere Flaschen dunkles Bier getrunken haben?«

»Ist das etwa auch verdächtig?«

»Insofern, als Sie auch den Zeugen Brix zum Trinken animiert haben.«

»Ich habe ihm gesagt, danach schläft man gut.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch zu den medizinischen Sachverständigen: »Beachten Sie, meine Herren, mit welcher Beharrlichkeit der Angeklagte sich belastet. Das tut nur ein Geisteskranker.«

Der Vorsitzende zu Dr. Bloch: »Herr Rechtsanwalt, Sie dürfen dem Gutachten der Sachverständigen nicht vorgreifen, ihnen auch nichts insinuieren.«

Der Angeklagte zu Dr. Bloch: »Ich verbitte mir das! Ich habe meine fünf Sinne Gott sei Dank völlig beisammen.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch: »Das sagt jeder Kranke von sich.«

Der Vorsitzende: »Sind Sie dann eingeschlafen?«

»Nein! Der Juwelier schnarchte wie ein Bär!«

»Sie haben also überhaupt nicht geschlafen?«

»Doch, gegen Morgen schlief ich dann ein.«

»Erzählen Sie weiter.«

»Plötzlich erwachte ich durch einen Knall und sah den Juwelier an der Flurtür laut um Hilfe rufen.«

»Sahen Sie sonst nichts?«

»Nein.«

»In der Voruntersuchung wollen Sie das Gerassel von Scheiben gehört haben.«

»Möglich. Ich weiß es nicht mehr.«

»Was geschah dann?«

»Ich fragte den Juwelier, was denn geschehen sei. Im selben Augenblick rief er Halunke und stürzte sich auf mich.«

»Sie setzten sich zur Wehr?«

»Natürlich! Ich nahm an, daß er den Verstand verloren hat.«

»Und wie erklärten Sie sich den Knall?«

»Es hatte jemand durchs Fenster geschossen.«

»Wissen Sie das genau?«

»Anders kann es ja gar nicht gewesen sein.«

»Wenn ich Ihnen nun folgendes verrate: Die Sachverständigen haben übereinstimmend erklärt, daß die Waffe, die man auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig gefunden hat und die nicht etwa aus Brüssel stammt, sondern aus Paris – und zwar aus einem Geschäft, das keine fünfzig Schritte von Ihrer Pariser Wohnung entfernt liegt – und daß der Inhaber dieses Geschäfts von dem Käufer eine Beschreibung gegeben hat, die auf Sie paßt – finden Sie sich dann noch immer nicht zu einem Geständnis bereit?«

»Nein!«

Der Staatsanwalt zieht die Schultern hoch und wendet sich zu den Verteidigern:

»Vielleicht bestimmen Sie ihn, meine Herren.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch erwidert: »Aber Herr Staatsanwalt! Einem Geisteskranken gegenüber nützt doch keine Vernunft.«

»Bin ich denn wirklich verrückt?«, ruft der Angeklagte – und Dr. Bloch erwidert lächelnd:

»Bravo! Endlich! Er kommt zur Vernunft.«

»Angeklagter«, sagte der Vorsitzende und begleitet seine Worte mit einer wohlwollenden Geste: »Sie sehen, es hat keinen Sinn, daß Sie weiter leugnen. Ich brauche Ihnen nur die Aussagen des Zugführers und des Zeugen Brix vorzuhalten, die übereinstimmend erklären, daß Sie nach dem Überfall erklärt haben, der Juwelier habe gar keine Brillanten gehabt! Er habe sie seiner Firma unterschlagen und täusche daher einen Überfall vor – eine sehr geschickte Verteidigung, Herr Dr. Bloch, die ganz und gar nicht nach Geisteskrankheit aussieht, – die aber, da man die Brillanten unter Ihrem Sitz gefunden hat, so belastend für Sie ist, Angeklagter, daß Sie wirklich Ihr sinnloses Leugnen aufgeben sollten.«

»Ja doch! Ja! Wenn Sie es durchaus wollen!«

»Ein Geständnis!«, sagte der Vorsitzende – und der Staatsanwalt erhob sich triumphierend. Aber Rechtsanwalt Dr. Bloch springt auf und sagt:

»Er ist irre! Er spielt den Gesunden! Er simuliert!«

»Wollen Sie nicht, daß ich die Beweisaufnahme schließe?«, fragte der Vorsitzende.

»Ich bin dafür«, sagte der Staatsanwalt – aber Rechtsanwalt Dr. Bloch protestiert:

»Nur wenn die Sachverständigen auf Grund der bisherigen Verhandlung bereits den Eindruck gewonnen haben, daß er für die Tat nicht verantwortlich gemacht werden kann.«

»Davon ist kein Rede«, erwidert im Namen der Sachverständigen ein Gerichtsarzt – und Dr. Bloch erklärt:

»Dann beantrage ich, in der Beweisaufnahme fortzufahren.«

Der nächste Zeuge ist der Zugführer Klemm. Er erzählt den Hergang, als wenn er ihn von Anfang an miterlebt hätte.

»Der Angeklagte«, sagte er, »kam mir schon in Köln verdächtig vor, als er durchaus allein mit dem andern Reisenden bleiben wollte. Unsereins hat 'nen Blick für so was.«

»Halt!« ruft Rechtsanwalt Dr. Bloch. »Sie sagten, er kam Ihnen verdächtig vor?«

»Aber, Herr Rechtsanwalt«, wirft der Vorsitzende ein – »der Angeklagte ist ja geständig.«

»Aber nicht schuldig«, erwiderte er – und fragte den Zugführer weiter: »Hatten Sie den bestimmten Eindruck, es mit einem Verbrecher zu tun zu haben?«

»Das ist zu viel gesagt.«

»Aha! Sie wollen sagen, er machte eher den Eindruck eines Geistesgestörten.«

Der Staatsanwalt: »Ich beanstande diese Frage und bitte, sie nicht zuzulassen.«

»Warum denn?«, fragte Dr. Bloch.

»Weil derart suggestive Fragen die Antwort vorwegnehmen und nach reichsgerichtlicher Entscheidung unzulässig sind.«

»Dann frage ich den Zeugen: Kam Ihnen der Angeklagte normal vor?«

»Eben nicht.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch zu den medizinischen Sachverständigen: »Haben Sie gehört, meine Herren, der Herr Zeuge, der dank seines Berufs ein Sachverständiger von Graden ist, hält den Angeklagten nicht für normal.«

Der Vorsitzende: »Herr Rechtsanwalt, diese direkte Einwirkung auf die Sachverständigen ist durchaus unzulässig. – Also, Herr Zeuge, erzählen Sie den Hergang.«

»Ich kam gegen neun Uhr früh aus dem Gepäckwagen. Als ich den ersten Wagen betrat, hörte ich einen Knall. Ich suchte der Reihe nach die Abteile ab. Plötzlich schrie jemand: ›Hilfe!‹«

»Wie lange nach dem Knall mag das gewesen sein?«

»Zwanzig Sekunden.«

»So haben Sie es auch vor dem Untersuchungsrichter bekundet. Fahren Sie fort.«

»Im vorletzten Abteil sah ich den Angeklagten in drohender Haltung dem Juwelier Brix gegenüber.«

»Kannten Sie die Reisenden?«

»Nein. Ich habe erst später erfahren, wer sie sind. – Ich trat zwischen beide und fragte sie: Ist hier ein Schuß gefallen? – Sie bejahten. – Von außen?, fragte ich und wollte die Notleine ziehen. Der Angeklagte erwiderte: Ja, während der Juwelier es kräftig bestritt und erklärte, der Angeklagte habe ihn erschießen wollen.«

Der Staatsanwalt: »Es ist einwandfrei festgestellt, daß der Schuß nicht von außen abgegeben worden ist, daß der Angeklagte also die Unwahrheit gesagt hat.«

»Herr Staatsanwalt, der Angeklagte leugnet ja gar nicht mehr. Nicht wahr, Angeklagter, Sie haben den Schuß abgegeben?«

»Wie Sie wollen.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch: »Ein ausgesprochener Psychopath.«

»Herr Zeuge, fahren Sie fort!«

»Der Juwelier erzählte, daß sich der Angeklagte schon vom Beginn der Fahrt an verdächtig gemacht habe und daß er daher, um wachzubleiben, ein Mittel eingenommen habe. Er habe sich dann schlafend gestellt, um den Angeklagten zu beobachten. Er habe deutlich gesehen, daß der Angeklagte kein Auge von ihm gelassen, sich dann leise aufgerichtet habe und zum Gang gegangen sei. Nachdem der Angeklagte sich überzeugt hatte, daß der Gang leer war, habe er die Tür geschlossen, die Gardinen vorgezogen und plötzlich einen Revolver aus der Tasche geholt. Als er den Arm gehoben und den Revolver auf ihn angelegt habe, sei er aufgesprungen und ihm in den Arm gefallen.«

»Genau so hat es der Zeuge Brix auch vor dem Untersuchungsrichter erzählt.«

»Sie hätten miteinander gerungen – plötzlich habe man Schritte auf dem Korridor gehört.«

Ein Beisitzer: »Kann man bei einem in Fahrt begriffenen Zug denn hören, wenn jemand den Gang entlanggeht?«

»Mich schon«, erwiderte der Zugführer, »ich wiege zwei Zentner.«

Der Vorsitzende: »Also erzählen Sie weiter.«

»Als man die Schritte hörte, habe der Angeklagte ihn plötzlich losgelassen und den Revolver zum Fenster hinausgeworfen.«

Wie zur Bestätigung sagte der Staatsanwalt: »Wo man ihn später denn auch gefunden hat.«

»Soweit der Zeuge Brix – und was für eine Darstellung gab Ihnen der Angeklagte?«

»Eine verworrene.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch springt auf: »Verworren! Also war er zum mindesten bei Begehung der Tat in einem Zustand, der seine freie Willensbestimmung ausschloß.«

Der Vorsitzende zum Zugführer: »Was sagte er denn?«

»Erst sagte er, er sei wach gewesen, und dann wieder erklärte er, geschlafen zu haben.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch: »Im Dämmerzustand also.«

»Der Angeklagte erzählte, er habe gesehen, wie der Schuß durchs Fenster kam . . .«

Der Angeklagte schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich habe nichts gesehen.«

Der Vorsitzende: »Jetzt wollen Sie auf einmal nichts gesehen haben. Uns haben Sie vorhin erzählt . . .«

»Ich sage gar nichts mehr.«

»Aber Ihr Geständnis halten Sie aufrecht?«

»Wie Sie wollen.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch: »So verteidigt sich kein Mensch, der bei fünf Sinnen ist.«

Der Vorsitzende zum Zugführer:

»Haben Sie sonst noch etwas zu bekunden?«

»Das Wichtigste. Ich sah erst jetzt, daß Pelz, Rock, Weste und Hemd des Juweliers aufgerissen waren. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, griff er sich an die Brust und rief entsetzt: Ich bin bestohlen! Die Tasche mit den Brillanten ist fort.«

»Und wie verhielt sich der Angeklagte dazu?«

»Er sagte: ›Sie haben gar keine Brillanten gehabt.‹«

»Alles das wissen wir schon. Und der Zeuge Brix wird es uns noch einmal erzählen.«

»Ich wollte dem Angeklagten die Taschen durchsuchen, aber er wehrte sich. Ich schloß das Abteil ab, nachdem ich den Schaffner zur Bewachung hineingesetzt hatte. Kaum war ich draußen, da stürzte sich der Angeklagte erneut auf den Juwelier . . .«

Der Angeklagte: »Stimmt!«

»Der Schaffner sprang hinzu, um den Juwelier zu befreien.«

»Weshalb ist er denn in dem Abteil geblieben?«

»Um zu verhindern, daß der Angeklagte den gestohlenen Beutel aus dem Fenster warf.«

»Aha – und wo fand man schließlich den Beutel?«

»Unter dem Sitz des Angeklagten.«

»Wieso haben Sie ihn nicht schon früher da liegen sehen?«

»Weil das Plaid des Angeklagten darüber hing.«

Der Staatsanwalt: »Sehr raffiniert.«

Rechtsanwalt Dr. Bloch: »Krankhaft dumm. Ein normaler Verbrecher hätte den Beutel unter den Sitz oder in das Netz des Juweliers gelegt.«

»Und in Berlin haben Sie den Angeklagten dann der Polizei übergeben?«

»Jawohl. – Und der Juwelier hat mir zur Belohnung hundert Mark angeboten, die ich aber nicht genommen habe.«

Der Zeuge wird vereidigt und entlassen.

Nach der Vernehmung stellte der Staatsanwalt noch einmal den Antrag, die Beweisaufnahme zu schließen. Der Angeklagte erklärte sich damit einverstanden und sagte:

»Schon damit meiner armen Mutter die Qual erspart bleibt.«

Auch der Rechtsanwalt Dr. Bloch, der inzwischen mit den medizinischen Sachverständigen verhandelt hatte, erklärte:

»Einverstanden. Nur die Mutter wollen die Sachverständigen noch hören.«

»Was kann die denn bekunden?«

»Daß sich ein Onkel des Angeklagten väterlicherseits vor einundzwanzig Jahren in geistiger Umnachtung das Leben genommen hat.«

»Ist das alles?«

»Und daß eine Großkusine der Mutter vor acht Jahren an Paralyse gestorben ist.«

»Ich unterstelle das als wahr«, erklärte der Vorsitzende, »meine aber, daß wir trotz des Geständnisses des Angeklagten den einzigen Tatzeugen, den Juwelier Brix, der erst mit dem Mittagszug, also gerade jetzt, in Berlin eintrifft, und Hilde Gugenzeil, die sich als Entlastungszeugin sehr dringlich gemeldet hat, noch hören müssen – und zwar nach einer Pause von dreißig Minuten, die ich jetzt mache.«

 


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