Artur Landsberger
Mensch und Richter
Artur Landsberger

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XXXI.

Bevor Hilde nach Paris gefahren war, hatte sie Frau Elsa Krüger aufgesucht und ihr erzählt:

»Ich war in Brüssel und habe diesen Juwelier gestellt. Ich hatte ihn schon in der Hand – aber er war gerissener als ich, entglitt mir – und ich mußte noch froh sein, daß er mich nicht der Polizei ausgeliefert hat. Aber einen Zweck hat die Reise doch gehabt.«

»Haben Sie etwas erfahren? Hilde?«

»Sag doch du zu mir – wenn es doch so ist.«

»Es ist nicht so. Ich habe es eidesstattlich widerrufen.«

»Der Rechtsanwalt Dr. Bloch hat die Erklärung von dir erpreßt. Ich weiß es. Er hat dir gedroht, dich wegen Erpressung anzuzeigen.«

»Wegen Erpressung – mich?«

»Er behauptet – obschon er bestimmt weiß, daß es nicht wahr ist – diese Kindesunterschiebung hast du nur erfunden, um deinem Sohn das großmütterliche Erbteil zu verschaffen.«

»Es gehört ihm – so wahr ich lebe – und so wahr es nicht mein Sohn ist.«

»Sei vorsichtig. Dr. Bloch hat sicherlich von deiner eidesstattlichen Erklärung vor Gericht Gebrauch gemacht. Das wird schwer bestraft – und glauben wird man es dir nach dem Widerruf doch nicht.«

»Ob sie es glauben oder nicht – mir ist schon alles gleich.«

»Liegt dir denn nicht daran, daß Richard freigesprochen wird?«

»Ich würde mein Leben dafür geben.«

»Obschon er nicht dein Sohn ist?«

»Bin ich ihm darum nicht zehnfach verpflichtet? Wie habe ich an dem Jungen gesündigt – nur, um dir ein gutes Leben zu verschaffen.«

»Ich glaube, er hat von seinem Leben mehr gehabt als ich von meinem. Er hat immer tun dürfen, was er wollte – mir aber hat man gerade immer das verboten, was ich gern tat – und hat immer zu mir gesagt, das schickt sich nicht für ein Kind aus gutem Hause. – Was glaubst du, wie oft ich den Richard beneidet habe?«

»Aber später, als du erwachsen warst, da hast du doch alles gehabt, was du wolltest – eine Zofe, dein Auto, dein Pferd!«

»Gewiß, aber das war bei uns alles so selbstverständlich, daß ich gar nichts Besonderes mehr daran fand. Es gehörte zu dem Stil des Lebens, das wir führten, genau so wie unzählige Rücksichten und Unannehmlichkeiten. Richard hingegen lebte als freier Künstler in Paris und konnte – zum mindesten in bezug auf seine Gefühle – tun und lassen, was er wollte. Er hat den Kammerdiener bestimmt weniger entbehrt, als ich die Zofe als lästig und überflüssig empfunden habe. Und wenn er in einer Taxi dahin fuhr, wohin das Herz ihn trieb, brachte mich meine Minerva in irgendeine Gesellschaft, in der ich vor Langeweile starb.«

Frau Elsa war den Worten Hildes mit Staunen erst, dann mit Entsetzen gefolgt.

»Dann habe ich ja etwas Furchtbares angerichtet!«, sagte sie. »Dann wärst du ja hier viel glücklicher gewesen.«

Und was sie sich zweiundzwanzig Jahre lang, wenn Sehnsucht und Gewissen sie quälten, immer wieder zu ihrer Beruhigung gesagt hatte: »Sie hat es gut – tausendmal besser als sie es bei mir je hätte haben können« – war demnach ein Irrtum gewesen.

Sie war so sehr von dieser Erkenntnis erschüttert, daß sie kaum zuhörte, als Hilde jetzt ihr Erlebnis mit dem Juwelier erzählte und von ihrer Absicht, nach Paris zu fahren.

»Das einzig Positive, das ich von ihm herausbekommen habe, war der Name Aga Tramm. In Brüssel gibt es keine Frau dieses Namens. Ich habe drei Tage und vier Nächte lang mit Hilfe von Detektiven die Stadt von oben bis unten abgesucht, weder in der Gesellschaft, noch in der Unterwelt gibt es eine Frau dieses Namens. Ich war davon weder enttäuscht, noch war ich überrascht, denn ich sagte mir gleich, du bist nun einmal in Brüssel, also gehe den Dingen nach, aber finden wirst du sie vermutlich in Paris. – Du warst in Paris, du hast ihn besucht, kennst du eine Frau dieses Namens?«

»Nein.«

»Mit was für Frauen hat er damals verkehrt?«

»Das weiß ich doch nicht. Er wird seine Mutter doch nicht mit seinen Geliebten zusammenbringen.«

»Gott, seid ihr zimperlich. Eine Mutter sollte alles von ihrem Sohne wissen. Sie sieht mehr als er – und kann, wenn sie Takt hat, viel Unglück verhindern.«

»Das muß dann eine sehr kluge Mutter sein.«

»Du bist doch klug.«

»Du meinst, weil ich eine so gescheite Tochter habe?«

Hilde fühlte sich unsicher. Irgendein Gefühl trieb sie jetzt, Frau Elsa um den Hals zu fallen, sie an sich zu drücken und – zum ersten Male – Mutter zu ihr zu sagen. Sie trat auch einen Schritt auf sie zu. Aber dann hatte sie plötzlich eine Hemmung, dachte an Gugenzeil und an Frau Kaete – blieb stehen, sah Frau Elsa an und sagte:

»Wenn erst alles vorüber ist, dann müssen wir beide ein paar Tage mal ganz für uns sein.«

»Ob du bei mir auch so geworden wärst?« fragte Frau Elsa – oder sie dachte es laut – denn sie selbst legte sich diese Frage vor, auf die sie keine Antwort erwartete.

Hilde nahm jetzt ihre Hand, führte sie an ihr Gesicht, küßte sie und sagte:

»Du hörst von mir, Mutter!«

Dann ging sie – und Frau Elsa sah ihr nach – und blieb wohl eine Viertelstunde lang laut schluchzend im Zimmer stehen. –

Hilde aber fuhr nach Paris – und suchte Aga Tramm. – Wenn man glaubt, eine besonders schwierige Aufgabe vor sich zu haben, so überlegt man so viel und denkt nicht an das einfachste. Denn Hilde hätte nur in dem Pariser Telephonbuch nachzuschlagen brauchen und hätte Aga Tramm, Privatiere, 35 Avenue de Villiers, gefunden. Aber das Geheimnisvolle, das diesen Namen umgab, ließ sie auf diesen einfachen Gedanken gar nicht kommen.

Sie kannte Paris – so, wie Fremde es zu kennen pflegen. Dreimal war sie mit ihren Eltern hier gewesen, hatte im Hotel Meurice gewohnt, bei Ritz gegessen, und auf dem Montparnasse ein paar Lokale kennengelernt, die der Fremde sehen mußte, um zu Haus geheimnisvoll erzählen zu können: »Ja, Paris, das echte Paris bei Nacht! – So etwas gibt es doch in keiner anderen Stadt der Welt.«

Diese Behauptung bleibt auch dann noch lächerlich, wenn man die echten Pariser Quartiers um die rue Lépic herum und den Montmartre da, wo selbst der französische Provinzler sich mit Grauen wendet, aufsucht. Also nicht etwa um den Place Pigalle und den Place Clichy herum, wo die kleinen Mädchen ihrem Gewerbe nachgehen und ihre »Beschützer« vor den kleinen Hotels der engen Nebenstraßen Wache halten – sondern über die rue Leibniz hinaus, wo so manche Impasse hart auf die Fortifications führt. Und sonderbar! In diesen dunklen Quartieren, die Hilde aus den Erzählungen junger Pariser kannte – die meist auch nur von ihnen gehört hatten –, vermutete Hilde die gesuchte Aga Tramm.

Gleich nach ihrer Ankunft setzte Hilde sich mit einem jungen Pariser in Verbindung, mit dem ihr Vater sie vor einem Jahre bekannt gemacht hatte und bat ihn, sie in das dunkelste Paris zu führen. Den Grund nannte sie nicht, obschon der junge Mann über Hildes Bitte mehr als erstaunt war.

Es gibt wohl niemanden heute, der Gedankenübertragung als Hokuspokus ablehnt. Auf den Wegen der Seele ist bis heute noch keiner so weit wie der verstorbene Pole Stanislaus Przybiscewski vorgedrungen. Sein De Profundis ist – Rops eingeschlossen – unerreicht. Er allein hätte eine Erklärung dafür gefunden, daß die Gedanken der nüchternen und klugen Hilde Gugenzeil beim Forschen nach Aga Tramm eine so sonderbare Richtung nahmen. Der belgische Juwelier Brix hatte, als er den Namen Aga Tramm nannte, an Dinge gedacht, die jedem vernünftig Denkenden à rebours (wider den Strich) gingen. Und diese Vorstellung an ungewöhnliche gewisse Vorgänge war bei ihm so bestimmt und deutlich, daß sie sich als Grauen auf die Seele Hildes übertrugen. So kam es, daß sie mit dem Namen Aga Tramm etwas ungewöhnlich Häßliches verband – und das war für sie das Laster – da, wo es in niedrigster Form in die Erscheinung trat.

So suchte sie mit dem jungen Pariser die niedrigsten Lasterhöhlen auf, schlich sich überall unauffällig an den Wirt heran, schob ihm einen Geldschein in die Hand und fragte, ob bei ihm eine Dirne Aga Tramm verkehrte. Aber schon in der dritten Kaschemme war sie so angeekelt, daß sie jeden weiteren Versuch aufgab. Die Wirte, die für ihr Geld etwas leisten wollten, schickten irgendeine Dirne an ihren Tisch, die log, daß sie Aga heiße. Die Verworfenheit dieser Dirnen niedrigster Sorte ernüchterte sie. Unmöglich konnte sich der Juwelier Brix, noch gar Richard Krüger, in diesen Kreisen bewegen. Sie suchte zu ergründen, wie sie überhaupt auf den Gedanken gekommen war, diese Frau hier zu suchen. Und sie fand, daß es eigentlich gar keine Anhaltspunkte dafür gab.

Als der Pariser, angeregt von dem Reiz, der von Hilde ausging, und beeindruckt von der Sicherheit und Bestimmtheit, mit der sie ihr Ziel verfolgte, endlich fragte:

»Was für eine Aga suchen Sie eigentlich?« – erwiderte sie müde und enttäuscht:

»Aga Tramm.«

Da lachte der junge Pariser laut auf – und als Hilde erstaunt fragte:

»Weshalb lachen Sie?« erwiderte er:

»Aga Tramm? Die schöne Aga, die Freundin des türkischen Prinzen, suchen Sie in den Kaschemmen?«

»Sie kennen sie?«

»Jeder Lebemann in Paris kennt Aga Tramm. Hätten Sie mir das vor zwei Stunden gesagt, wären wir zu Ciro oder zu Ritz gefahren.«

»Was denn? – Sie ist eine Dame?«

»Dem Benehmen und dem Stil ihres Lebens nach schon – und insofern eine grande Cocotte eine Dame sein kann, ist sie es.«

»Sie wissen womöglich auch, wo sie wohnt.«

»Sie hat eine Villa in der Avenue de Villiers.«

»Fahren wir zu ihr.«

»Mitten in der Nacht? – Unmöglich! Das heißt: Sie haben nicht unrecht. Tagsüber schläft so eine Frau.«

Hilde sprang auf – und der junge Pariser hatte Mühe, ihr zu folgen, so eilig strebte sie dem Ausgang zu.

Als sie vor der Villa Aga Tramms eintrafen – es war vier Uhr früh – erklärte ihnen der Hausmeister:

»Die Gnädige ist noch nicht zu Haus.«

»Wir warten«, erklärte Hilde.

In diesem Augenblick wies der Hausmeister auf ein Auto und sagte:

»Sie kommt!«

Der Wagen hielt kaum, da stürzte Hilde schon an den Schlag, öffnete die Tür und sagte:

»Sie verzeihen! Ich habe dringend mit Ihnen zu sprechen.«

»Gott, was für eine reizende Person!« erwiderte Aga Tramm. »Und so anständig sehen Sie aus. – Aber wollen Sie mich nicht wenigstens erst aussteigen lassen.«

»Verzeihen Sie mein Benehmen«, sagte Hilde und reichte Aga Tramm den Arm, um ihr behilflich zu sein. Aga Tramm, die schon im Begriff war, auszusteigen, beugte sich plötzlich in den Wagen zurück und sagte:

»Es ist eine so schöne Nacht – und ich habe viel getrunken. Kommen Sie zu mir in den Wagen, wir fahren ins Bois und Sie erzählen mir, was Sie bedrückt.«

»Gern . . . aber . . .«

»Gar kein aber. Ich verspreche Ihnen heilig, daß ich Ihren Freund weder liebe noch zu heiraten gedenke.«

»Meinen Freund?«

»Sie kann doch nur die Eifersucht zu mir führen. Also wie heißt Ihr Kavalier? – Aber so steigen Sie endlich ein! – Ach so, Sie haben einen Herrn bei sich. – Leo! Sehe ich recht? Wie geht es Ihnen?«

Der junge Pariser begrüßte Aga Tramm mit großer Zurückhaltung und sagte:

»Madame, das junge Fräulein ist aus erster Familie.«

»Dummkopf, das habe ich längst gesehen.«

»Ihre Eltern . . .«

»Sie wollen sie heiraten, Leo, und haben ihr von mir erzählt, um sie eifersüchtig zu machen oder zu renommieren.«

»Nichts von alledem. Sie kommt aus Berlin.«

»Daher der reizende Akzent. Sie wäre auch viel zu schade für Sie. Sie müssen nämlich wissen – ja, wie heißen Sie denn?«

»Hilde Gug . . . .«

»Die Familie interessiert mich nicht. – Also Leo, fahr nach Haus und überlasse mir das junge Fräulein, das mich so dringend zu sprechen wünscht.«

»Ich habe die Verantwortung, Aga.«

»Beleidige mich nicht.«

Der junge Pariser verabschiedete sich von den beiden Damen – und Aga Tramms Auto, in dem Hilde Platz genommen hatte, setzte sich in Bewegung. Aga Tramm machte es, ohne daß sie wollte, Hilde leicht.

»Sie kommen aus Berlin?« sagte sie. »Dann kennen Sie vielleicht den Primgeiger Richard Krüger?«

»Deswegen bin ich nach Paris gekommen!«

»Nicht möglich!«

»Um mit Ihnen über ihn zu sprechen.«

»Er schickt Sie?«

»Nein! Er weiß nicht, daß ich in Paris bin.«

»Er hat Ihnen von mir erzählt.«

»Nicht ein Wort.«

»Woher wissen Sie dann, daß ich und er . . .«

»Von Brix, dem belgischen Juwelier.«

»Was hat er Ihnen von uns erzählt?«

»Daß Sie für sein Unglück verantwortlich sind!«

»So ein Lump! Er allein hat schuld.«

»So schien es mir aber nicht.«

»Von allen Männern, die ich in den letzten Jahren geliebt habe . . .«

»Geliebt?«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich hing an ihm, weil er vergnügt und natürlich war – und nicht so gerissen und verlogen wie alle anderen.«

»Und trotzdem haben Sie ihn ins Unglück gestürzt?«

»Nein! Und tausendmal nein! Wenn Sie wüßten, wie ich darunter leide, daß der arme Junge im Unglück ist. – Sagen Sie, was wird ihm geschehen?«

»Zwei Jahre Zuchthaus, meint sein Anwalt.«

»Ich hasse ihn.«

»Wen?«

»Diesen Juwelier, der sich anmaßt, über uns zu richten.«

»Er fühlt sich sehr sicher.«

»Weil wir schweigen müssen.«

»Und er darf Sie verraten?«

»Ich schwöre Ihnen, ich habe es nicht gewollt. Und wenn Sie es mir auch nicht glauben! Ich habe den Jungen geliebt. Auf meine Art. Nur aus dem Grunde und weil ich dachte, ich tue ihm etwas Gutes damit, habe ich ihn mitgenommen. Ich glaubte, daß ein Mensch, der so Violine spielt, Sinn für Höheres hat.«

»Für Höheres?«

»Nun, zum mindesten nicht an die Bibel glaubt. Es war schon mancher vor ihm bei uns, den wir für reif hielten und zu gewinnen glaubten, – der dann plötzlich aber erklärte: Nein, das mache ich nicht mit. – Aber mitten in den Gottesdienst hinein zu fluchen, das hat noch keiner gewagt.«

»So hat es . . . mir . . . auch . . . Brix erzählt«, stammelte Hilde, die kein Wort verstand.

»Brix hatte recht, wenn er sagte, der Grünschnabel hat uns beleidigt. Andere Religionen werden ja auch geschützt. Nur unsere nicht. Was bleibt uns da anderes übrig, als selbst Gericht zu halten?«

»Sie hätten ihn verteidigen sollen.«

»Das habe ich getan. Aber man hat mich niedergestimmt und Brix ermächtigt, die Sühne an ihm zu vollziehen.«

»Gemein die Weise, in der er es getan hat.«

»Wir haben uns den Gesetzen unterworfen, und ich glaube nicht, daß Sie den Mut haben werden, sich dagegen aufzulehnen.«

»Ich? – wieso ich?«

»Ja, gehören Sie denn nicht zu uns?«

»Gott sei Dank, nein! – Obgleich ich nicht einmal ahne, was für Verbrechen Sie begehen.«

»Sie . . . gehören . . . nicht . . . zu . . . uns? – Ja, wie ist es dann möglich, daß Brix, der so vorsichtig ist und so gescheit, sich Ihnen offenbart hat?«

»Er hat sich verraten – ohne, daß er es wollte. Oder vielleicht nicht einmal das. Ich habe es herausgefühlt. Denn ich hatte den Willen, Richard zu helfen. Begreifen Sie! Und dieser Wille ist so stark, daß auch Sie sich ihm zuliebe über alle Bedenken hinwegsetzen und ihm helfen werden.«

»Man bringt mich um, wenn ich es tue.«

»Das also ist die Art, auf die Sie lieben.«

»Verstehen Sie mich doch richtig . . .«

»Ich verstehe Sie genau! Leider! – Und nun, bitte, fahren Sie mich in mein Hotel.«

»Brechen Sie doch nicht gleich alle Brücken ab. Zwischen damals und heute liegt so viel.«

»Ich hatte ihn zehn Jahre lang nicht gesehen, als ich von der Katastrophe im D-Zug erfuhr. Ich hatte während der ganzen Zeit weder ihm geschrieben, noch er mir. Aber ich wußte, obschon nichts für ihn sprach – er war es nicht! Gesetze – so eng wie Ihre – bestehen auch für mich, das junge Mädchen aus gutem Hause. Aber was bedeuten mir die, wenn es darum geht, jemanden zu retten, den man liebt? – Angst vor gesellschaftlicher Ächtung? Lächerlich! – Oder vor dem Tod? Ich wäre froh, wenn ich beweisen könnte, ich liebe ihn mehr als mein Leben.«

Aga Tramm hatte Hildes Hand ergriffen, drückte sie an sich und sagte:

»Kind, was sind Sie gut!«

Dann rief sie dem Chauffeur zu:

»Nach Haus!« – legte den Arm um Hilde und sagte: »Ich kann uns nicht verraten – nicht der Gesetze wegen, die es verbieten, sondern aus Überzeugung.«

»Und wenn ich Sie als Zeugin lade und aussage, was Sie mir erzählt haben?«

»So wird es Ihnen niemand glauben. Ein junges Mädchen aus gutem Haus, das nachts um vier mit einer Kokotte in Paris im Bois de Boulogne spazieren fährt? Man wird Sie in falschen Verdacht bringen und der Kokotte mehr glauben als Ihnen.«

»Sie sind kein Mensch!«

»Sie irren, Kind! Mir geht das alles sehr nahe – und ich weiß noch nicht, ob ich darüber hinwegkommen werde.«

»Und wenn Sie nicht darüber hinwegkommen?«

»Dann werde ich einen Ausweg suchen.«

»Der Termin ist am 21. September.«

»Und wo finde ich Sie?«

Hilde nannte Namen und Adresse. Aga Tramm schrieb es sich auf. – Als das Auto vor ihrer Villa hielt, fragte sie Hilde:

»Wohin darf mein Chauffeur Sie fahren?«

»Rue Meurice, bitte!«

Aga Tramm reichte Hilde die Hand zum Abschied und sagte:

»Ich beneide Sie.«

»Um was?«

»Um Ihr Gefühl.«

»Ja, das ist schön«, erwiderte Hilde. »Wie schade, daß Sie nicht auch so fühlen.«

Und als Aga Tramm sich plötzlich abwandte und, ohne sich umzusehen, im Haus verschwand, sagte sich Hilde:

»Ich glaube, sie wird uns nicht helfen.«

 


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