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Vom Bäumchen, das andere Blätter hat gewollt

Einer der berühmtesten Sprachfehler; aber er sollte noch berühmter dadurch sein, daß ihn die meisten Deutschen nicht hören. Daran verhindert sie eben die Geläufigkeit des gar nicht anders denkbaren Zitats. So muß ein Fall mit demselben Gebreste konstruiert werden. Die Grammatiker sprechen zwar davon, daß es zuweilen notwendig sei, das mit dem Artikel zusammengezogene Vorwort aufzulösen und »von dem«, »an dem«, »zu dem«, »in dem«, »bei dem« zu sagen, aber sie sagen nicht, warum, und behandeln mehr als Etikettefehler, was nichts geringeres ist als eine völlige Verschiebung des Gedankens. »Vom Wein, den ich gekostet habe«: das kann nur bedeuten, daß ich vom Wein im allgemeinen oder von der vorrätigen Gattung im allgemeinen etwas aussagen will und nebenbei, etwa bestärkend: daß ich ihn gekostet habe. »Von dem Wein, den ich gekostet habe« bedeutet, daß ich von dem Wein, den ich gekostet habe, und erst auf Grund dieser Erfahrung etwas aussagen will. Der Artikel hat beinahe den Charakter eines hinweisenden Fürworts (Von jenem Wein, den –). Es ist ein Unterschied, ob ich sage: »Vom ältesten Wein, den –« oder »Von dem ältesten Wein, den –«. Dieses, offenbar das richtige, will von dem ältesten unter jenen Weinen, die ich gekostet habe, etwas besagen. (Hierin sind zwei Demonstrativa enthalten; von jenem Wein, der der älteste unter jenen ist, die –). Das andere würde von dem ältesten Wein handeln, den es gibt und den ich gekostet haben will. In jenem ist die Aussage ohne den Relativsatz, der ein Wesentliches darstellt und einer Begriffsbestimmung gleichkommt, hinfällig. In diesem ist die Aussage auch ohne den Relativsatz, der ihm nur ein Merkmal hinzufügt, abgeschlossen. Anders beim Infinitivanschluß, der an sich schon den Zusammenhang gewährleistet und eine Zweideutigkeit ausschließt. Hier kann die Verschmelzung der Präposition mit dem Artikel eintreten: »Beim Versuch, zu entkommen«, »Im Begriff, etwas zu tun«, obgleich gerade hier die Aussage des Hauptsatzes ohne den Infinitivsatz hinfällig und nicht abgeschlossen wäre. Während der älteste Wein ohne den Relativsatz zum überhaupt ältesten wird, sich also begrifflich verstärkt, besteht der »Versuch« ohne den Infinitivsatz überhaupt nicht und der Artikel, der dort eine verbindende Funktion hat, hat hier gar nichts mehr zu bestimmen. Einigermaßen anders wieder vor einem daß-Satz: »zum Beweise, daß«. Es könnte wohl »zum Beweise, daß etwas wahr ist, eine Tatsache dienen (oder angeführt werden)«, jedoch müßte »zu dem Beweise, daß etwas wahr ist, eine Tatsache gehören«. In jenem, wo die Einheit formelhaft hervortritt, ist die Handlung des Hauptsatzes identisch mit der Beweishandlung; in diesem tritt sie erst hinzu. Dort ist »zu« mit dem Beweis verbunden (»als«), hier mit der Handlung des Hauptsatzes. Ferner bei genetivischen oder präpositionellen Anschlüssen: Beim oder bei dem Gedenken jenes Tages (an jenen Tag). Hier würde der Stil zu entscheiden haben, ob der gewichtlosere Inhalt einer Feststellung die Verschmelzung erlaubt oder das Gefühlsmoment (etwa im Schwur) die Auflösung erfordert. Hier ist er eine mit »nämlich«, »übrigens«, »notabene« koordinierte, beigesellte oder gleichgesetzte, Ausführung; dort ist er subordiniert, aber das Verhältnis ist so, daß der Hauptsatz in ihm einen Gefangenen gemacht hat, der ihn nicht mehr losläßt. Da ist nun gerade, weil die Beziehung so eng ist, die Zusammenziehung des Vorworts mit dem Artikel (vom, am, zum, im, beim) verfehlt. Es kann noch eine stärkere Diskrepanz eintreten als die zwischen Merkmal und Wesen. »Am Tage, als ich den Brief schrieb« oder »An dem Tage, als ich den Brief schrieb«. Jenes: ich habe den Brief bei Tag und nicht in der Nacht geschrieben, und da ist noch anderes geschehen. Dieses: ich habe den Brief an demselben Tage geschrieben, von dem ich etwas aussagen will. Der Brief ist sozusagen das Datum des Tages. Sein Schreiben kann in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Haupthandlung eintreten, die geradezu ihr Motiv von ihm empfängt. In solchem Fall ist die Einbeziehung des Artikels, die nur jenen andern Sinn zuläßt, unmöglich. Die Auflösung ist der eigentliche Behelf des Gedankens, den die Sprache nicht immer so zur Verfügung hat. Zum Beispiel nicht bei einem »Heute, wo« oder ähnlichen Zeitbestimmungen, wo ausschließlich das gedankliche Milieu für den Sinn aufzukommen und zu entscheiden hat, ob eine Verbindung oder nur eine Begleitung gedacht ist. Dort, wo der Artikel die Absicht des Hinweises ermöglicht, darf diese nicht verloren gehen. Während »am Tage, als ich den Brief schrieb« nur den Tag der Nacht entgegenstellen könnte, weil »der Tag« sonst keine absolute Funktion für irgendeine Handlung hätte, die man von ihm datieren kann, und man andernfalls eben sagen müßte: »an dem Tage« oder »an einem Tage«, würde etwa »am Abend, als ich den Brief schrieb« das Folgende bedeuten: ich habe am Abend irgendetwas unternommen und bemerke beiläufig, daß ich da auch den Brief schrieb. Die innere Verbindung der beiden Handlungen kann ich eben nur durch die äußere Auflösung bewirken: an dem Abend, als ich den Brief schrieb. Ebenso verschieden ist: »Er kam an dem Sonntag an, wo ich abreiste« von »Er kam am Sonntag an, wo ich abreiste«. Dieses Beispiel führen die Grammatiker, denen ein rechtes Durcheinander mit den zu verschmelzenden oder nicht zu verschmelzenden Vorwörtern beliebt, in einer Rubrik, in der ausgeführt wird: »Wo in ›am‹, ›zum‹ der unbestimmte Artikel steckt, kann dafür natürlich nicht ›an dem‹, ›zu dem‹ eintreten«. Dieser Weisung liegt eine Begriffsverschiebung zugrunde. Eine Grammatik setzt fest, daß in »am« etc. die Verschmelzung mit dem Dativ des »bestimmten oder unbestimmten Artikels« erfolgt sei. Das ist falsch. Rein grammatisch ist darin nie der unbestimmte Artikel enthalten, es kann immer nur von »an dem« und nie von »an einem« stammen. Gleichwohl kann es der Fall sein, daß »am« sprachlich einem »an einem« gleichkommt. Aber die Sprache ermöglicht dies nur in formelhaften Wendungen, etwa dort, wo ein Rang, ein Datum, ein Zustand, eine Krankheit bezeichnet wird: »Man wählte ihn zum Gesandten«, »Er kam am Sonntag«, »Es gereicht ihm zum Vorteil« und »Er leidet am Schnupfen«. Grammatisch ist das nichts anderes als: zu dem Gesandten, an dem Sonntag, zu dem Vorteil und an dem Schnupfen, wiewohl es natürlich bedeuten mag, daß er ein Gesandter wurde, an einem Sonntag kam, einen Vorteil gewinnt und einen Schnupfen hat. Aber »einen« Schnupfen: würde man sagen, wenn man diesen schon nach Art und Grad vorstellt; »den« Schnupfen: wenn diese Krankheit nur von anderen unterschieden wird. (Welche Krankheit hat er?) Ausschließlich diese Vorstellung ist in »am Schnupfen« enthalten. (Als Beweis dafür, daß darin der unbestimmte Artikel »steckt«, möchte Sanders anführen, daß man »an einem heftigen Schnupfen« sagt. Worin zweifellos der unbestimmte Artikel steckt.) Einer starb am Durchfall: »der« Durchfall war die Krankheit, an der er starb. An einem Durchfall: etwa als unmittelbarer Todesursache, als Begleiterscheinung einer anderen Krankheit. Er lag am Typhus darnieder und starb an einem (oder an) Scharlach: die erste Krankheit ist die Kategorie, die zweite der hinzutretende Fall, der in seiner Vereinzelung sichtbar wird. »Steckt« hier wo der unbestimmte Artikel, so nicht in »am«, sondern in »an«. (»Zu einem« könnte auch »zu nem« oder »zu'n« ergeben; nie »zum«.) Dem Grammatiker widerfährt die groteske Naivität, »vor weiblichen Hauptwörtern als Namen bestimmter (nicht mehrere Arten umfassender) Krankheiten« den bestimmten Artikel einzuräumen: »An der Gicht, Cholera, Schwindsucht, Pest etc.« Die Ausnahme »an der« als Beweis dafür, daß »am« aus »an einem« besteht! Als ob nicht eher und einfacher das »an der« aus der Unmöglichkeit einer Verschmelzung zu erklären wäre, die eben bei »an dem« gelingt. Daß im Femininum ein Bedeutungsunterschied eintreten soll, ist umso sinnloser, als zum Beispiel doch eher der Scharlach eine bestimmte Krankheit ist als die »mehrere Arten umfassende« Schwindsucht oder Pest. Und schließlich tritt noch die Überraschung hinzu, daß hier wie dort der unbestimmte Artikel gedacht werden kann: an Gicht oder an Typhus. Dort, wo eine begriffliche Gleichartigkeit streng gefaßt ist, die nichts Differenzierendes zuläßt, wird der bestimmte Artikel gedacht, der aber so wenig hinweisenden Charakter hat, daß er die Verschmelzung erleidet, was besonders bei jenen Formeln der Fall ist. Dort aber, wo das Substantivum in seiner Besonderheit hervortritt und eben deshalb mit dem unbestimmten Artikel verbunden ist, kann nie »vom« gesetzt werden. (Hiezu mag, um die Sprachmerkwürdigkeit des unbestimmten Artikels für die bestimmte Sache einprägsam zu machen, darauf verwiesen sein, daß »der« wie »ein« sowohl individuelle als generelle Bedeutung haben können. Aber wie viel deutschsprechende Menschen wird es geben, welche den Vollgehalt eines Artikels empfinden und die beiden am häufigsten in den Mund genommenen Wörtchen durchzudenken imstande sind? Sie mögen den Stilhanswursten des Expressionismus wahrhaft dankbar dafür sein, daß sie sie einer solchen Verpflichtung entheben und mit dem »Abbau« der Artikel erfolgreich eingesetzt haben. Brauchte nicht mehr die Zeit erspart zu werden, die man durch das Nachdenken verliert, was ein Wort bedeutet, so läßt sie sich doch noch dadurch gewinnen, daß man es nicht mehr gebraucht.) »Vom« entsteht nur aus »von dem«, und zwar wenn der bestimmte Artikel keinen demonstrativen Charakter hat, der eine Fortsetzung erfordern würde, sondern den Begriff des Hauptwortes erschöpft. In »am Bache« steckt kein unbestimmter Artikel; entweder bedeutet es: an dem Bach, von dem schon die Vorstellung da ist, im Gegensatz zu anderen Bächen, oder es wird kein bestimmter Bach vorgestellt, sondern der Bach als landschaftlicher Typus, etwa im Gegensatz zum Seeufer. Auch in diesem Fall ist es grammatikalisch ein »an dem Bach« mit einem solchen bestimmten Artikel, der jedes Hinweises auf den Einzelfall entbehrt und bloß der Absonderung der Kategorie dient. Nur dort also, wo die Individualität hinter dem Typus zurücktritt, wie etwa »ein« Sonntag »den« Sonntag vorstellt, ist die Verschmelzung möglich. Dagegen kann gerade der unbestimmte Artikel eine bestimmte, fast demonstrative Tendenz haben: Von einem Bäumchen, das andere Blätter gewollt hat. Der unbestimmte Artikel bestimmt hier erst das Bäumchen. (»Ein« bedeutet eben zweierlei.) Da es viele gibt, aber bloß eines, das andere Blätter gewollt hat, so läßt sich diese individuelle Laune nur in der Auflösung darstellen, also nur »von dem Bäumchen« sprechen, das andere Blätter gewollt hat. Dann erst dient der Relativsatz zur Bestimmung dieser Individualität. Nur wenn ein einziges Bäumchen, sei es in der Natur, sei es in dem überblickbaren Naturgebiet bereits vorgestellt wäre, von dem man dann beiläufig sagen wollte, daß es diesen Gusto gehabt habe (durch den es aber doch wohl selbst verriet, daß es sich aus einer Reihe von Bäumchen emporheben, von anderen unterscheiden wollte), könnte man »vom Bäumchen« sprechen, das andere Blätter gewollt hat. Freilich ist einer der seltenen Fälle gegeben, wo die Isolierung im Angeschauten von der märchenhaften Absonderlichkeit bezogen und das Zitathafte so mit der Vorstellung verschmolzen ist, daß es zugleich mit der Realität entstanden, ja sie erst hervorzubringen scheint. Eine Wirkung, die sich freilich nur der Gewalt der Geläufigkeit verdankt. Deutlicher und schon mehr als Gewalt spürbar, die dem Begriff angetan wird, ist die Unebenheit in andern berühmten Wendungen, deren rein begrifflicher Inhalt die volle Sicherung durch die Satzkonstruktion verlangen würde. Ein Fall, in dem der Artikel vollauf jenen Charakter eines Demonstrativums hat, der die Zusammenziehung verbietet, ist Schillers

Zum Werke, das wir ernst bereiten,
Geziemt sich wohl ein ernstes Wort.

Zwar bedürfte »das Werk« keiner näheren Bestimmung und genügte als solches der Vorstellung des Werkes, das gerade bereitet wird. Der Relativsatz kann aber aus dem Grunde nicht als die Beifügung eines bloßen Merkmals hingehn, weil der Gedanke des Hauptsatzes – die Forderung des ernsten Wortes – in eine ursächliche Verbindung mit dem Moment der ernsten Bereitung gesetzt ist. Diese ist ein Hauptgedanke, antithetisch zu »Wort«. Weil es ein ernst bereitetes Werk ist ( ein solches, das; jenes, das; oder das charakterisierende eines, wie bei dem Bäumchen), so geziemt sich (auch oder demgemäß) ein ernstes Wort dazu. Ein bloßes Merkmal enthielte der Relativsatz etwa in dem Gedanken: »Zum Werke, das uns Nutzen bringen wird, geziemt sich –«. Wiewohl auch hier die Ursächlichkeit durchschlägt. Deutlicher noch in: »Zum Werke, das uns so großen Nutzen bringen wird –«, hier liegt eine klare Begründung vor, die sich gegen die Zusammenziehung wehrt. Wie erst dort, wo das Motiv der »ernsten Bereitung« in der Wortparallele mit dem »ernsten Wort« ist: zur ernsten Tat gehört auch ein ernstes Wort. Wäre der Relativsatz nur ein Nebenbei und nicht die begriffliche Grundlage, so wäre das »ernst« eine leere Wiederholung, während es in Wahrheit eine volle Identität bedeutet. Freilich vermag hier die Unebenheit wohl dem Gedanken, aber keineswegs dem Sinn Abbruch zu tun. Anders bei Goethe:

Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nie die Frage.

Das Recht steht antithetisch zu den »Rechten«, die sich wie eine ew'ge Krankheit forterben. Folgerichtig würde das der Konstruktion »Vom Rechte« entnommene Recht als ein Absolutum, von dem nur nebenbei gesagt wird, daß es mit uns geboren ist, etwa die Summe aller Einzelrechte bedeuten, das Jus, das sie alle in sich schließt und von dem im Gegensatz zu den Rechten, die sich forterben, nie die Frage ist. Der Sinn, den die Konstruktion ergibt, ist hier natürlich keiner, und eben das schützt sie durch Überlegung vor dem Mißverständnis. Aber er ist an und für sich einer, ein falscher, und darum muß die Überlegung hinzutreten, die zwar eine Stütze des Sinns, aber auch eine Falle des Wertes ist. Man weiß, was »gemeint« ist, aber das ist eine Befriedigung außerhalb der sprachschöpferischen Sphäre. Während bei Schiller nur das eine Werk »gemeint« sein kann, kann hier auch ein anderes Recht gemeint sein als das tatsächlich gedachte: als das mit uns geborne Recht, das Menschenrecht, das Recht, das wir, im Gegensatz zu dem Erbe der »Rechte«, als ein Pflichtteil der Natur mitbekommen haben. Schöbe sich nicht das helfende und doch so störende Moment der Auffassung ein, so könnte man ja versucht sein, die Verschmelzung aus dem Erlebnis des Zusammenhangs »mit uns geboren« zu rechtfertigen und solches Ineinander als eine Totalität bis auf die Form »Vom« zu erstrecken. Aber dieser Eindruck wäre keineswegs so zwingend, daß er die Überlegung ausschlösse, welches Recht es sei, und danach die Empfindung, daß hier der Relativsatz jene definierende Kraft eingebüßt habe, die ihm zugedacht war. Wenn sich heute kein Zweifel über den Sinn mehr einstellt, so verdankt es der Satz der Gewalt des Zitats, die er trotz seinem Fehler erlangen konnte und die freilich vor allem bewirkt, daß man über den Sinn nicht nachdenkt. Rhythmus und Reim haben diese Fähigkeit zum Ersatz an den berühmtesten Beispielen bewährt und sie schaffen jene Eingängigkeit, die ein Eingehen in die gedankliche Substanz geradezu verhindert.


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