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22. Capitel.
All Heil!

Die von Somaja gegebene kurze Erklärung genügt. Sir Munro hatte nicht einmal so viel erfahren, der Mestize war sehr wortkarg. Es war um die Mittagsstunde, als er plötzlich sein Pferd zügelte, aus dem Sattel sprang und aufmerksam den Boden untersuchte, auch die nähere Umgebung, ritt weiter, eine viertel Stunde später schien ihm wiederum etwas am Boden aufzufallen; eine eingehendere Untersuchung wurde abgehalten, er sprach mit einem alten Cowboy, Beide sprangen schnell wieder in die Sättel.

»Stronghand, zurück,« sagte er und weiter nichts, und rückwärts ging es, was die Pferde laufen konnten.

Sir Munro vermochte ihn schon deshalb nicht zu fragen, weil er nicht an des Führers Seite kommen konnte.

So verging eine Stunde in gestrecktem Galopp.

»Dort,« sagte ein Cowboy, mit dem Revolver zur Seite deutend.

Es war einmal eine von Felsmassen leere Gegend, und dort in der Ferne jagten in der gleichen Richtung einige Dutzend Reiter, Indianer, die Pferde wie die Hasen mit dem Bauche am Boden liegend.

Nun wusste Munro bestimmt, was er schon geahnt, hatte ihm doch Starke auch bereits von einem Stronghand erzählt.

Man bekam es mit Rothhäuten zu thun. Sie hatten es weniger darauf abgesehen, die Cavalcade zu überfallen, als sie von den beiden Radfahrern zu trennen, auf diese war es abgesehen, jetzt wollten sie den zurückkehrenden Vorreitern den Rückweg abschneiden, und es musste ihnen gelingen. Die Felsmassen kamen wieder, die Indianer verschwanden zwischen ihnen; gleich darauf riss der führende Somaja sein Thier herum, schlug einen scharfen Haken, die anderen Pferde folgten von selbst. Es war ein Kriegsmanöver gewesen. Somaja wollte dem Feind keine Zeit lassen, einen wohlgeplanten Hinterhalt zu legen, auch an anderer freierer Stelle durchbrechen, wo man ihn nach der bisherigen Richtung nicht erwartete.

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»Durch!!«

Schüsse, Geheul, rothe Menschen und Pferdeleiber – Munro feuerte seinen Revolver auf Alles ab, was roth und nackt war. Da sah er das Pferd seines Dieners, welcher neben und etwas vor ihm ritt, zusammenbrechen. Aber Dick selbst stürzte nicht mit. Mit einer affenartigen Behendigkeit hatte er sich auf den Rückens des nächsten von einem Cowboy geleiteten Packpferdes geschwungen und schoss dort oben weiter. Denn reiten konnte Dick wie ein Gott, er stammte ja vom fahrenden Volke der Artisten.

In demselben Augenblicke – es dauerte ja überhaupt Alles nur einen Augenblick – hatte Munro das dunkele Bewusstsein, dass sein eigenes Pferd stürze, er fühlte keinen Sattel mehr unter sich, schwamm in der Luft, bekam einen harten Schlag auf den Kopf – und wusste nichts mehr. –

Wie er wieder zu sich kam, sah er Dick vor sich stehen, sich eben aufrichtend.

»Wie befinden sich Euer Gnaden? Haben Euer Gnaden etwas gebrochen?«

»Wo bin ich?« murmelte Munro, an den schmerzenden Kopf greifend.

»In Nebraska, zu dienen, Euer Gnaden.«

»In Nebraska,« wiederholte der noch halbbetäubte Baronet.

»Jawohl, Euer Gnaden, Nebraska, Vereinigte Staaten von Nordamerika.«

Da fiel Munro's Blick auf eine rothe Gestalt mit rothem, nacktem Oberkörper und franzenbesetzten Leggins, andere Indianer packten Pferde ab und untersuchten den Inhalt der Säcke; dort wälzte sich ein Pferd, sein eigenes; dort lag langausgestreckt ein Cowboy – und nun war Sir Munro erwacht, nun konnte er sich auf Alles besinnen.

Er stand auf. Nein, gebrochen hatte er nichts, er war unverletzt. Die Indianer achteten gar nicht auf die Beiden, so wenig wie auf einen zweiten Cowboy, der sich eben einen blutigen Fetzen um sein entblösstes Bein wickelte.

»Ich bin mit dem Pferde gestürzt.«

»Euer Gnaden haben sogar drei Salto mortales geschlagen, was ich noch niemals gesehen habe,« bewunderte ihn Dick.

»Todt!« flüsterte Munro, mit starren Augen den Cowboy betrachtend, dessen Kopf nur noch eine blutige, formlose Masse war.

»Zuerst war er's nicht,« erklärte Dick, »er blutete nur aus dem Halse. Der Wilde dort schnitt ihm das Haar ab, gleich mit der ganzen Haut, hing sich die Geschichte an seinen Leibriemen und gab ihm dann noch eins mit der Axt auf den Kopf. Habe noch nie so eine Rohheit gesehen. Dann muss ich Euer Gnaden noch mittheilen, dass die Wilden Ihnen Revolver, Messer und Taschenuhr gestohlen haben – der dort ist's gewesen – mir auch.«

»Und Somaja ist mit den Anderen durchgekommen?«

»Ich glaube, so annehmen zu dürfen, bis auf Euer Gnaden, diese zwei Cowboys und meine Wenigkeit. Der dort ist todt, der dort aber ist nicht todt, er verbindet sich sein Bein, der hinkt nur.«

»Und Du bist nochmals gestürzt?«

»Nein, Euer Gnaden. Ich sah, wie Euer Gnaden sich dreimal in der Luft zu umschlagen beliebten, dachte mir gleich, dass das nicht gut abgehen könnte und sprang schnell ab. Ich dachte erst, Euer Gnaden hätten sich den Hals gebrochen, aber es war nicht an dem – es hätte mir auch sehr leid gethan.«

Munro war an die Ausdrucksweise seines Dieners ja schon einige Jahre gewöhnt. Er beobachtete die Indianer, zählte sieben, darunter einen durch mehr Federn und anderen Schmuck ausgezeichnet. Einige beschäftigten sich mit dem Gepäck, die anderen sahen zu. Sie sprachen zusammen in tiefen Kehllauten.

»Was sagen Sie?«

»Leider kann ich sie nicht verstehen, Euer Gnaden. Erst dachte ich, es wäre Jüdisch-Deutsch, sie bringen's so weit hinten aus dem Halse heraus, aber es ist kein Jüdisch-Deutsch, auch nicht Zigeunerisch, es wird Indianisch sein. Jetzt fressen sie unsere Biscuits. Da – wie sie die beiden Räder angucken – wie sie davon zurückgehen. Die wollen auch nichts mit solchen Dingen zu thun haben. Es scheinen doch ganz gebildete Leute zu sein. Jetzt essen sie unsere Biscuits, wollte ich sagen.«

»Dass sie uns nur so unbeachtet lassen, ganz frei lassen!«

»Sie haben uns ja schon die Taschenuhren abgenommen. Wollen Euer Gnaden nicht lieber gehen? Ich glaube nicht, dass sie uns Pferde geben.«

Wirklich, Munro war noch so perplex, dass er glauben konnte, sich einfach entfernen zu dürfen. Ein scheuer Blick, und er wollte davonschleichen.

Daraus wurde freilich nichts. Sofort trat ihm ein Indianer entgegen, der achte, der hinter einem Felspfeiler gestanden, hielt dem Baronet die Schneide des Tomahawks dicht vor die Nase und machte eine gebieterische Handbewegung, auf den alten Platz zurückzugehen, oder ...

»Was geschieht mit uns?«

Die Rothhaut schüttelte den Kopf, verstand kein Englisch.

Man liess die Gefangenen nur auf freiem Passe, die Indianer hielten es nicht für nöthig, sie erst zu binden. Da war ja auch noch der Cowboy.

»Bill, was meinst Du, was hat man mit uns vor?«

»Hängt Euch und geht zur Hölle,« war die liebenswürdige Antwort.

Die Sachen waren wieder zusammengepackt und auf ledige Pferde geschnürt worden, ein stummer Wink des Häuptlings, eine Handbewegung nach den Packpferden – der schwer hinkende Cowboy wollte der eilfertigste sein, aber das verwundete Bein hinderte ihn doch am Aufsteigen, musste er doch auch noch auf das hochgethürmte Gepäck klettern – da bekam er mit einem zusammengeflochtenen Lasso einen Schlag, dass er gleich niederstürzte, und dennoch sass er im nächsten Augenblicke oben – und das machte, dass Sir Munro mit einer Schnelligkeit hinaufkam, wie er sonst noch nie in den einfachen Sattel gestiegen war.

In einem kurzen Galopp ging es fort, dem Norden zu, die Gepäckreiter wie auf Kameelen geschüttelt werdend. Der todte Cowboy war zurückgelassen worden, aber drei Pferde trugen fünf todte oder schwerverwundete Indianer.

Wohin ging es?

»Hängt Euch und geht zur Hölle,« knurrte der Cowboy auf jede Frage.

Munro wusste noch nicht einmal, was es für Indianer waren.

»Es sind Vagabunden,« entschied Dick, »schlimmer als die Zigeuner, nicht einmal ein Hemd haben sie an. Sonst hielten sie's nicht aus vor Läusen.«

Einmal, als Munro mit unsicherer Stimme die Frage stellte, ob die Indianer heutzutage auch noch ihre Gefangenen warteten, fand der Mestize doch andere Worte. Zuerst lachte er rauh auf.

»Na, denkt Ihr etwa, sie werden uns sanft zu Tode füttern? Das sind Nadowessiers! Wenn morgen die Sonne wieder aufgeht, wird man Euch schinden und spicken und braten, und wenn Ihr ein Mann seid, lacht Ihr die rothen Hunde aus, bis Euch ein glühender Holzpflock in den aufgerissenen Rachen gestossen wird.«

Das war mit einer furchtbaren Ueberzeugungskraft gesprochen, worden. Der Baronet verlor alle Farbe.

»Na ich denke,« liess sich dagegen Dick trocken vernehmen, »ein richtig brennender Holzpflock wird einem in den Mund gestossen? Das aber nur so etwas noch erlaubt ist! Solche Sachen müssten den Indianern doch endlich verboten werden.«

Munro hatte das erste Entsetzen überstanden. Wild fuhr er auf.

»Dann lieber den Tod!« flüsterte er und die Indianer neben ihm beachteten ihn ja gar nicht. »Und nicht allein! Dem Nächsten hier das Messer aus dem Gürtel gerissen, ihm in die Brust gestossen und dann ...«

»Und dann seid Ihr ein Narr,« unterbrach ihn der Cowboy wieder lachend, »Das sind Nadowessiers, versteht Ihr? Der Schwarzfuss neben Euch wartet ja nur darauf, dass Ihr so etwas Aehnliches thut und der ist fixer als Ihr und das bringt ihm Ehre – mit einem Griff hat er Euch die Waffe wieder entwunden, steckt sie gleichgültig, als wäre nichts geschehen, wieder in seinen Gürtel zurück, und Ihr bekommt höchstens eins in die Visage. Ja, wenn es Deadley Dash wäre! Aber den kriegen sie nicht. Wäre Deadly Dash hier ...«

Der Sprecher bekam von dem neben ihm reitenden Indianer mit dem Handrücken einen Schlag in's Gesicht, dass ihm sofort das Blut aus der Nase schoss und der Cowboy schien das ganz in der Ordnung zu finden, sagte keinen Mucks, er wusste auch aus einer übelriechenden Blume wohlschmeckenden Honig zu ziehen, d. h. er streckte die Zunge weit heraus und liess sich während des Reitens das Blut in den Mund laufen.

Deadly Dash – der tödtliche Schlag; auch der Zuckblitz mit dem gleich nachfolgenden, schmetternden Donner, wenn es eingeschlagen haben soll, wird im Englischen so genannt. Schon oft hatte Munro dieses Wort als Personennamen gehört, seit er mit den Cowboys zusammen war, dagegen noch niemals Ellen's, obgleich doch der Mann sie begleitete, der diesen Namen in der Prairie führte.

Deadly Dash! Und da ging mit Sir Munro eine Umwandlung vor sich. Ja, sogar der Gleichmuth des blutleckenden Cowboys war etwas mit schuld daran. Was hatte es denn zu sagen, wenn er sein Leben liess? Einmal muss man doch sterben. Und wenn man einem schmerzlichen Tode entgehen will – nun, auch bei gebundenen Händen und Füssen giebt es immer noch einen Weg in's Jenseits, den man freiwillig betreten kann. Vielleicht aber, wenn der junge Engländer morgen bei Stimmung war, liess er sich doch schinden und spicken und braten, kostete es einmal durch und höhnte seine Feinde bis zum letzten Athemhauch. Es liegt schon etwas darin.

Aber die, welche er liebte, wusste er in Sicherheit, wenn nichts Anderes als Bewohner dieser Prairie sie bedrohte, denn Deadly Dash war schützend bei ihr. Die Worte des rohen Cowboys hatten mit mächtigerer Ueberzeugung zu ihm gesprochen, als es eine Stimme vom Himmel hätte thun können.

Ob ihn denn Ellen wirklich liebte? Oder noch liebte? Hatte ihn der eiserne Weltenbummler nicht schon ausgestochen? Ach, es war doch besser, wenn er stürbe, ja wohl, den Tod am Marterpfahl unter tausend Schmerzen wollte er erleiden, sie würde es doch erfahren, der arme, gute Robin, so jung und so unschuldig, und da würden sich ihre Augen nicht nur so mit Thränen füllen wie bereits des armen, guten Robin's Augen mit Thränen voll waren ...

Da ist es ja schon! Wirklich, man braucht nicht kopfschüttelnd zu fragen, wie es den indischen Fakiren ein wollüstiges Vergnügen machen kann, wenn sie sich über Feuer langsam rösten lassen; wir brauchen nicht über solche Thorheit zu lachen oder zu weinen. Wir, wir besseren Menschen mit der grösseren Aufklärung, wir kennen Qualen des Herzens, welche nicht mit Körperschmerzen zu vergleichen sind, und wir geben uns ihnen mit grausamer Wollust hin. Schon die Eifersucht. Man sucht auch noch ganz Anderes mit Eifer, was schmerzlich-süsse Leiden schafft. Nirgends ist dieses tief im menschlichen Herzen wurzelnde Streben mit solch rührender Einfachheit und dabei doch mit solch packender Wahrheit ausgedrückt als in dem kleinen Volksliedchen:

Man schafft so gern sich Sorg' und Müh',
Sucht Dornen auf und findet sie.

Weiter ging es, immer weiter ohne Rast zwischen den seltsamen Felsgebilden, welche kein Ende nehmen zu wollen schienen, und Munro glaubte vor Durst verschmachten zu müssen; aber er wagte nicht mehr, den Mund aufzuthun, so wenig wie die vor Erschöpfung manchmal strauchelnden Pferde ihren Schritt nicht zu verlangsamen wagten; denn sie kannten ihre rothen Herren, zwischen deren eisernen Schenkeln sie nur lautlos sterben, nicht lebend zusammenbrechen dürfen.

Die Sonne berührte schon den Horizont, als einige buntbemalte Wigwams zwischen den Felsen auftauchten. Der Boden war hier in kleinerem Umkreise von etwas besserer Beschaffenheit, er musste auch bewässert sein; es gedieh einiges Gras und Dornengestrüpp.

Bellende Hunde und nackte Kinder eilten den Reitern entgegen; schmutzige, hässliche Weiber verliessen die Feuer, an denen sie kochten.

Ob sie es schon wussten oder ob einer der Kommenden durch einige Zeichen mit der Hand Alles erzählt hatte – plötzlich, noch ehe sie die todten und verwundeten Indianer hätten unterscheiden können, erhob sich ein Höllenspektakel, dann, als man die Folgen des Ueberfalls erkannte, erfüllte das Wehklagen und Zetergeschrei die ganze Umgegend, dass die Felsen wiederhallten, und hätten die überlebenden Ehegatten nicht ihre Aufforderung, die Weiber sollten sich um ihre Feuer kümmern, mit Faust und Stockschlägen unterstützt, die Gefangenen, als sie von den Pferden herabkletterten, hätten unter den Händen der Megären auf der Stelle ihr Leben ausgehaucht.

Dann befanden sich die Drei in einer geräumigen Höhle, von der aus sie das Lager nicht sehen konnten. Man brachte ihnen gedörrtes Fleisch, überreichlich viel, setzte ein grosses Gefäss mit Wasser hinein, und sie waren allein. Aber quer vor dem Ausgange lag ein Indianer als Wächter.

»Warum bindet man uns nicht?« fragte Munro, als er seinen Durst an dem etwas salzigen Wasser gelöscht hatte.

»Damit wir uns nicht morgen, wenn wir uns am Marterpfahl nicht als Männer beweisen, damit entschuldigen können, wir hätten wegen der drückenden Fesseln schlecht geschlafen,« lautete Bill's wenig beruhigende Erklärung. »Deshalb giebt man uns auch zu trinken und gut zu essen.«

Und der Cowboy kaute schon mit vollen Backen.

Bald wurde es finster in der Höhle, auch draussen erlosch das Dämmerlicht. Munro wollte mit leiser Stimme davon beginnen, ob denn eine Flucht gar nicht möglich sei, es scheine doch dort nur der eine Wächter zu sein.

»Ihr seid ein Narr, wenn Ihr so sprecht, esst Euch noch einmal satt und schlaft,« wurde er von Bill unterbrochen, und gleich darauf fing er an zu schnarchen.

»Dick, weisst Du, was uns bevorsteht?«

Ja, Dick wusste es, und er fühlte sich zum Philosophiren gestimmt. Der Mensch sei ein Erdenkloss, gefüllt mit rother Tinte, und wenn er stirbt, dann ist er todt, und wenn man Hunger hat, soll man essen, zumal wenn man noch lebt und es doch noch passiren kann, auf irgend eine Weise lebendig zu bleiben, und so weiter, und Dick ass mit gesundem Appetit, und Munro sah die Richtigkeit dieser Philosophie ein und ass mit. Es war stockfinster geworden.

»Ob der Kerl noch draussen liegt?«

Dick stand auf und näherte sich dem Ausgange.

»Heh, Du, hast Du nicht ein bischen Primtabak?« hörte ihn Munro fragen.

Erschrocken sprang Dick zurück.

»Ja, er ist noch da, ich glaube, er hat mir den Schädel einschlagen wollen. Na, das ist nichts. Da wollen wir lieber ein bischen schlummern.«

Auch Munro schlief endlich ein, obgleich zitternd vor Frost; das Wasser war sogar mit einer Eiskruste bedeckt. Die Indianer schienen solchen Temperaturwechsel gewöhnt und gegen derartige Kälte unempfindlich zu sein, deshalb gab man auch den Gefangenen keine Decken.

Mitten in der Nacht erwachte Munro mit klappernden Zähnen. Vor dem Ausgange lag ein etwas heller Schein, die Sterne leuchteten. Munro schlich sich hin – da erhob sich vor ihm eine dunkle Gestalt, schweigend wurde ihm die Schneide eines Tomahawks dicht vor die Nase gehalten und er kroch zurück. Es war ja auch lächerlich, glauben zu wollen, man könnte sich so davonschleichen, die Indianer hielten es ja nicht einmal für nöthig, die Gefangenen zu binden.

Einige Stunden hing Munro trüben Gedanken nach, dann schlief er wieder ein.

Als er zum zweiten Male aufwachte, war es schon ganz hell in der Höhle; draussen pfiff der Wind, der davorstehende Wächter musste sich dagegen stemmen. Dick war schon auf, der Cowboy beschäftigte sich mit seiner Wunde.

»Es ist schon lange Tag,« sagte Dick, »und ich glaube, die Indianer haben ihr Lager abgebrochen, ich sah sie mit den Fellen und Pferden vorbeimarschiren. Wenn nur der dort auch wegginge.«

Ein bewaffneter Indianer trat ein, deutete auf Munro und Dick, ein gebieterischer Wink, sie sollten ihm folgen. Der Cowboy nicht. Den kurirten sie vielleicht erst aus, ehe sie ihn an den Marterpfahl stellten.

»Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben,« citirte Munro mit bleichen Lippen, als er hinaustrat. Zwei andere Krieger nahmen sie in die Mitte.

Das Lager war wirklich abgebrochen worden, vielleicht wegen des eisig zu nennenden Nordsturmes, dem die Wigwams an dieser Stelle offen ausgesetzt gewesen. Sie wurden um einen grossen Felsen herumgeführt, auf der Südseite trat die Wand in der Mitte weit zurück, bildete also einen vortrefflichen Schutz gegen den Nordwind und hier lagerten jetzt die Indianer. Aber die Wigwams hatten nicht in dem glatten Steinboden aufgeschlagen werden können, auch die Pferde waren nicht zu sehen. Dieses Steinplateau verlief sich in einen mit einer Salzkruste bedeckten Boden, der jenem an Härte und Ebenheit nichts nachgab. Munro sah vor seinen Augen schon ganz deutlich den Marterpfahl mit dem aufgehäuften Reisig, in Wirklichkeit aber sah er ihn nicht, er war gar nicht vorhanden. Doch dass ein rother Krieger soeben mit einem Fahrrad umfiel, die Beine in die Luft reckte, wieder aufstand und das Rad neben ein anderes legte, das war keine Täuschung. Es waren die beiden mitgeführten Reserveräder, um sie herum standen die Indianer, in weiterem Kreise Frauen und Kinder.

»Bist Du der Freund des Mannes, welcher den Blitz ohne Donner in seinen Händen hat?« empfing sie der Häuptling. Er hatte offenbar zu Dick gesprochen und dieser machte nur den Mund auf.

»Ja, Deadly Dash ist mein Freund,« beeilte sich Munro, mit grösserer Fassungskraft begabt, schnell zu sagen.

»Wer von den Bleichgesichtern ist der Herr, wer der Sclave?« lautete die zweite Frage.

»Ich bin der Herr.«

»Dann bin ich der Sclave,« musste Dick hinzusetzen.

»Wie nennen die Bleichgesichter dies?«

Der Häuptling hatte eine leichte Bewegung nach den Rädern gemacht.

»Bicycle,« entgegnete Munro, an den jetzt das Wort gerichtet wurde.

»Reite auf dem Stahlpferd.«

Also auch diese Indianer kannten das Stahlross schon, aber diesen Namen hatten sie selbst augenblicklich erfunden; sie hatten schon probirt; dieser Platz hier war ja zu einer Radfahrschule wie geschaffen, und es mochten sich schon komische Scenen ereignet haben.

Und durch des Baronets Kopf schoss wie ein Blitz ein schöner, aber hoffnungsloser Gedanke: dieses ebene Terrain, auch als Nichtfahrer wusste er diesen günstigen Wind zu taxiren, und erst weit, weit dort hinten sah er ein Pferd auf besserem Boden weiden – er hätte eine Hand dafür gegeben, wenn er jetzt radfahren könnte.

»Ich kann es nicht,« sagte er kleinlaut.

»Du kannst das Stahlpferd nicht reiten?«

»Nein.«

»Du lügst! Du willst nicht!« donnerte der Häuptling plötzlich den Erschrockenen an. Jedes Bleichgesicht kann auf dem Stahlpferd reiten!«

»Ja – aber – aber – das muss man erst lernen,« stotterte Munro immer kleinlauter, »und ich habe es nicht gelernt.«

Lange schaute der Häuptling den Baronet unverwandt an.

»Bei Deadly Dash,« nahm er dann wieder das Wort, »ist eine weisse Squaw mit goldenem Haar – kann sie das Stahlpferd reiten?«

»Ja, jawohl, die hat es gelernt,« versicherte Munro.

Wieder blickte der Häuptling ihn lange an. »Und Du nicht?«

Aus seiner Kehle kam ein unbeschreiblicher Laut, und dann war der Baronet wie geblendet, der Häuptling hatte ihm einen gewaltigen Klatsch in's Gesicht gespuckt.

Sir Munro war einmal im zoologischen Garten von einem Lama angespuckt worden, dass ihm die Augen übergingen – dieser Siouxhäuptling konnte noch viel besser spucken. Dem Lama hatte er eins mit dem Spazierstock gegeben; bei diesem Siouxhäuptling unterliess er lieber Derartiges, er wischte mit dem Rockärmel das Gesicht, bis er wieder sehen konnte.

»Kannst Du das Stahlpferd reiten?« wandte sich der Häuptling an Dick.

Dieser war von allem Anfang an, als das Examen begann, unruhig geworden. »Nein– ich kann's auch nicht – ich kann's mal probiren – aber –Euer Gnaden – pst, Sir Munro – ich will's mal probiren – aber Euer Gnaden dürfen mir meine Caution von zwölf Pfund Sterling nicht abziehen, wenn ich einmal auf so einem Ding zu fahren versuche.«

Sir Munro hatte noch zu viel mit seinen Augen zu thun, um eine Antwort geben zu können, und Dick war auch schon nach den Rädern gegangen; sie befanden sich, wenn sie auch bereits einige Kopfstürze gemacht haben mochten, noch in Ordnung; er richtete eines auf, da aber, schon den Fuss auf der Trittstange, stieg ihm doch wieder das alte Bedenken auf.

»Aber nicht wahr, Euer Gnaden, die zwölf Pfund ziehen Sie mir nicht ab, wenn ich's einmal probire?« sagte er mit einem unbeschreiblichen Seitenblick nach seinem Herrn.

Dann sass er oben, wieder der komisch flehende Seitenblick, und Dick fuhr nach allen Regeln der Kunst im Kreise herum. Die kleinen Kinder jubelten, die grösseren fürchteten sich, die Frauen kreischten, die Krieger und die, welche demnächst solche werden wollten, suchten ihre ruhige Würde zu wahren.

»I, das ist ja gar nicht so schwer als wie's aussieht!« sagte Dick in hellem Staunen, als er einige Runden gefahren war, und während er diese Worte sprach, hielt er auch noch mit schräg stehendem Vorderrad, liess sogar die Lenkstange los, um sich die Mütze fester auf den Kopf zu drücken.

Auch seines Herrn Staunen war nicht gering; denn er hätte jederzeit beschworen, dass sein Diener keine Ahnung vom Radfahren hatte; er glaubte noch jetzt fest daran, Dick habe nur ein so aussergewöhnliches Talent zu dieser Kunst, sich in der Balance zu halten. Und Dick hatte ja auch Schule im Circus gemacht, da war das schon begreiflich. Sir Robin hatte sich überhaupt noch gar nicht um diese Sache bekümmert, und derartige Exercitien, wie mit dem Rade still zu stehen, sieht man wohl selten einmal auf asphaltirter Strasse, und wenn im Varieté die Nummer eines Fahrradkünstlers kam, so ging Sir Munro stets einstweilen hinaus.

Also staunte er nur über die Schnelligkeit, mit welcher sich sein Diener mit dem Fluche der Menschheit vertraut machte.

»I da wollen wir's doch mal so probiren, das muss doch viel bequemer sein,« fuhr Dick mit Sprechen und Radeln fort, warf das eine Bein über den Sattel und sass seitwärts, nur mit einem Fusse tretend, »wahrhaftig, es geht! – nun einmal auf die andere Seite – so – und nun – hopps – brrr, Schimmel – nun zur Abwechslung ein bischen rückwärts – ob ich mich wohl im Sattel herumdrehen kann? – i warum denn nicht, das geht ja ganz famos – passen Sie auf, meine Herrschaften, jetzt krieche ich unten durch – da sitze ich wieder oben – das hier nennt man eine Fahne machen – und nun schiebt man einfach die Beine etwas höher ...«

Die Kinder und Frauen waren vor Staunen stumm geworden, dafür bellten jetzt die rothen Krieger wie die Hunde. Denn »hau« ist in der Siouxsprache das Zeichen der Bejahung und des Beifalls.

Dick machte die ganze hohe Schule des Kunstfahrens durch, zuletzt auf fahrendem und stehendem Rade den Handstand, er hätte sich auch vor dem verwöhntesten Publicum präsentiren können. Aber er hatte eben, wie so manches Genie, nichts aus sich zu machen verstanden, war der unbekannte Schmierenartist geblieben, welchem Berufe er die bescheidene Stellung eines Dieners vorzog. Und der Baronet wiederum blieb in dem Wahne befangen, sein Diener, ehemaliger Acrobat, könne nun seine früher gelernte Kunst gleich auf dem Fahrrad ausüben. So weit kann es kommen, wenn der Mensch einem Fortschritte seiner Zeit beharrlich Auge und Ohr verschliesst.

Dick hatte sich, ohne die Maschine aus der Hand zu lassen, überschlagen und stand vor dem Häuptling, ihm die Mütze hinhaltend, vielleicht aus alter Gewohnheit. Doch der Indianer kannte die Bedeutung dieser Gebärde noch nicht, er war viel zu sehr entzückt, hatte seine Würde ganz verloren, hatte schon das Bein über den Sattel gehoben. Dick sollte sein Lehrmeister sein.

»Nein, Euer Durchlaucht, so geht das nicht, ich werde aber Euer Durchlaucht gleich zeigen, wie es in fünf Minuten zu lernen ist,« wehrte Dick ab, und der Häuptling hob das Bein wieder herunter.

Zuerst unterzog Dick die Maschine einer sorgfältigen Prüfung, hob auch einmal die andere auf, ging wieder zu jener zurück; und hätte Munro auch nur eine Ahnung gehabt, er hätte sofort erkennen müssen, dass es kundige Hände und Augen waren, welche das Rad in allen Theilen prüften. Ganz besonders widmete er zuletzt seine Aufmerksamkeit den beiden Trittstangen, jede Seite enthielt eine; er trat wuchtig darauf und schraubte sie fester.

»So, das Stahlross ist tadellos in Ordnung. Nun werde ich Eurer Durchlaucht zeigen, wie man mit der Kunst beginnt, um erst die unvermeidliche Balance heraus zu bekommen. Es ist etwas gefährlich, man fällt dabei leicht auf die Nase – es ist doch besser – Mylord, wollen Sie zuerst das Risico übernehmen? – Es wäre doch schade um die schöne Nase Eurer Durchlaucht. Nicht wahr, Mylord, Sie zeigen es den Herrschaften, wie es gemacht wird. Ich steige auf und Sie halten mich von hinten fest, setzen den einen Fuss hier auf diese Trittstange, geben sich und zugleich mir mit dem anderen Beine einen kleinen Schubs, d. h. Sie stossen ab, ziehen den anderen Fuss schnell nach – gelingt es nicht gleich, wird es noch einmal probirt, bis es geht, und dann – – – haben Euere Durchlaucht nicht ein bischen Tabak für mich da in dem rothen Beutel? Tabak muss bei der Geschichte nämlich dabei sein, sonst geht's nicht.«

Der am Gürtel hängende Beutel öffnete sich, Dick griff tüchtig hinein und pfropfte sich beide Backentaschen voll mit dem losen Tabak, und in Munro's Kopfe begann es jetzt zu dämmern; er hatte schon oft genug zwei Menschen auf einem Rade durch Londons Strassen fliegen sehen, er musste ein Zittern der Erregung unterdrücken.

Dick schwatzte weiter mit »meine Herrschaften« und »Eure Durchlaucht,« als er bereits im Sattel sass, hinten von Munro gehalten, und es gelang gleich beim ersten Male; ein gewandter Turner war der Baronet, das Doppelgespann kam in Fahrt.

»Sehen Sie, meine Herrschaften, so wird's zuerst gemacht – halten sich Euer Gnaden mehr an meinen Hüften fest – so, so ist es recht – nun mehr vornüberlegen, ganz dicht mit dem Kopfe auf meinen Rücken – so ist es gut – passen Sie auf, dass Sie nicht abrutschen – nun wollen wir ein bischen fixer trampeln – good bye

Die Indianer sahen, wie die leichte, so durchsichtige Maschine gleich zwei Menschen trug, wie sie so geschwind dahinrollte, die Weiber und Kinder jubelten, die Männer bellten vor Vergnügen.

Dann aber wurde es mit einem Male ganz still hinter den Beiden, und dann wieder brach plötzlich ein furchtbares Gebrüll los.

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»Jetzt haben sie Lunte gerochen,« sagte Dick, die Nase auf der Lenkstange. »Merken, Euer Gnaden etwas? Wir haben keinen Gegenwind mehr, der auch nur ein scheinbarer war. Das macht nämlich, wir sind aus dem Windfange heraus, jetzt treibt uns der Sturm, und nun soll uns einmal Jemand auf dieser Kegelbahn holen.«

An dem auf Dick's Rücken liegenden Munro huschten die Felsen wie Schatten vorbei. Dieser Sturm direct im Rücken, dieser steinharte, wie asphaltirte Boden, auch noch etwas geneigt, dazu zwei flinke, sehnige Beine und eine gesunde Lunge – die doppelt belastete Maschine fuhr fast mit Eilzugsgeschwindigkeit. Wie eine angeschlagene Saite ausklingt, so erstarb hinter ihnen das Geheul, nun mochten sie nach ihren weit entfernten Pferden laufen; wenn nichts brach, bekamen sie die Entschlüpften durch einfache Verfolgung nicht wieder. Ein grosses Glück freilich war es, dass die Indianerhunde nur das Lager bewachen, nicht aber auf Jagd oder Verfolgung abgerichtet sind.

Es brach nichts. So ging es in rasender Flucht zwei Stunden dem Süden zu, dann aber verlangsamte sich die Fahrt immer mehr.

»Weiss Gott, ich kann nicht mehr,« keuchte Dick; »ich bin's' nicht mehr ge ... –; 's ist ja zum ersten Male, dass ich's probire, wollte ich sagen. Nehmen's Euer Gnaden nicht übel, wenn ich einen Augenblick verschnaufe. Passen Sie auf, nach links kippe ich um.«

Er kippte um und als seine Füsse den Boden berührten, liess er ein schmerzliches »Au!« hören. Aber das kleine, dürre, bloss aus Knochen, Sehnen und Haut bestehende Kerlchen brauchte wirklich nur einen Augenblick Ruhe.

»Jetzt steigen Sie auf – klettern Sie nur hinauf' – so – treten Sie los – Sie ziehen und ich schiebe – ich halte Sie schon fest – immer treten, Euer Gnaden, nur das Treten nicht vergessen, mir bringt das Laufen wieder das Blut in die Beine – und eine Lunge habe ich nicht – kann deshalb auch keine Schwindsucht bekommen.«

»Das geht ja ganz famos,« brummte Sir Munro bereits; und seitwärts hinter ihm trabte Dick, der ihn nach dem ersten Schwunge nur noch am Gürtel zu halten brauchte; bei solchen Verhältnissen verlor auch der unschuldigste Neuling nicht so leicht die Balance.

Sie hätten jetzt von der Zukunft sprechen können. Wo befanden sie sich? Sie strebten dem Süden zu, mehr wussten sie nicht. Die Strecke, welche sie gestern Nachmittag fortwährend im Galopp durchritten hatten, konnten sie auf vierzig englische Meilen schätzen. Wohin nun in diesem Labyrinth ohne Wegweiser? Dabei ohne Wasser, ohne Proviant, ohne Waffen.

Aber gegenwärtig kam Sir Munro gar nicht auf solch' einen fragenden Gedanken. Dass er auf einem Rad fuhr, nur darauf sass, das bedeutete einen Abschnitt in seinem Leben, das machte überhaupt einen colossalen Eindruck auf ihn, dessen Ursache man gar nicht definiren kann, so wenig es leicht zu erklären ist, wie der Delinquent, ehe er das Schaffot besteigt, noch eine gute Mahlzeit verlangen kann und wenn er auch noch so lange gefastet hat.

»Das geht ja wirklich ganz famos,« wiederholte er schmunzelnd mit wahrhaft glücklichem Gesicht. »Hätte ich doch gar nicht gedacht, dass ... halt, nicht so schnell, meine Füsse kommen nicht recht mit – – – Dick, nicht loslassen!« setzte er erschrocken hinzu, als er des Führers Hand nicht mehr am Gürtel fühlte und sofort kam er in's Wanken.

»Ich habe die Maschine fest am Sattel,« sagte aber Dick neben ihm und gleich hatte Munro die Balance wieder. »Also etwas langsamer – treten, Euer Gnaden, immer treten – und die Lenkstange nicht so fest anpacken – ganz leicht, ganz locker – treten, Euer Gnaden, das Treten nicht vergessen, sonst bleibt die Karre stehen – und vor allen Dingon die Lenkstange nicht so krampfhaft anpacken.«

»Warum denn nicht?«

»Weil – weil – weil sie doch sonst zerbrechen könnte. Das habe ich Alles vorhin herausgebracht. Treten, Euer Gnaden. Aber nicht wahr; das Depositum ziehen Sie mir nicht ab, weil ich ...«

»Du bist ein Narr, Dick. Nein, wahrhaftig, das ist ja herrlich!«

»Treten, Euer Gnaden, und die Hände ganz locker auf der Lenkstange.«

»Könntest Du mich nicht einmal ein bischen loslassen? Ich fühle mich schon ganz sicher.«

»Treten, Euer Gnaden,« erklang es weiter hinter ihm; ein furchtbarer Schreck durchzuckte den Baronet ob solcher Kühnheit, dass er schon einige Zeit allein fuhr – und da lag er natürlich sofort auf der Nase.

Lachend erhob er sich wieder, ehe der nachtrabende Dick ihm helfen konnte. Dass er jetzt eigentlich am Marterpfahl stehen musste, auf feurigem Boden und mit glühenden Pflöckchen gespickt, das schien er völlig vergessen zu haben; er dachte gar nicht mehr an die Rothhäute, die ihn verfolgen könnten, nicht an Wassersnoth und andere Gefahren, er war einfach der mit Seligkeit torkelnde Radlerlehrling.

Zuerst aber, ehe er wieder hinaufkletterte, musste der philosophisch angehauchte Baronet gründlich auseinandersetzen, wie er gefahren sei, ohne gehalten zu werden und wie er sofort das Gleichgewicht verlor, als ihm dies zum Bewusstsein kam – und er that, als sei er der Einzige, der diese wunderbare Entdeckung gemacht habe.

Dann wurde die Lection fortgesetzt. Es giebt genug Menschen, welche bei vernünftiger Anleitung schon nach der ersten Stunde ganz hübsch fahren können; zu diesen gehörte Sir Munro, und Dick war ein guter Lehrer, obgleich er doch selbst eben erst diese Kunst gelernt haben wollte. Ja, der Glaube, dass dem wirklich so sei, trug nicht wenig dazu bei, dass Sir Munro überraschend leicht die Sicherheit fand. Der Glaube macht eben selig.

In dieser einen Stunde machte der Baronet alle Phasen des Anfängers durch. Näherte er sich einer Felswand auf drei Meter, so musste er hinfahren und seine Hände darauf abdrücken; gelegentlich fiel er auch seinem Lehrmeister um den Hals; der Boden war arm an losen Steinen, lag aber einmal einer da, musste er natürlich gerade nach dorthin abbiegen und darüber fallen; trat aber nun gar eine grössere Felsmasse in den Weg, dann war die magnetische Anziehungskraft eine ganz colossale, und Sir Munro hatte genug zu philosophiren.

Doch es ging immer besser. Schon liess er den Körper mit nach der Seite fallen, nach welcher das wankende Vorderrad ausbog, und als er das erst heraus hatte, da machte er rapide Fortschritte. An Umlenken, Abspringen und Aufsteigen war freilich noch nicht zu denken.

»Treten, Euer Gnaden, das Treten nicht vergessen, und die Lenkstange locker! Denken Sie immer, die Lenkstange sei die Nase Ihrer Geliebten; an die würden Sie sich auch nicht so krampfhaft mit den Fäusten anklammern.«

»Na, wenn mich jetzt Ellen sähe, was würde die sagen,« lachte Manro.

»All Heil!« rief eine tiefe Stimme, und diesmal lag der Baronet gleich glatt auf dem Rücken und winkte mit den Füssen dem hinter einem Felsen hervortretenden Starke die Begrüssung zu.

»Famos, Starke, haben Sie gesehen, wie ich schon fahren kann?« rief er glückstrahlend, und dabei zappelte er noch mit den Beinen in der Luft.

Wie er sich wieder erhoben hatte, kam er auch auf andere Gedanken, und Starke war über neugierige oder spöttische Fragen erhaben, er wollte wissen, was geschehen sei und wie die Beiden hierher kämen, und wenn ihm etwas zu lang wurde, forderte er grob zur Kürze auf.

Solche Kleinigkeiten, dass ihm der Häuptling ins Gesicht gespuckt hatte, brauchte Sir Munro also gar nicht zu berichten.

»Es ist ja gar nicht so schwer, wie man immer denkt,« musste er doch schliessen, »denken Sie nur, Dick konnte es sofort, konnte sogar beim Fahren auf dem Kopfe stehen – na, und ich bin auch schon ein ganz flotter Fahrer, Sie haben's doch gesehen – dass ich vorhin grade herunterfiel, das kann auch dem geübtesten Fahrer einmal passiren – und einfach herrlich ist's, grossartig, es giebt ja gar nichts Schöneres als ...«

Sir Munro brach plötzlich ab, es mochte ihm etwas einfallen, nicht gerade, dass ihn eine Mücke steche, weil er so schnell an seine Halsbinde griff.

Starke warf dem Diener nur einen Blick zu, und da sah er in diesem Augenblick allerdings etwas Merkwürdiges: der hinter seinem Herrn stehende Dick griff sich in den Mund, zog seine Zunge mindestens einen Fuss weit heraus, sie musste unbedingt von Gummi sein, und liess sie zurückschnellen. Aber auch das brachte auf Starke keinen Eindruck hervor.

»Und Bill, der Cowboy.«

»Himmel Herrgott!« rief Munro entsetzt. »Der Unglückliche! Ich habe noch gar nicht an ihn gedacht! Wir müssen ihn sofort ...«

»Wir müssen ihn seinem Schicksale überlassen. Geht nicht anders. Er ist auch mehr Indianer, wird zu sterben wissen, seine Rache soll er haben, sie gehört mir. Miss Howard befindet sich mit Hassan, dem Reporter, Somaja und drei Cowboys in Sicherheit in der sogenannten Cisterne. Haben Sie das Aussehen dieses grossen Felsens, in dem Sie sich mit Wasser versahen, noch im Kopf?«

»Jawohl, die Cisterne kenne ich, aber wie den Weg finden ...«

»Sehen Sie dort in der Ferne den spitzen Thurm der Kirche? Ja? Direct darauf zu, dann kommen Sie wenigstens daran vorbei und man wird Sie schon anrufen. Steigen Sie hinten auf's Rad, Dick mag fahren, dann sind sie in spätestens zwei Stunden dort.«

Und Starke wandte sich schon zu gehen. Kein einziges Wort der Erklärung seinerseits. Munro schüttelte seine Verblüfftheit über solch' ein Verhalten ab, rannte ihm nach und hielt ihn fest.

»Ja, aber Starke, so sagen Sie doch ...«

»Halten Sie mich nicht auf, ich eile nach Fort Lamarie und hole Hülfe herbei. Jeder verlorene Augenblick ist unersetzlich.«

Er riss sich von dem Baronet förmlich mit Gewalt los.

»Ich habe Durst, wir haben kein Wasser.«

»Ich auch nicht. Halten Sie noch zwei Stunden aus.«

Der seltsame Mann liess sich wirklich durch nichts aufhalten, Munro sah ihn schon im Trab laufen. Da aber wurde er noch einmal von Dick eingeholt.

»Starke, nur ein Wort, ich muss Ihnen etwas Wichtiges mittheilen.«

Der Gerufene blieb noch einmal stehen.

»Was giebt's? Aber kurz.«

»Sind Sie der Mann, welcher blitzen kann, ohne zu donnern?«

»Die Indianer sagen so, weil ich einmal sehr schnell mit dem Messer war. Na, was ist denn nun! Wir sind hierin der Prairie, nicht im Conversationszimmer.«

»Pst, ich will Ihnen etwas sagen, aber nichts verrathen,« und Dick reckte sich an dem grossen Mann empor, der ihm auch willig das Ohr neigte, und Dick flüsterte: »Und ich kann donnern, ohne zu blitzen.«

»Narr Du!« gab Starke nur zur Antwort, setzte seinen Trab fort und verschwand hinter den Felsen. Aber wenn Ellen ihn jetzt beobachtet hätte, würde sie erkannt haben, dass diese ernste Steinfigur dennoch eines Lächelns fähig war.

»So ein merkwürdiger Mensch!« meinte Munro kopfschüttelnd. »Kein Wort ist aus ihm herauszubringen, was denn eigentlich geschehen ist, was wir zu erwarten haben, zeigt uns den Weg wie ein Stadtpolizist und fort ist er wieder. Angerufen sollen wir werden? Von wem? Sollte die Cisterne nicht von Indianern umgeben sein? Ja, da hilft es wohl nichts, wir müssen die Anweisung eben befolgen, und schliesslich, drohte uns eine Gefahr, wäre die Luft nicht ganz rein, so würde Starke doch davon auch etwas gesagt haben.«

Sie setzten also unbekümmert die Fahrt fort, sich nach der fast immer sichtbaren, natürlichen Kirchthurmspitze richtend. Mit dem Gefühle der Sicherheit kehrte aber auch dem frischgebackenen Jünger des edlen Radsports die Lust an der Kunst zurück, er stellte sich nicht wieder hinten drauf, sondern fuhr selbst; der lungenlose Dick trabte daneben.

»Das kann doch gar nicht so schwer sein, das Bein herüberzuheben, auf der Seite zu sitzen und nur mit einem Fusse zu treten, wie Du es auch gleich konntest,« meinte Munro schon im Bewusstsein seiner Balancesicherheit.

»Probiren es Euer Gnaden lieber noch nicht, ich konnte es gleich, weil ich als früherer Kunstreiter so etwas gelernt habe.«

Munro machte dafür ein anderes Kunststück.

»Au – das ist doch gar nicht so einfach, mit dem Rade stehen zu bleiben,« sagte er kläglich, als er mit zerplatzter Hose am Boden lag.


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