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12. Capitel.
Ruhetage.

Sir Munro war weniger getroffen worden, als man annehmen sollte. Ruhig hatte er sich mit Vorwürfen überhäufen, sich unterbrechen und sich den Laufpass geben lassen. Was in ihm vorging, verrieth sich nur dadurch, dass er auch jetzt noch lange Zeit so regungslos dastand.

Als Ellen das Zimmer verlassen, hatte Starke sofort nach der Uhr gesehen und sich dann weiter mit der Maschine beschäftigt; er wischte die Lager und Kugeln ab und setzte Alles wieder vorläufig leicht zusammen.

»In vielen Beziehungen hat sie Recht,« sagte er nach einigen Minuten.

Da erst kam Leben in den Baronet, mit einer wilden Bewegung wandte er sich um und blickte finster auf den am Boden Knieenden.

»Was sagen Sie, Mann?« stiess er rauh hervor.

»Sie haben sich tüchtig übertölpeln lassen! Freilich konnten Sie so etwas nicht vermuthen, und schliesslich will Alles gelernt sein. Wenn Sie aber – hier fühlt sich's auch noch klebrig an – wenn Sie aber die Gunst der Dame erringen wollen, müssen Sie anders aufpassen, müssen für nichts weiter mehr Sinn haben, als nur für den Gedanken: was kann ich für sie thun, was fehlt noch hier, was fehlt noch da, womit kann ich ihr eine Freude bereiten? Na, Sie werden auch noch mehr Chancen haben, lassen Sie uns erst durch das wilde Amerika kommen, von Omaha aus brauchen Sie nicht mehr die wenig dankbare Rolle eines Quartiermachers zu spielen, da werden Sie auch schon wieder Anerkennung finden.«

Starke richtete sich auf, statt des finsteren Gesichtes sah er jetzt ein solches, auf dem sich offenes Staunen ausprägte.

»Wie? Sie selbst reden mir mit solchen Worten noch zu, meine unerwünschte Begleitung jetzt, nach dieser Begegnung, noch fortzusetzen?«

»Sie wollen es nicht thun?« war die kalte Gegenfrage. »Dann eben nicht. Ich dachte, Sie lieben die Dame. Nun, wie ich schon sagte, ich begleite die Dame dennoch weiter. Die drei Pfund Sterling sind mir gesichert.«

»Nein, oh nein,« rief Munro. »Sie geben meinen Worten eine ganz falsche Deutung. Nun erst recht wäre ich bei Miss Howard geblieben, um mit ... Mr. Starke, jetzt aber müssen Sie mir Ihre Hand geben, ich habe Sie vorhin beleidigt. Verzeihen Sie mir, auch der Herr muss seinen Diener um Verzeihung bitten, wenn er dem Diener Unrecht zugefügt hat – ich möchte, dass Sie mein ganzes Leben lang bei mir bleiben, als mein Freund.«

Wohl gab ihm Starke die Hand, doch ohne Zeichen von Herzlichkeit.

»Daraus wird wohl nichts werden, ich kann mich nicht mehr häuslich niederlassen, dazu ist es bei mir zu spät, ich muss wandern. Ueber das Weitere sprechen wir später, Miss Howard bleibt zwei Tage hier – vorausgesetzt, dass sie es so lange aushält.«

Starke nahm die Maschine mit hinaus. Trotz des eben gezeigten Wohlwollens und Vertrauens blieb Munro mit der grössten Bitterkeit gegen diesen Mann zurück, und das war begreiflich.

Mochte er auch keine Neigung für sie haben, oder war auch seine Diensttreue eine so grosse, dass er der sich nicht nähern zu dürfen glaubte, auf welche sein Herr einen gewissen Anspruch hatte – Ellen hatte sich jedenfalls in ihn verliebt, den ehemaligen Bevorzugten ihres Herzens einfach bei Seite gestellt.

Gott Amor gefällt sich eben in Launen, die Liebe spottet aller Berechnung. Nun brauchen bloss noch aussergewöhnliche Verhältnisse dazuzukommen, und das Unglück ist fertig. Denn ein Unglück giebt's gewöhnlich dabei. Oben in idealer Höhe, zwischen den Wolken, kann sich die nüchternste, sittsamste Frau plötzlich in den hässlichsten Luftschiffer verlieben, dem sie auf der Erde mit Abscheu ausgewichen wäre, ebenso sind Gebirgsführer, Wildschützen und Banditen weiblichen Herzen manchmal recht gefährlich, die Gelegenheit muss nur kommen, und besonders solch ein roher, tabakskauender Matrose kann Geschichten erzählen, die ihm auf Passagierschiffen passirt sind; Alles stürzt und fällt übereinander in dem vom Sturm hin und her geschleuderten Schiffe, der sonst so elegante, ritterliche Salonlöwe windet sich in seiner Angst, ungewaschen, ungekämmt, unrasirt – nur der Matrose steht in lächelnder Erhabenheit und blickt verächtlich auf die jammernden Landherrchen, und da wird eben er zum bezaubernden Helden.

So ist es hier gekommen, sagte sich Munro. Nein, so schnell wollte er nicht weichen, und wenn Starke geglaubt hatte, er, Munro, wolle sich nun verabschieden, so konnte sich auch Starke täuschen. »Ich bleibe, um mit Ihnen zu ringen,« hatte er vorhin sagen wollen, den Satz aber nicht vollendet.

Im Uebrigen war das hier einmal ein ganz, ganz eigentümlicher Fall. Munro empfand es, und er wusste nicht, ob er lachen oder sich ärgern oder sich schämen sollte. Gewöhnlich halten doch solche Leute, welche einige Ähnlichkeit mit Glücksrittern haben, ihre zufällig gemachte Beute fest, und dieser Mann munterte den verschmähten Liebhaber auf, nicht gleich die Flinte in's Korn zu werfen, ja, deutete ihm an, er wolle ihm behülflich sein, dass er das Mädchen doch noch bekäme. Hiess das nicht geradezu: nimm Du sie, ich mag sie nicht?

Munro fühlte sich äusserst unangenehm berührt und nur der Gedanke tröstete ihn etwas, dass er auch dann, wenn Starke wirklich auf die Liebschaft eingegangen wäre, nicht von Ellen gelassen hätte, dann erst recht nicht, eben weil er sie aufrichtig liebte. Denn ein gutes Ende kann so etwas nie nehmen; der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.

Und Munro hätte einen Rath gewusst, schon vorhin war ihm undeutlich ein Geschichtchen durch den Kopf gegangen.

Da hatte sich vor einiger Zeit die einzige Tochter eines englischen Lords in den bildhübschen Reitknecht und in seinen schneidigen Schnurrbart sterblich verliebt. Es half Alles nichts, keine Vorstellungen, keine Reisen, Niemand konnte den Reitknecht aus dem schwärmerischen Herzen verdrängen. »Papa, ich will den Johann heirathen, ich muss den Johann heirathen, oder ich ...« Was sollte der arme Papa thun? Das einzige Kind, und der Lord war kein solcher Tyrann, wie er immer im Buche steht. Aber der Papa sass auch im Parlament und hatte schon manchen guten Rath gegeben, wie man eine ganze Nation über's Ohr haut. Ein eigentlicher Zwang zur Wiederherstellung der Ehre lag nicht vor, das wurde herausgebracht. »Gut, Du sollst den Johann haben, mein Kind.« Verwandte und Bekannte werden eingeladen und instruirt, Johann bekommt Frack und Brillantknöpfe, nun sitzt der bildschöne Reitknecht mit seinem steifgewichsten Schnurrbarte zwischen Herzögen, Lords und Baronets und deren Damen, weiss nicht, wohin er blicken soll, wohin er seine grossen rothen Hände stecken soll, er tappst und stottert, schüttet seiner Braut und der anderen Nachbarin eine Schüssel nach der anderen in den Schooss, er schwitzt Todesangst, nun soll er gar noch auf den Toast antworten, er giesst ein Glas nach dem anderen hinter – und während Johann noch seinen Bombenrausch ausschläft, folgt schon der zweite Act: »Papa, schicke den Kerl weg, ich kann den ordinären Menschen nicht mehr sehen!«

Starke der Landstreicher war auch ein Held in seiner Art, sonst aber doch der deutsche Bauernsohn, und wenn es Munro nun geschickt ... Munro's Gedankengang wurde durch ein Anklopfen unterbrochen, und auf seine Aufforderung trat Starke ein, zwei Minuten später, nachdem er ihn verlassen.

»Ich habe eine Frage vergessen. Nehmen Sie heute Abend am Dinner Theil?«

»Ich weiss noch nicht. Warum?«

»Weil ich mir die Gesichter der Hotelgäste ansehen möchte, und bei der Abendtafel hat man die einzige Hoffnung, sie alle zusammen zu sehen.«

»Ja, aber, warum soll ich dabei sein oder nicht dabei sein?«

»Wenn Sie an der Tafel sitzen, schickt es sich nicht für mich ...«

»Ach, machen Sie doch keine solchen Geschichten. Es soll mich freuen, wenn wir heute Abend das Dinner zusammen einnehmen.«

Starke begab sich in sein Zimmer zurück, welches er nicht zu verschliessen brauchte, denn auf dem Sopha lag Hassan; nur dass wegen der schmutzigen Füsse der Gummimantel unter ihm ausgebreitet war. Er wusch sich, reinigte seinen Anzug oberflächlich, blickte dabei wiederholt nach der Uhr, und mit einem Male ging er stracks hinaus und öffnete, ohne anzuklopfen, die nächste Thür.

Ein jungfräuliches Kreischen – Ellen befand sich im aller-, allertiefsten Negligé und hatte die Thür nicht zugeriegelt. Starke machte sie wieder zu, ging hinüber und setzte das Abwaschen seines Lederanzugs fort.

Nach zehn Minuten erscholl irgendwo dreimal eine elektrische Klingel. Starke blickte nach dem Placate neben der Thür: das Zimmermädchen. Bald kam ein leichter Schritt, Starke lauschte. Die Gerufene betrat Ellen's Zimmer; Starke schien nicht viel auf allgemeine Anstandsregeln zu geben, er trat näher an die andere Thür, welche verschlossen und mit Möbeln verrammelt war, und legte sein Ohr daran.

Das Stubenmädchen ging wieder, und Starke vollendete sein Reinigungswerk.

»Dann kommst du daran,« sagte er zu Hassan und klopfte gegen die Verbindungsthür.

»Wer klopft?« erklang es ziemlich deutlich.

»Curt Starke. Kann ich zu Ihnen hinüberkommen? Auch ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

»Kommen Sie,« sagte Ellen nach einer kleinen Pause

Als Starke auf dem Corridor die Hand an die Klinke legte, wurde innen der Riegel zurückgeschoben, obgleich das Bett, in welchem Ellen bis an die Nase vergraben lag, weit entfernt davon stand.

»Ich bin ausser mir ...«

»Ich nicht, Sie haben mir 6 Minuten nach 8 Uhr gesagt, ich soll in einer Viertelstunde zu Ihnen kommen, und ich war pünktlich, sonst hätte ich angeklopft, oder Sie hätten zuriegeln können. Ausserdem befinden wir uns auf einer Reise um die Erde – wenn Ihnen nun einmal etwas passirt, würden Sie sich mir nicht wie einem Arzte anvertrauen? – Sie wünschen nur eine Portion Thee?«

Er wusste doch immer den richtigen Ton zu treffen; Ellen's Nasenspitze kam kühn zum Vorschein.

»Sie sind wirklich allwissend ...«

»Nein, nur feinhörig, ich habe es drüben durch die Thür gehört. Das Frauenzimmer hat Sie niederträchtig behandelt, und es wird auch nichts auf dem Zimmer servirt, nur an der Krippe wird vorgesteckt. Den amerikanischen Dienstboten mit ihrer Achtstundenarbeit geht es zu gut, aber man muss sie nur zu nehmen wissen; schon etwas Freundlichkeit, die sie gar nicht kennen, thut viel, und ich bin hier auch bekannt. Wollen Sie also auch nur Thee? Sonst nichts, nichts essen?«

»Nein, nur Thee, und dann schlafen, schlafen. Ach, Mr. Starke, Sie sind so gut.«

»Sie werden den Thee bekommen, und dann wollte ich Ihnen noch sagen, dass ich für einen anderen Anzug sorgen werde; das Maass habe ich noch im Kopfe; diesen Stiefel nehme ich mit, um danach leichte Mocassins fertigen zu lassen, und auch das Andere, wie z. B. einen Gummimantel, werde ich kaufen.«

Ohne Antwort abzuwarten, ohne Gruss entfernte er sich, den Stiefel mitnehmend, und bald darauf erschien das Zimmermädchen wieder, nicht nur fertigen Thee, sondern auch eine Spiritusmaschine zum Nachbereiten bringend. Starke musste sehr, sehr freundlich mit dem Mädchen gewesen sein; die pompös gekleidete Bettmacherin, wenigstens drei Diamantringe an den Fingern – und welches Dienstmädchen in Amerika trägt bei der Arbeit nicht wenigstens einen Diamantring! – welche die Dame vorhin als eine unverschämte Null behandelt hatte, war plötzlich gegen Ellen wie umgewandelt, fragte sogar, ob sie sonst noch etwas wünsche, nicht etwas zu speisen. Dabei ist bei solchen Geistern nicht einmal mit Silberdollars etwas auszurichten.

Dann war Ellen allein. Sie schob den Mechanismus des Riegels vor, trank einen Schluck Thee, wollte sich zurechtlegen und war mit einem Rucke eingeschlafen.

Plötzlich war es ihr, obgleich sie noch fest schlief, als ob sie von einer Hand aufgezogen würde.

»Ach Mr. Starke, ich bin noch so müde,« murmelte sie.

»Es ist nun vier, wir müssen den Stundenplan einhalten,« sagte aber Starke und zog und rüttelte weiter.

Schlaftrunken richtete sich Ellen empor, rieb sich seufzend die Augen und – sah sich in dem Hotelzimmer und im Bette. Von Starke keine Spur, und dort stand die Theemaschine.

Gott sei Dank, es war nur ein Traum gewesen! Ein Blick nach der Uhr zeigte ihr, dass es Punkt vier war. Merkwürdig, was die Gewohnheit thut, sie glaubte ganz deutlich Starke's Stimme gehört und seine Hand verspürt zu haben.

Vorhin hatte sie gar nicht einschlafen, sondern den Thee trinken wollen, aber dieser war nun kalt geworden, sie fühlte sich so müde, und dann dieses mollige Bewusstsein, anstatt im strömenden Regen durch den Morast radeln zu müssen, jetzt im weichen Bett liegen zu können, sie hatte Ferien, und so wickelte sie sich behaglich wieder in die Decken, mit dem Vorsatze, einmal bis morgen früh durchzuschlafen. Aber diesmal wollte es mit dem Einschlafen gar nichts werden. Vergebens änderte Ellen die Lage und wälzte sich hin und her.

Mit einen Male sass Ellen auf dem Rade und fuhr auf durchweichtem Wege, sie trat mit aller Anstrengung in die Pedale, sie mühte sich ab und mühte sich ab und kam doch nicht vorwärts in dem zähen Schlamm und gegen den starken Wind, es war eine fürchterliche Tortur – bis sie in Schweiss gebadet erwachte.

Wieder ein Gottseidank! Sie hatte nur geträumt. Aber was war das? Eine halbe Stunde glaubte sie vorhin schlaflos dagelegen zu haben, im Traume hatte sie wenigstens drei Stunden geradelt, und ihre Uhr zeigte doch erst 10 Minuten nach vier, und die schlichte Nickeluhr ging ausgezeichnet.

Ellen rollte sich auf die andere Seite, schlief wieder ein, um abermals über Berg und Thal zu radeln, aber im Traume mit grösserer Anstrengung als in der Wirklichkeit, sie trat und trat und kam doch nicht vorwärts – und als sie vor Erschöpfung aufwachte, d. h. vor Todesangst, so wie jemand im Traume unter Wasser zu ersticken meint, da war der Zeiger der Uhr wieder nur 5 Minuten vorwärts gerückt, und dabei hatte sie nicht nur im Traume mit den Füssen die Kurbeln gedreht, sondern sie hatte die ganze Decke herunter getreten.

Das ist ja seltsam, dachte Ellen, ich fahre doch sonst nie im Traume Rad.

Doch, einmal hatte sie es schon erlebt, als sie das Radfahren gelernt und die erste, strapaziöse Wandertour gemacht hatte, da hatte sie auch eine sehr unruhige Nacht gehabt. Aber dessen entsann sie sich nicht mehr.

Und das wiederholte sich wohl noch ein Dutzend Mal innerhalb einer Stunde. Sie schlief ein vor Müdigkeit, aber nur, um sich auf dem Rade abzumühen, und wenn sie unter Todesangstschweiss erwachte, so hatte sie stets die Decke heruntergetreten.

»Das ist grässlich!« ächzte Ellen; sie stöhnte noch weiter, bis sie endlich ihre Schlafversuche aufgab. Sie zündete die Spiritusmaschine an, bereitete sich Thee, trank, wickelte sich wieder in die Decken, und dann wurde es ihr in dem durch dichte Vorhänge verdunkelten Zimmer recht behaglich zu Muthe. Sie hatte genug Gedanken nachzuhängen, heiteren und trüben, doch die erfreulicheren wogen vor. Nur den Schlaf musste sie fernhalten, sonst fing gleich wieder die martervolle Traumtour auf dem Rade an.

Jetzt, da sie sich so behaglich fühlte, that ihr Sir Munro doch leid. Sie bereute, ihn so hart angelassen und so schnöde abgewiesen zu haben. Eigentlich war Robin doch ein so guter, harmloser Mensch, mit dem es sich zusammen wohl glücklich leben lassen musste. Aber was half's? Sie hatten sich schon damals, als er zum zweiten Male um sie anhielt, in Unfrieden von einander getrennt. Und ausserdem liebte sie einen Anderen. Was sollte nun aus dem armen Robin werden? Jetzt im Bette beschloss Ellen, ihm in aller Freundlichkeit zu sagen, dass sie niemals die Seine werden könne, er solle sich trösten, seine Liebe einer Anderen, einer Würdigeren schenken.

In zwei Stunden gehen durch ein menschliches Gehirn zu viel Gedanken, als dass man ihnen folgen könnte, und nun gar noch, wenn es das Gehirn eines im Bett liegenden, schwärmerischen und romantisch angehauchten Mädchens ist. Da würde ja schon die Niederschreibung des Gedankenganges einer einzigen Stunde eine ganze Reihe von Foliobänden ausfüllen. Also sei dies nicht versucht. Natürlich spielte Curt Starke die Hauptrolle in den wachen Träumen, dann kam wieder Robin Munro daran, dann wieder Er, dann Lady Judith, dann wieder Er, dann wieder Munro, dann wieder Er, dann das Stubenmädchen, dann wieder Er, dann zu Hause der Kanarienvogel, dann wieder Er – – und so fort und fort, in infinitium, nein, bis um 7 Uhr die Hôtelglocke zur Fütterung an die Dinnertafel rief und unter diesen lieblichen Glockentönen entschlummerte Ellen sanft, jetzt von keinem Traume mehr gestört, denn jetzt gestattete ja ihr Stundenplan die Ruhe.

Bei diesem Klingelsignal verliess Sir Munro sein Zimmer, und im Augenblick bewunderte er den Riesen, welcher dort zwischen hungrigen Pygmäen den vom Abendsonnenschein erfüllten Corridor heraufgewandelt kam. Es musste ein neuer Gast sein, Munro hatte ihn noch nicht im Hotel gesehen. Welch eine colossale Gestalt, welche Eleganz aber auch dabei; der wusste seinen schwarzen Gesellschaftsanzug zu tragen, wie verschwanden die anderen nebenhertrippelnden Herrlein vor diesem Gange und vor dieser Würde, und die amerikanischen Dämlein fingen schon jetzt an zu seufzen. Auffallend war die tief braune, durch die schneeweisse Wäsche noch mehr hervorgehobene Farbe seines Gesichtes, aber auch wieder passend zum Ganzen. Jedenfalls dachte Munro, solch ein amerikanischer Landwirth, gegen dessen Grundbesitz manch souveränes Fürstenthum im Verhältniss nur ein paar Quadratmeterchen bedeuten, freier und mächtiger herrschend als mancher Despot.

Nur für zehn Schritte hatte Munro Zeit zu diesen Gedanken gehabt, denn dann stand der imposante Gentleman vor ihm.

»Nicht auffallend beobachten, überlassen Sie mir Alles,« sagte er leise.

»Mis–ter– Star–ke,« staunte Munro und behielt den Mund offen.

Dann sagte er gar nichts mehr, wusste später nichts mehr, was er eigentlich zum Dinner gegessen hatte, er wurde ganz von dem Gedanken beherrscht, dass dies kein Johann sei, und dass er sich daher nicht an jenes Beispiel des klugen Papas lehnen konnte. Hier war Johann Herr der Tafel.

Erst als der Tisch abgeräumt, der Teller, von dem man noch ass, einfach fortgenommen und Demjenigen, der nicht gleich aufstand, womöglich der Stuhl unter dem Leibe fortgezogen wurde, kam Munro draussen wieder zum Bewusstsein.

»Haben Sie eine Beobachtung gemacht?«

»Ich glaube, ja. Aber gewiss kann ich das jetzt noch nicht sagen. Ich habe mir alle Gesichter gemerkt und wenn mir eines davon einmal aufdringlich in den Weg kommt, dann gehört es dem Betreffenden.«

Sie begaben sich nach Munro's Zimmer, dort sollte die Unterredung stattfinden.

»Was wird Miss Howard jetzt thun?« fragte Munro auf dem Corridor. «Sollte sie nicht speisen wollen?«

»Nein, sie wird jetzt bis morgen früh ein halb vier Uhr schlafen.«

»Woher wissen Sie denn das so genau?« lächelte der Baronet.

»Weil es so in ihrem Stundenplane steht.«

Und so war es. Nach einem tiefen, traumlosen Schlafe erwachte Ellen, oder vielmehr wurde sie geweckt, wieder zog sie eine unsichtbare Gewalt empor, wieder glaubte sie ganz deutlich Starke's Stimme zu vernehmen.

»Stehen Sie auf, Miss Howard, es ist ein halb vier Uhr.«

»Ach, ich bin noch so müde,« klagte Ellen, »nur noch eine halbe Stunde.«

»Nein, der Stundenplan muss eingehalten werden, das hilft Alles nichts.«

»Ach – ach – ach! und ich bin noch so müde – und so hungrig.«

Schlaftrunken erhob sich Ellen, nun hatte Starke ja das Zimmer verlassen, sie stiess an den Tisch, fand gleich die auf der bestimmten Ecke liegenden Streichhölzer, zündete Licht an, sah die Theemaschine, noch anderes, was nicht zu ihrer Ansicht passte – und sie war bei Besinnung.

»Wieder nur geträumt! Das ist doch seltsam!«

Obgleich sie einen nagenden Hunger verspürte – hatte sie doch gestern keinen Bissen gegessen, weil der sie dazu nöthigende Starke gefehlt hatte – so wurde dieses Hungergefühl doch auch jetzt von dem glücklichen Bewusstsein überwogen, nun einmal richtig ausschlafen zu können, und so legte sie sich wieder hin – um sich sofort im Traume auf dem Rade abzuarbeiten.

Mehrmals erwachte sie, mehrmals schlief sie wieder ein, im Laufe von nur einer viertel Stunde, immer wieder der qualvolle Traum, bis sie einsah, dass sie diesem Verhängniss nicht entgehen konnte. Der Stundenplan verlangte eben, dass sie ein halb vier Uhr aufstehen und das Rad besteigen sollte, sie hatte sich schon daran gewöhnt, und that sie es nicht in Wirklichkeit, so musste sie es im Traume thun, und zwar strampelte sie dabei wirklich mit den Füssen, bis sie die Decke herunter hatte und durch die Kälte erwachte.

Sie stand auf und zog das vor Schmutz starrende Lodencostüm an. Dafür hätte Starke eigentlich auch sorgen können, dass sie etwas Anderes anzuziehen hatte, gleich ein richtiges Kleid. Ellen besass überhaupt wirklich Sehnsucht nach einem richtigen Frauenkleide. Wie sie den einen Stiefel angeschnürt hatte, merkte sie erst, dass ja nur dieser eine vorhanden war! Und dieser Hunger und nichts zu essen! Aber Ellen lachte nur fröhlich. Das elektrische Licht war abgestellt, so musste sie sich mit dem Stearinlicht behelfen. Sie setzte sich auf das Sopha vor dem Tisch, Schreibgeräth war vorhanden, und das Mädchen in dem schmutzbedeckten Radfahrer-Anzug, nur an einem Fusse einen Stiefel, begann mitten in der Nacht den Entwurf zu einem Aufsatze über psychologische Physiologie zuschreiben, dann trug sie ihr während der Regentage versäumtes Tagebuch nach, dann erinnerte sie sich der Spiritusmaschine, und wie das Theewasser summte, da überkam sie wieder ein unbeschreibliches, urwüchsiges Behagen, sie war ganz Seligkeit, warum wusste sie selbst nicht; sie betrachtete sich im Spiegel, ihren Anzug, ihren einen Stiefel und am anderen Fusse den Strumpf, sie entdeckte auch in der Ferse ein grosses Loch – das war Miss Howard, die vielfache Millionärin, in einem vornehmen Hôtel, mit nur einem Stiefel und zerrissenen Strümpfen, und so weiter – und da brach sie in ein Gelächter aus, dass das ganze Hôtel davon schallen musste.

»Sind Sie auf, Miss Howard?« fragte es drüben.

»Sie haben mich ja geweckt. Kommen Sie herüber, Mr. Starke, ich will Ihnen etwas erzählen und zeigen.«

Starke kam, ausser einer Tabaksatmosphäre auch ein recht elegantes Strassenkleid, Damenwäsche und ein Paar niedliche Schuhe mitbringend.

»Wo haben Sie denn das her?!« staunte Ellen.

»Hat mir Ihr Zimmermädchen zur Verfügung gestellt, unaufgefordert, falls die um die Erde fahrende Engländerin heute Damenkleider zum Ausgehen wünsche. Ihre Wette und Aufenthalt hier ist bekannt geworden, man wird Sie heute mit Bewunderung und neugierigen Fragen überschütten. Gestern habe ich einen Ihnen passenden Anzug fertig gekauft, desgleichen alles Andere, worüber wir sprachen, die Mocassins und Gamaschen sind ebenfalls schon fertig, Alles liegt drüben bei mir. Sie schulden mir im Ganzen 27 Dollars und 75 Cents, welche ich ausgelegt habe, hier ist die Rechnung. Wollen Sie dieselbe nicht gleich begleichen? Wegen des neuen Rades müssen Sie sich mit Sir Munro auseinandersetzen.«

Er präsentirte die Rechnung, auf die Bezahlung wartend. Das war ein seltsamer Morgengruss, noch in finsterer Nacht. Aber Ellen war schon an solche Seltsamkeiten gewöhnt. Was machte der sich auch daraus, ob es Mittag oder Mitternacht war. Ellen bezahlte und erzählte lachend von ihren Traumabenteuern, zeigte ihren zerrissenen Strumpf und klagte zuletzt über ihren furchtbaren Hunger.

»Sehen Sie, da kommt es schon,« sagte Starke. »Warten Sie noch 100 Tage, dann werden Sie auch nicht mehr in einem Bett schlafen können, so wenig wie ich, und haben später Ihre Last, sich wieder daran zu gewöhnen. Nein, das thut mir leid, nicht einmal einen Schiffszwieback kann ich Ihnen anbieten. Bis um acht müssen Sie die erste Hungerperiode durchmachen, dann öffnet sich der Coffee-Room, da giebt es Gebäck, um zehn Uhr wird der Grillroom aufgemacht, da können Sie Alles am Feuer rösten lassen, was auf dem Büffet steht, und wenn Sie aus dem Grillroom geworfen werden, können Sie in den Lunchroom stürzen, und so geht es den ganzen Tag weiter, immer wird man aus einem Speiseraum in den anderen geworfen; man muss sich nur geduldig werfen lassen, Alles für drei Dollars den Tag, und Trinkgelder giebt's hier nicht.«

Er hatte Kleider und Wäsche, woran nichts fehlte, über Stühle gehangen und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Ja, was in aller Welt soll ich denn nun die ganzen drei Stunden anfangen – und mit dem Hunger?« sagte Ellen kleinlaut, und Starke blieb an der Thür stehen.

»Das müssen Sie wissen. Sie haben geschrieben, wie ich sehe. Schreiben Sie weiter. Oder wollen Sie spazieren gehen? Der Tag bricht bald an, Sie werden auch schon ein Restaurant offen finden, wenn auch nicht gerade der feinsten Art. Ich begleite Sie, wenn Sie wünschen, ich stehe überhaupt jeden Augenblick zu Ihrer Verfügung, wenn Sie mich nicht für eine gewisse Zeit beurlauben.«

»Zunächst will ich das Kleid anprobiren,« seufzte Ellen, und Starke ging.

Es fehlte ihr etwas, sie wusste nicht recht was, wenn sie von dem Hunger absah. Ehe sie sich wieder anschickte, Toilette zu machen, zog sie die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster. Schon in der Dämmerung erkannte sie, dass es ein herrlicher Tag zu werden versprach, so frisch, so klar, so windstill; am wolkenlosen Himmel erblassten die Sterne, der östliche Horizont färbte sich mit einem leichten Roth, plötzlich überall ein Zwitschern und Jubiliren, und plötzlich auch wusste Ellen, was ihr fehlte. Mit stürmischen Schritten rannte sie hinüber.

»Starke, wollen wir losfahren?« rief sie in den Tabaksnebel hinein.

»Wenn Sie befehlen,« erklang es aus dem undurchsichtigen Rauch zurück.

»Jawohl, ich befehle,« lachte Ellen. »Ich fühle mich so stark, so kräftig, ich fühle eine ganze Armee in meiner Faust – in meinen Beinen wollte ich sagen – pardon – ich halte es nicht mehr aus, ich muss fort – die Glieder sind mir zwar noch ein bischen steif, aber das wird gleich vorbei sein – hinaus muss ich, jawohl, aufs Rad – geben Sie mir den Anzug her!«

Immer lachend hatte sie es gerufen, und wie sich der Tabaksnebel lichtete, den Starke wahrscheinlich der Hôtelluft vorzog, stand jener vor ihr, ihr die Sachen in die Arme drückend.

»Sir Munro hat Ihnen heute Indianopolis zeigen wollen.«

»Was kümmert mich Indianopolis. Wo sind die Stiefel?«

»Er hoffte, heute Abend mit Ihnen in's Theater gehen zu können.«

»Er mag allein gehen, ich mache selber Theater. Wollen Sie oder wollen Sie nicht.«

»Ich bin jeden Augenblick bereit. Machen Sie, dass Sie bis um 6 Uhr fertig werden, sonst haben wir eine volle ungenossene Tagespension mehr zu zahlen.«

»Bis um 6? In einer Stande soll ich fertig sein? In fünf Minuten!«

Damit eilte sie zurück, hielt sich gar nicht mit Waschen und Kämmen auf, schlüpfte im Scheine des letzten Stearinstümpfchens in den neuen Anzug, und Starke hätte als Schneider kein Metermaass gebraucht, er sass wie angegossen, sie behielt auch die zerrissenen Strümpfe an, fuhr in die Mocassins, wickelte die Gamaschen um.

»Fertig!« schrie sie schon nach drei Minuten. »Kommen Sie herüber, helfen Sie mir das andere Zeug einpacken, dass wir fortkommen.«

Dies that denn auch Starke, welcher die beiden Räder und den Hund herüber brachte.

»Schreiben Sie ein freundliches Danke für das Zimmermädchen,« sagte er, »das hängt sie sich unter Glas und Rahmen, und wenn es Ihnen nicht darauf ankommt, so legen Sie noch einen Goldadler darauf. Ich habe in meinem Zimmer ebenfalls einiges hinterlassen, auch eine Zeile an Sir Munro.«

Sie schritten die Treppe hinab, Starke die Räder tragend. In der Portierloge befand sich in der Nacht stets eine wachende Person; durch Abgabe der mit Nummern versehenen Zimmerschlüssel legitimirten sich die Gäste; gegen Bezahlung von je drei Dollars öffnete sich ihnen das Thor. Sie traten im Zwielicht des neuen Tages auf die einsame Strasse.

Zwei Tage hatte Ellen der Ruhe pflegen wollen, den gestrigen gar nicht mitgerechnet, sie hatte geglaubt, es nöthig zu haben – und jetzt fuhr sie, ihrem rebellisch knurrenden Magen zum Trotz, jubelnd in den lachenden Morgen hinein. Fort, fort von diesem Hôtel, in dem man bei allem Ueberflusse verhungern kann wie in der Wüste!

Ihre kräftige Natur, verbunden mit geistiger Energie, hatte die Krisis leichter überstanden, als Starke erwartet.


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