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8. Capitel.
Das Verhältniss ändert sich nicht.

Ellen konnte sich nicht helfen, sie musste lachen, obgleich sie vor Schreck über diese blutige Scene noch eben erstarrt gewesen war. Im Weiterfahren erzählte ihr Starke noch mehr über das Leben in der Prairie, über die Cowboys; hier musste das Wort »blutig« allerdings sehr häufig angewandt werden, und trotzdem, Ellen fühlte den Bann des Entsetzens immer mehr von sich weichen; sie lachte über den trockenen Humor; die Sonne schien ihr wieder heiter, und das schien Starke mit seinen haarsträubenden Geschichten auch nur erreichen zu wollen. So muss dem zukünftigen Arzte die Leichenscheu benommen werden. Es war ja auch ganz einfach: diese Cowboys betrachten das Leben als nur dazu vorhanden, um es aufs Spiel zu setzen, und wie sie wegen jeder Kleinigkeit nach einem anderen Menschen schiessen – geschossen muss überhaupt immer werden, wozu ist denn sonst das Pulver erfunden worden – so nehmen sie es auch nicht übel, wenn man ihnen nach dem Leben trachtet. Bei solchen Ansichten können sich die ästhetischen Gefühle natürlich nicht gut entwickeln; aber sonst haben sie auch ihre ritterlichen Seiten, auch ist ihnen die Gastfreundschaft heilig, ebenso wie die Blutrache. Eine radelnde Dame passt freilich nicht unter sie. Was hat denn auch eine Dame in der Prairie zu suchen!

Nach und nach lenkte Starke auf ein anderes Thema über. Von den Reitern kam er auf ihre Pferde zu sprechen, auf die wilden Mustangs und deren Abkömmlinge, auf das ganze Thierreich der Prairie.

»Sehen Sie den kleinen Vogel dort, der sich unter den Grasbusch duckt? Betrachten Sie ihn sich genau, er ist selten sichtbar, und es ist ein gar berühmter Vogel.«

»Ein berühmter Vogel?«

»Es ist eine amerikanische Nachtigall, uns literarisch gebildeten Europäern bekannt unter dem indianischen Namen Whip-por-wil.«

Hiermit hatte das harmlosere Gespräch begonnen. Er erzählte immer weiter; von jedem Thierchen, das da kroch oder flog, von jedem Baume, jeder Blume wusste er etwas Interessantes mitzutheilen, dabei war er immer einfach, er wollte nicht belehren, er erzählte nur im leichten Plauderton.

Wie im Fluge vergingen die Stunden. So hätte Ellen ihm immer zuhören mögen. Nach und nach aber kam es ihr zum Bewusstsein, wie tief ihre Bildung in dieser Hinsicht doch unter der jenes Mannes stand. Für sie war all das grüne Zeug, das da auf der Prairie wuchs, einfach »Gras«. Dazwischen, ein paar Blumen, ein Busch, dort stand ein Baum und da flog ein grosser Vogel und da ein kleiner. Die Londonerin konnte keine Buche von einer Linde unterscheiden, und da sie zufällig keine Vogelliebhaberin war, auch keinen Finken von einer Drossel. Ein des Weges daherkommendes Maulthier hielt sie für einen Maulesel. Ja, erst seit der Zeit, als sie auf dem Rade fast täglich in's Freie gekommen war, die Saat nach und nach keimen, grünen und Aehren tragen sehend, hatte sie wenigstens so viel Interesse bekommen, um sich einmal von einem Bauern erklären zu lassen, wie man denn Roggen von Weizen unterscheide.

Sie war sich bewusst, wie schlimm es mit solchen Kenntnissen bei den Stadtleuten aussieht. Das möchte man fast auch einen verloren gegangenen Sinn nennen. Denn sie scheinen wirklich blind geworden zu sein. Dass die ganze Menschheit nicht von Adam und Eva abstammt, das kann einem heutzutage jeder zehnjährige Schuljunge an den Fingern vorrechnen; es ist ja überhaupt nur ein Märchen, so dumm wie das mit dem Klapperstorche –aber kaum noch wissen sie am nächtlichen Himmel den Polarstem zu finden, von Sternbildern keine Spur, gar keine Ahnung.

Jetzt fühlte Ellen einmal wirkliche Scham. Immer nur zuhören, höchstens fragen, keine Gegenbemerkung machen zu können! Es war dem Mädchen verzeihbar, wenn es nachsann, ob es diesem Manne nicht durch etwas Anderes zu imponiren vermöchte. Musik? Er spielte classische Weisen. In der Literatur war er jedenfalls bewandert. Nur eins blieb ihr noch. Starke machte sie auf einen verkrüppelten Cactus aufmerksam, dessen nördlichste Grenze sonst die Riviera sei, er müsse sich hier acclimatisirt haben. Dies gab die Veranlassung zum grossen Sprunge.

An der Riviera war sie auch gewesen, war von Genua nach Nizza geradelt. Er hatte dieselbe Tour einmal gemacht. Genua, diese herrlichen Paläste mit ihren Kunstschätzen! Ob er im Palazzo Bianco gewesen sei. Gewiss.

»Können Sie sich der herrlichen Madonna zwischen den beiden Heiligen erinnern, rechts neben dem grossen Spiegel mit dem Rococco-Rahmen?«

Ellen konnte sich vor einem Bilde erwärmen, begeistern, doch eigentliches Kunstverständniss besass sie nicht. Kritische Fragen lagen ihr ganz fern. Als sie damals im Palazzo Bianco gewesen, hatten sich gerade vor dem erwähnten Madonnenbilde zwei englische Kunstmäcene heftig gestritten; der eine behauptete, es sei von Floris, wie es im Kataloge stand, der andere, es sei von Gerard David.

»Verzeihung, es ist ein sogenannter Barock-Rahmen, von Filippo Parodi geschnitzt. Sie meinen die Madonna zwischen dem heiligen Hieronymus und Nicolaus von Tolentino? Dieses Bild ist nicht von Floris, wie es immer heisst und wie es auch zu meiner Zeit im Kataloge stand, es ist von Gerard David. Aber waren Sie auch im Musé Municipal zu Nizza? Dort hängt, gleich im ersten Saale, eine Madonna zwischen Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelist. Im Katalog wird es als unbekannter Meister aus der Sienesischen Schule angeführt. Unsinn! Das eben ist das vermeintlich verschollene Bild von Floris.«

Ellen war wie niedergeschmettert. Ach, hätte sie doch nicht davon begonnen! Er sprach weiter und nun konnte sie gar nichts mehr sagen. Er hatte ja wohl alle Gallerien auf der ganzen Welt besucht, stand mit allen Madonnen auf Du und Du, mit und ohne Kindern, allein oder zwischen Heiligen!

Ein klagender, melodischer Ton erscholl über ihnen in der Luft. Aufblickend, gewahrten sie einen grossen Schwarm Vögel dem Süden zuziehend.

»Das sind die, deren Loos das meine gleicht,« sagte Starke.

»Kraniche?«

»Nein, aber Wildgänse. Sie kommen von den canadischen Seen. Kraniche trompeten grässlich. Sehen Sie dort hinten den einzelnen Nachzügler? Sie ist zu schwer, zu fett, sie wird bald stürzen und fällt einem Schakal zur Beute. Das ist der Fluch der Völlerei.«

Starke zog den Revolver und schoss, ohne zu zielen, ohne mit der raschen Fahrt einzuhalten, und dennoch wunderte sich Ellen nicht, das Thier wirbelnd herabkommen zu sehen.

Wenn der schnell dahin fliegende Radler eine Pause macht, und er blickt wieder auf, so sieht er ein anderes Bild, und das Rückwärtsblicken ist beschwerlich. Hier kam ein kleines Wäldchen.

»Es ist gerade 11 Uhr,« sagte Starke, »ich schlage vor, nach dem Stundenplane abzusteigen und in diesem Gehölz Rast zu machen. Eine klare Quelle entspringt darin, daneben steht ein Pfirsichbaum mit Früchten zum Dessert.«

Sie machten Halt und drangen durch das mit Bäumen versetzte Buschholz, bis sie eine Blösse erreichten, und wirklich: aus einem moosigen Steinhügel sprang eine Quelle, zwischen den Felsen wurzelte ein Pfirsichbaum mit reifen Früchten.

»Woher wussten Sie denn das?« rief Ellen staunend.

»Nun, ich mache doch meinen alten Weg wieder. Hier habe ich schon einmal gelagert. Passen Sie auf, wenn Hassan kommt, wird er sofort, wenn er kann, sein linkes Hinterbein lecken.«

Eben wollte Ellen erst anfangen, über diesen ihr ganz unverständlichen Sinn nachzugrübeln, wollte fragen, wo denn eigentlich der Hund geblieben sei, als die Zweige knackten und Hassan erschien, die geschossene Wildgans im Maule. Er legte sie seinem Herrn vor die Füsse, krümmte den Leib und leckte sich das linke Hinterbein.

»Nein, sind Sie denn allwissend? Oder warum thut er das?«

»Weil er sich dieses Platzes in seinem Hundegedächtniss ebenso gut erinnert wie ich. Sehen Sie dort das Loch im Boden? Hassan interessirt sich schon sehr dafür. Das vorige Mal hauste ein Fuchs darin. Hassan zu Liebe räucherte ich ihn aus, der Fuchs fuhr aus dem Bau und biss ihn in's Bein – konnte freilich nur einmal beissen – und nun erinnert sich Hassan mit Vergnügen dieses Abenteuers; das Lecken der alten Wunde ist eine Reflexbewegung. Nun, Miss Howard, ich glaube, es macht Ihnen Spass, ein regelrechtes Lagerfeuer anzuzünden und Vorbereitungen zum Gänsebraten zu treffen, während ich mich der prosaischeren Beschäftigung des Rädernachsehens hingebe.«

Und ob so etwas Ellen Spass gewährte! Mit Eifer wollte sie sich daran machen – ach, da fehlten ihr ja schon die Streichhölzer! Sie, die Weltenfahrerin, die an Bord des Dampfers schon immer von nächtlichen Urwaldslagerfeuern geträumt hatte, ohne Streichhölzer! Sollte sie Starke danach fragen? Zum Anzünden seiner Pfeife gebrauchte er immer Stahl, Feuerstein und Zunder, die er in einem Beutelchen am Gürtel trug, das war praktischer. Nein, ein besserer Gedanke fiel ihr ein, sie wollte es wenigstens versuchen, hoffentlich gelang es ihr.

Sie nahm eine Revolverpatrone, die Kugel war mit dem Messer leicht zu entfernen, einen öligen Putzlappen hatte sie seit einigen Tagen immer in der Tasche – früher hätte sie einen solchen nicht einmal angefasst – das Pulver tüchtig eingerieben, die Patrone in den Revolver geschoben, das Knallquecksilber genügte noch, um einen Feuerstrahl zu erzeugen – wirklich, der Lappen glimmte und zischte, nun schnell trockenes Laub darauf und geblasen, immer geblasen, was die Lunge hielt, die Blätter brannten, kleine Aestchen darauf, dann grössere, und das Feuer war gesichert.

»Bravo«, erklang es vom unteren Theile der Quelle, »Sie wissen sich zu helfen, Sie eignen sich zum Hinterwäldlerleben.«

Stolz schwellte Ellens Herz, zugleich die reinste Freude. Nun wollte sie auch mit der Gans fertig werden. Wie man sie rupft und ausnimmt, hatte Ellen kaum je gesehen, aber was that's, sie riss und rupfte und stach und schnitt und tauchte die blutigen Hände in's Innere und zog heraus, was sie darin fand. Dabei lachte sie immer seelenvergnügt vor sich hin, Miss Ellen Howard nahm eine Gans aus! Der auf das »Curce«, das Anrecht des Jagdhundes an das Wild, wartende Hassan mochte innerlich ebenfalls seelenvergnügt schmunzeln; Nieren, Leber, Magen, Herz, das gab ihm sein Herr niemals von der Jagdbeute. Sie schnitt auch Gabelzweige zurecht, nur noch die Frage wegen des Bratspiesses war zu lösen.

»Nehmen Sie einen starken, grünen Ast, lassen Sie ihn etwas ankohlen«, sagte der die Gedanken errathende Starke, näher kommend, »und erst auswaschen und dann inwendig mit Salz einreiben.«

Er hob den Vogel an den Beinen empor und betrachtete ihn von allen Seiten mit kritischen Blicken. Ellen wiederum sah ihm ängstlich in's Gesicht, wie der Schuljunge, der vom Lehrer die Censur erwartet. Aber aus seinen tiefernsten Zügen war nichts zu lesen.

»Hm, das scheint eine herzlose Gans gewesen zu sein, ohne Seele, ohne Gemüth, sogar ohne Leber, aber auch ohne Galle. Haben Sie das noch nie gemacht? Dann ist's für das erste Mal sehr gut. Ich habe einmal eine junge Dame gesehen, die häutete eine Gans wie einen Ochsen ab, und als ihr das nicht gelingen wollte, schälte sie das Thier wie eine Kartoffel. – Sorgen Sie für ein tüchtiges Feuer, dass wir nachher Gluth haben, ich will sie inzwischen waschen, dann braucht sie nur noch gesengt zu werden und sie ist zum Braten reif.«

Das Feuer flackerte hell auf, und Ellen schlürfte erst noch einmal köstliches Quellwasser. Weiter unten plätscherte Starke tüchtig.

»Sie gehen nicht immer so verschwenderisch mit Wasser um, Mr. Starke.«

»Ich weiss, was Sie meinen. Sie müssen einem Manne, der durch sein Herumschweifen zum Sonderling geworden ist, Manches nachsehen. Ich bringe es nicht mehr über's Herz, einen Wasserstrahl fliessen zu lassen, wenn ich ihn nicht zum Löschen meines Durstes gebrauche. An einem frei fliessenden Wasser ist das etwas anderes. Sie haben wohl auch schon gemerkt, was das Wasser bedeutet. Es dürften noch andere Gelegenheiten kommen. Das Wasser, die frische Quelle! Wenn ich ein geborener Dichter wäre, nicht mühsam nach Reimen suchen müsste, ich würde nicht Liebe und Wein, sondern Durst und Wasser besingen. Die arabische Poesie ist reich an solchen Liedern.«

Die Gans röstete über dem Feuer, Ellen drehte den Spiess, zerlegte sie, sie assen. Es war zu gemüthlich an solch einem Lagerfeuer!

»Nun erzählen Sie noch ein zum Lagerfeuer passendes Abenteuer aus Ihrem Leben,« bat sie.

Starke erzählte, mit trockener Stimme, mit schlichten Worten, aber dennoch poetisch: eine Verschmachtungsgeschichte in der persischen Salzwüste; es wurde ein Kampf mit Kurden daraus, und zum Schlusse furchtbar tragisch dadurch, dass der treue Kurde, der ihn gerettet, den Verschmachtenden an den Strom gebracht hatte, in diesem Strome ertrank.

»Ist das wirklich wahr?« fragte Ellen mit zuckenden Lippen.

»Ich kann gar nicht erfinden.«

»Sie sollten das in eine Novelle bringen.«

»Ich treibe keine Schriftstellerei.«

»Verbinden Sie denn mit Ihrem Umherschweifen – wie Sie sagen – gar keinen Zweck?«

»Oh doch. Wenn ich mit ein und demselben Rade um die Erde fahre, damit eine Firma für ihr Fabrikat Reclame machen kann, dass sie ihr Geschäft, den Absatz vergrössert, wodurch sie mehr Arbeiter, mehr Schreiber, mehr Reisende anstellen muss – so glaube ich doch der menschlichen Gesellschaft einen Nutzen erwiesen zu haben. Einen Zweck verbinde ich stets mit meinen Wanderungen. Ich verdinge mich als Führer an Expeditionen, lieber an wissenschaftliche Forschungs- als an abenteuerliche Jagdexpeditionen, diene ihnen mit meiner Erfahrung. Ausserdem sammele ich selbst, schon manches Naturalien- und Alterthumscabinet verdankt mir werthvolle Bereicherungen.«

Zu spät erkannte Ellen, was für eine thörichte Frage gerade sie gestellt hatte. Nur durch Offenheit konnte sie dies wieder gut machen.

»Nicht wahr, aber meine Weltreise finden Sie recht zwecklos?« fragte sie deshalb.

»Ja, das finde ich,« lautete die ebenso offene Antwort des Mannes der rücksichtslosen Wahrheit. »Allerdings, wenn man in Betracht zieht, dass Sie durch die Fahrt um die Erde Erfahrungen sammeln, die Sie ohne Ihre Wette nicht bekommen hätten, so hat die Wette für Sie persönlich doch einen Zweck gehabt, und wenn Sie die Fahrt in der vorgeschriebenen Zeit vollenden, so beweisen Sie, was ein Weib leisten kann, gleichwie ich den Beruf eines Mannes durchaus nicht zwecklos finde, welcher sich im Gewichteheben producirt, denn er zeigt, wie ein Mensch seine angeborene Kraft durch Uebung und Selbstzucht – denn ohne dieses giebt es keine wahrhaften Athleten – zur übermenschlichen Stärke ausbilden kann. Doch ich wollte Sie immer schon etwas fragen. Warum verknüpfen Sie nicht mit Ihrer Reise einen nützlichen Zweck? Warum setzen Sie sich nicht mit einer grossen, englischen Zeitung in Verbindung? Die Wette und der Antritt Ihrer Reise ist in England bekannt geworden, jede Zeitung wird Ihre Berichte mit Kusshänden annehmen ...

»Wahrhaftig!« rief Ellen, ganz erstaunt, dass sie noch nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen war.

»Die Berichte in erzählende Form zu kleiden, das werden Sie doch können. Geben Sie interessante Schilderungen, lassen Sie ab und zu etwas Lehrreiches einfliessen, und Ihre Berichte haben noch mehr Werth als nur einen belletristischen. Dann haben Sie später auch ein bleibendes Andenken, denn bisher führten Sie doch nicht einmal Tagebuch, und wenn Sie jetzt einmal in eine schlimme Lage kommen, Durst und Hitze ertragen müssen, von Gefahren umringt sind, so ist es immer ein aufmunternder Gedanke, wenn Sie sich dabei sagen: >das; was ich jetzt durchmache, werden in vier Wochen Hunderttausende lesen< ...«

»Hören Sie auf, hören Sie auf!« unterbrach ihn Ellen abermals, dabei aufspringend. »Sie begeistern mich ja ganz und gar. Sie beschämen mich, dass ich nicht selbst diesen Gedanken gefasst habe! Jawohl, Sie haben Recht, das wird gemacht; gleich heute Abend schreibe ich an einige Zeitungen, von morgen an gehe ich unter die Berichterstatterinnen.«

»Ja, lassen Sie mich Ihnen noch mehr rathen,« fuhr Starke fort, als sich Ellen mit leuchtenden Augen und gerötheten Wangen wieder neben ihm niedergelassen hatte. »Warum sammeln Sie nicht während Ihrer Radtour, soviel Sie Zeit dazu haben? Ich meine jetzt keine Steine, Pflanzen, Insecten u. s. w., dazu gehören gründliche Kenntnisse, es giebt aber auch noch etwas ganz Anderes zu sammeln. Lassen Sie mich nur ein Beispiel herausgreifen. Unsere Fahrt wird uns durch ganz uncivilisirte Gegenden führen. Oft mögen dort schon Reisende und Forscher durchgekommen sein – kühne brauchen es gar nicht gewesen zu sein – sie haben Land und Leute beschrieben, Alles, was sie gesehen, gehört und gedacht haben, aber da fehlt noch Vielerlei, was nämlich nur eine Frau zu hören und zu sehen bekäme, und gebildete Damen, welche so reisen, dass sie dazu überhaupt Gelegenheit haben, sind doch sehr selten. Für einen Mann ist es ja schon ganz unmöglich, in einen muhammedanischen Harem zu kommen. Aber das ist nur der allergewöhnlichste Fall, bei welchem die studirende Frau einen Vortheil hat. Sammeln, immer sammeln; das giebt die Grundlage für jede reale Wissenschaft. So erkundigen Sie sich überall, wo Sie nur Gelegenheit dazu haben, im Filzzelt des Kurden und im Wigwam des Indianers wie in der Blockhütte des weissen Hinterwäldlers – denn dies Alles ist ja der Hauptsache nach noch ganz und gar unbekannt – wie sich die Frau kleidet und schmückt und putzt und frisirt, was sie für Seife oder statt der Seife benutzt, wie sich die Frau von dem Mädchen unterscheidet, wie sie die kleinen Kinder behandelt, erzieht, in Krankheit pflegt, wie sie sie entwöhnt, was sie thut, wenn sie das Kind nicht selbst nähren kann. – Sie verstehen, was hier für Fragen gestellt werden können, die für einen Mann unmöglich sind – – so sammeln Sie, und es wird ein Werk, wie es noch keines giebt, ein Werk von höchster wissenschaftlicher Bedeutung.«

Ellen sagte gar nichts mehr. Sie hatte den Sprecher nur immer mit grossen, glänzenden Augen angesehen und that es auch jetzt noch, als er schwieg. Dieser Mann gab ihr plötzlich eine wunderbare Erleuchtung, zeigte ihr die Zukunft mit einem Male in einem ganz anderen, hellstrahlenden Lichte.

»Es giebt noch viel mehr zu erforschen,« nahm Starke abermals das Wort, »und man braucht dazu gar nicht aus Europa, nicht einmal aus den engen Grenzen eines Landes heraus zu gehen. Ja, ich bin zu der Ansicht gekommen, dass das Fahrrad eine ganz neue Wissenschaft in's Leben rufen wird. Da sie noch nicht begründet ist, hat sie auch noch keinen Namen, und so will ich ihr einstweilen den complicirten Namen »Vergleichende gleichzeitige Culturgeschichte der Längen- und Breitengrade« geben. Es reist Jemand von Hamburg nach Konstantinopel. Welche zahllosen Verwandlungen bemerkt er da unter den Menschen, wie sich die Racen, die Typen ändern mit Charakteren und Sitten, mit Glauben und Aberglauben, ganz abgesehen von Pflanzen- und Thierwelt. Aber niemals ist das eine plötzliche Verwandlung, es giebt keine Grenzen, Eines fliesst immer in's Andere über, gerade so wie Flora und Fauna. Scheinbar ist das ja ganz selbstverständlich, das hängt einfach mit der Verschiedenheit des Landes, der Lebensbedingungen u. s. w. zusammen. Aber nein, das ist gar nicht so einfach! Das sind Fragen, welche nur ein scharfsinniger Culturhistoriker lösen kann, der sich diesem Studium widmet. Einfach ist es freilich heutzutage für uns, zu wissen, woher es kommt, dass ein grosser Strom an seiner Mündung einmal frisches, einmal salziges Wasser enthält. Was für Studien grosser Geister aber waren erst nöthig, um uns erklären zu können, woher Fluth und Ebbe denn überhaupt kommt! Und welch ein Unterschied besteht z. B. zwischen dem freien Bulgaren und einem unter türkischer Herrschaft befindlichen! Das sind scheinbar ganz genau dieselben Leute, von gleichem Aussehen, von gleichem Charakter – und doch, es sind zweierlei Menschen, und hierin liegt ein grosses Geheimniss, welches aber nur der Wanderer als solches erkennt. Die Eisenbahn hat die Lösung dieser Räthsel in die Ferne gerückt. Man steigt unter nordischen Tannen und schwerfälligen Marschbauern in den Wagen, schläft ein; und wenn man wieder aufwacht, befindet man sich unter Palmen und heissblütigen Italienern. Uebergänge sind da doch wenigstens nicht zu beobachten. Aehnlich war es schon mit der Postkutsche. Mit dem Pferde wird sich Niemand herumplagen. Fusswandern thut heutzutage kaum noch der Handwerksbursche. Erst neuerdings, durch das Fahrrad, ist es auch dem Gebildeten ein Vergnügen geworden, von Grenze zu Grenze zu wandern, in der Dorfschänke und im Bauernhaus einzukehren und sich mit dem Schäfer zu unterhalten, zu beobachten, zu denken und zu berichten, und so wird nach und nach das von mir angedeutete Studium entstehen. Und wer da glaubt, dieses Studium sei unnütz, es bringt ja kein Geld ein – nun, der mag es glauben, für den hat Kopernikus umsonst gelebt, für den mag der Mond auch noch eine am Himmel hängende Nachtlaterne sein.«

Wieder war Ellen hastig aufgestanden. »Ich fange an zu sammeln!«

Starke, welcher nach der Uhr gesehen hatte, deutete auf ihr Rad.

»Da können Sie sofort damit anfangen, an der Lenkstange befinden sich noch die losgeschnittenen Lasso-Enden. Heben Sie sich dieselben auf, und wenn Sie dereinst als alte Grossmutter Ihren Enkeln, welche natürlich schon Flugmaschinen besitzen, von Ihrer Weltreise erzählen, können Sie sagen: Seht, Kinder, als ich damals in jungen Jahren eine Fahrt um die Erde auf solch einem Radgestelle machte, wie noch jetzt eins im Alterthumsmuseum steht, da hat mich Mr. Starke an diesem Bändchen durch den Prairieschmutz gezogen, damit uns die Cowboys nicht kriegten– – d. h., wenn dies nicht Ihre Ehre beeinträchtigt, sonst können Sie auch erzählen, Sie hätten mich an diesem Bändchen gezogen.«

Diese Worte waren so trocken wie immer gewesen. Aber auch Ellen lachte nicht, sie ging an ihr Rad, knüpfte die Lederschlinge ab und steckte sie in die Tasche.

»Wenn Sie wünschen,« fuhr er fort, eine Brieftasche hervorziehend, als sie nach ihm zurückkam, »trete ich Ihnen auch die Hälfte der Scalplocken ab. Es sind doch interessante Andenken, und man braucht sie ja später nicht gerade als Siegestrophäen zu betrachten. Haben Sie nicht gesehen, wie ich jedem der Cowboys etwas Kopfhaar abschnitt? Dies sind die Scalplocken der beiden hoffentlich noch Lebenden, dies der beiden anderen. Wollen Sie die Hälfte haben?«

Vier Haarstreifen waren aus dem Taschenbuche zum Vorschein gekommen. Nur einen Augenblick schauderte Ellen vor den grässlichen Andenken zurück, dann nahm sie die ihr angebotenen Hälften – nicht als Trophäen, sondern eben als heiliges Andenken zur Errettung aus Todesnoth.

»Es giebt Knaben und Mädchen,« setzte Starke noch erklärend hinzu, »welche allerhand Kleinigkeiten aufheben, ein Stammbuchblümchen, ein Bildchen, ein getrocknetes Blatt, einen Schlüssel, einen Knopf u. s. w., und in einer unbeobachteten Stunde wühlen sie dann gern zwischen ihren heimlichen Schätzen. Finden Sie das auch lächerlich? Ich habe solche Kinder immer im Verdacht, dass es nicht nur sinnige, sondern auch geistreiche Menschen sind oder dereinst werden. Es ist nicht nöthig, dass ein eifriger Sammler von alten Münzen immer ein gelehrter Numismatiker ist. Was für wunderbare Geschichten kann nicht solch eine alte, vor Jahrtausenden abgegriffene Münze dem phantasievollen Menschen erzählen!«

Ellen hatte ihn schon vorhin verstanden.

»Wollen wir jetzt aufbrechen?« fragte sie dann nach einer Pause.

»Es ist ja erst ein halb drei Uhr, wir haben noch anderthalb Stunden Zeit.«

»Ich bin nicht müde, und übrigens habe ich mir überlegt, den Stundenplan nicht so ganz strikte einzuhalten. – Sie verzeihen wohl, ich werde Ihnen später eine ausführliche Erklärung geben,« entgegnete Ellen, sichtbar mit Verlegenheit ringend, was ganz ihrem früheren Wesen entgegengesetzt war.

»Wie Sie wünschen,« sagte Starke, sofort aufstehend. »Ich hatte diesmal auch einen recht egoistischen Zweck dabei, Sie hier so lange festzuhalten.«

»Welchen?«

»Ungefähr 20 Meilen von hier befindet sich das Jordansthal, so genannt von Herrnhutern, welche sich dort angesiedelt haben – eine reizende Colonie und liebe Menschen. Wir hätten es so einrichten können, dass wir um 7 Uhr dort gewesen wären, um über Nacht zu bleiben..«

»20 Meilen?« wiederholte Ellen sinnend, während sie zusah, wie Starke sorgfältig die Holzgluth mit den Füssen austrat.

»Ist denn der Weg so schlecht?«

»Vielmehr ausgezeichnet und fast immer sanft bergab. Sie meinen, weil 20 Meilen in 3 Stunden sehr wenig ist? Ja, Miss Howard, Sie müssen doch überhaupt eine Inconsequenz erkannt haben, als ich Ihnen rieth, einen einmal gemachten Stundenplan mit pedantischer Pünktlichkeit einzuhalten. Oder nicht? Das früh um halb vier aufstehen, die Frühstücks- und Mittagspause, das lässt sich ja fast immer mit minutiöser Pünktlichkeit befolgen. Aber ich sagte Ihnen doch auch, Sie sollten Abends Punkt 7 vom Rad steigen, und wenn Sie auch noch so guten Weg vor sich hätten, und rieth Ihnen dennoch, sich stets das beste Schlafquartier auszusuchen.«

»In der That! Wie soll ich mir dies zusammenreimen?«

»Nun, ganz einfach. Ich habe doch diesen Weg schon einmal gemacht, kenne ihn genau, jede Station, und da hätte ich es immer durch etwas schnelleres oder langsameres Fahren des Tages über so eingerichtet, dass Sie gerade zu den Pausen die schönsten Lagerstellen und Punkt 7 Uhr des Abends das beste Nachtquartier erreicht hätten.«

Sie standen schon mit ihren Rädern auf der Strasse.

»Aha, das ist ja die allermodernste Schrittmacherei auf der Landstrasse,« lachte Ellen, »schon mehr so eine Art von allweiser Vorsehung.«

Plötzlich zog sie den Fuss vom Pedal zurück und sah ihren Begleiter mit grossen Augen an.

»Ja, wie ist mir denn? War das nicht – vorgestern? – vor dem Bärenpass? – als Sie mir riethen, den Stundenplan einzuhalten?«

»Gestern war es. Ja, Sie haben seit gestern viel erlebt, deshalb dünkt Ihnen die Zeit so auseinander gezogen.«

»Und gestern,« fuhr Ellen mit immer grösserem Staunen fort, »als ich Sie dann so beleid ... Da haben Sie schon den Plan gefasst, auf diese Weise mein Schrittmacher zu werden, mich zu langsamerem und schnellerem Fahren zu bewegen, meine Lager im Freien und meine Nachtquartiere zu bestimmen?«

»Das war mein Plan von allem Anfang an, als mich Sir Munro zu Ihrer Begleitung engagirte,« war seine ruhige Entgegnung. »Warum wundern Sie sich darüber? Es musste ja so kommen, wie es jetzt gekommen ist, nämlich dass wir Freundschaft schlossen. Fast Jeder mag mich zuerst kalt und abstossend finden, doch wenn er mich näher kennen lernt, wird er sein Urtheil ändern.«

Ellen sass auf dem Rad und jagte davon, doch diesmal nicht, um den abscheulichen Menschen hinter sich zu lassen, sondern nur um ihre Verwirrung zu verbergen.

Vor einer Woche, gestern noch hätte sie solche Worte unverzeihlich, unerhört gefunden. Das war ja eine Anmaassung, wie es keine zweite giebt. Abscheulich, wenn sich ein Mann unwiderstehlich nennt! Und er that es!

Jetzt aber hörte Ellen etwas ganz Anderes heraus, das war nur bescheidene Wahrheit, und es war ja auch Thatsache, er hatte sie besiegt – und bei dieser Erkenntniss fühlte sie sich nicht einmal beschämt. Jetzt fuhr sie langsamer, wartete, bis er an ihrer Seite war und wandte ihm ihr lächelndes Antlitz zu.

»Ja, Mr. Starke, ich habe mein erst so schroffes Urtheil über Sie als Unrecht erkannt, und Sie haben mir ja schon verziehen. Seien Sie mein Führer, ich will gehorsam folgen, und wenn ich einmal eine besondere Bitte betreffs der Route oder Zeit habe, so werden Sie derselben wohl willfahren.«

»Geht das nicht gegen die Bedingungen, dass Sie mich direct als Ihren Führer anerkennen?« fragte er, unberührt durch solchen Gesinnungswechsel.

»Mag es,« war ihre kurze Antwort. »Was sind das eigentlich für Leute: Die Herrnhuter? Ich habe nur einmal ihren Namen gehört.«

Starke erzählte ihr vom Grafen Zinzendoff und seiner Brüdergemeinde, von ihren Bestrebungen und ihrem Leben im Hauptsitz Herrnhut, von ihren Missionsanstalten und Colonien, verbreitet über die ganze Erde.

Allerdings würde Ellen hier nicht die puritanische Strenge wie in Herrnhut finden, die Colonisten passen sich immer dem Lande an, in dem sie sich niederlassen, und hier hat sich der amerikanische Geist der Freiheit bei ihnen in Frohsinn verwandelt, obgleich sie überall das Gebot befolgen: bete und arbeite. Ausserdem bleiben sie auch im Auslande gute Deutsche, welche ihre Muttersprache nicht vergessen.

»Ick sprecke auch deitsch,« schaltete Ellen ein.

Sie hatte es in der Schule gelernt und konnte ungefähr so viel davon, wie ein deutscher Realschüler vom Englischen, wenn er sich fünf Jahre niemals mehr darum bekümmert, nie mit einem Engländer gesprochen hat. Dann spricht auch der Engländer das Deutsche, Französische, Lateinische, überhaupt jede Sprache, flott nach seinen Regeln aus, es wird ihn in der Schule sogar so gelehrt, es kommt nur auf das Lesen und Schreiben an; statt »die« hört man also gewöhnlich »dei«. Ellen kannte ihre mangelhafte Kenntniss selbst. Immerhin, eine feste Basis war vorhanden, Vocabeln wusste sie noch genug, wovon sich Starke überzeugte.

»Wollen Sie richtig deutsch sprechen lernen? Sie erreichen es spielend durch Unterhaltung während der 300 Tage, und dann haben Sie sich mit der Fahrt um die Erde ein neues Leben errungen, denn so viel Sprachen man kann, so viel ist man Mensch.«

»Jawohl, lernen Sie mir deitsch.«

»Lehren Sie mich deutsch, heisst es,« verbesserte Starke, und hiermit hatte der Unterricht begonnen.


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