Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Capitel.
Wieder verdorben.

Neben einem klaren Bache im Schatten einer Sykomore lag Ellen da, wo vor Kurzem die Morgensonne noch den Thau getrocknet hatte, und verzehrte zum Frühstück das aus dem Papiere gewickelte Brathuhn. Erst 8 Uhr und schon fast 30 Meilen zurückgelegt. Erst der fünfte Tag und schon über 250 Meilen hinter sich. Dort im Westen erhoben sich schon die Gipfel des Alleghani-Gebirges. Es war ja ein Kinderspiel! Freilich immer bei gutem Wetter und Wind, ein Regentag hatte erst spät begonnen, die Strasse war noch nicht aufgeweicht gewesen, und am anderen Morgen Alles wieder hart und glatt. Aber das war es ja eben, bei diesen 5 Tagen mit gutem Wetter und Weg hatte sie 2, sogar 3 Tage erspart, diese konnte sie schon wieder zusetzen, und dies geschah noch nicht bei schlechtem Wetter und schlechtem Weg, da wollte sie ihre 32 Meilen noch immer machen, sie brauchte ja nur täglich 8 Stunden langsam zu treten. Nein, ihre Rechnung stimmte.

Ausserdem war es überhaupt herrlich. Dieser köstliche Appetit! Hunger hatte sie überhaupt fortwährend, wie – wie ein Wolf. Und solch' ein Trunk aus einem frischen Quellbache! Sie hatte ja lange Touren auch schon in England gemacht, aber dort war es doch etwas ganz anderes gewesen, dort war sie – ja, worin lag denn nur eigentlich der Unterschied? Zunächst wohl darin, dass sie hier nicht an die Umkehr denken musste. Hier war sie frei, frei! Hier legte sie sich mit dem Gesicht ins Gras und streckte sich behaglich aus, und wenn Carossen vorüberfuhren, sie blickte nicht auf. Hätte ihr der Wind die Mütze entführt, ein Dorn ihr die Kleidung von oben bis unten aufgeschlitzt, sie wäre seelenvergnügt barhäuptig und zerrissen durch die vornehmste Strasse der nächsten Stadt gefahren. Und dann immer wieder dieser köstliche Hunger und Durst! Ein gebratenes Huhn könnte sie in England auch essen, aber nicht so wie hier. Den dumpfig riechenden Gummibecher hatte sie schon längst weggeworfen – aus den hohlen Händen geschlürft, gleich den Mund zur kühlen Quelle hinabgebeugt, sie genirte sich nicht mehr, mitten in der belebten Strasse die Pumpenschwengel in Bewegung zu setzen und aus der Mütze zu trinken – und nun sollte sie sich so in England vorstellen! Eine Unmöglichkeit.

Das Geheimniss des Unterschiedes, welches Ellen mit den Worten Freiheit, Ungebundensein und Selbstständigkeit zu lösen suchte, lag vielleicht allein in den Worten »Weltenbummler«.

Dort lag er, der Radbummler par excellence, in der immer von ihm eingehaltenen Entfernung von sechs Metern und schlug mit dem Nickfänger in einen grossen Schinken ein.

Ja, was hatte sie eigentlich gegen diesen Mann? Wenn sie sich nicht beim Fahren nach ihm umsah und bei der Rast nicht nach ihm blickte, so wusste sie überhaupt gar nichts von seiner Existenz. Seit damals, als er trotz ihrer heimlichen Entfernung sofort wieder hinter ihr her war, ihr den liegengelassenen Gürtel mit Revolver bringend, hatte er noch nicht ein einziges Wort wieder zu ihr gesprochen, und das war nun schon vier Tage her. Denn Ellen hütete sich, wieder solch' einen Fehler zu begehen, deshalb lernte sie schnell die Praxis.

Er war sogar bescheidener als ihr Schatten. Dieser lagerte sich neben ihren Tisch, jener lebendige setzte sich beim Essen an einen anderen, suchte beim Lagern im Freien einen vor ihren Augen möglichst versteckten Platz. Konnte man mehr verlangen? Dieser sich selbstständig bewegende Schatten war auch sehr aufmerksam. Hatte Ellen ihr Rad noch nicht geputzt und nicht in eigenem Verschlusse, so wusste sie bestimmt, dass sie es tadellos rein, geölt und mit aufgepumpten Schläuchen wiederfand, und hatte die Kette vorhin geknackt, so war dies jetzt nicht mehr der Fall, war der Handgriff locker gewesen, jetzt war er fest, die Bremse war richtiger eingestellt worden – aber das Heinzelmännchen arbeitete nur, wenn man es nicht beobachtete.

Wirklich, sie that ihm Unrecht, wenn sie ihn einen unverschämten, aufdringlichen Gesellschafter nannte, schon hatte sie es ihm im Stillen abgebeten.

Auch dieser schöne, grosse Hund war still und bescheiden wie sein Herr. Ueberhaupt ein ganz merkwürdiger Hund. Ein vornehmer, reservirter Hund. Ein Gentleman von einem Hund. Noch nie war er schwanzwedelnd zu ihr gekommen, hatte ihr nie die geringste Vertraulichkeit gezeigt. Und das ist bei einem Hunde, in dessen Nähe man sich fünf Tage befindet, seltsam. Ja, er lag jede Nacht vor ihrer Thür, aber öffnete sie diese, so liess er sie passiren, ohne sich mit einem Blicke um sie zu kümmern. Er bellte auch niemals. Nie liess er sich mit einem anderen Hunde ein, nicht mit der schönsten Vertreterin des anderen Hundegeschlechts, und als sich ihm einmal eine prachtvolle Bulldogge mit schwellenden Muskeln dreist genähert, hatte der schmächtige Windhund sie abgeschüttelt, dass ihr Hören und Sehen vergangen war. –

Ellen hatte ja genug Zeit zu solchen Beobachtungen, und so beobachtete sie ferner, wie gentlemanlike dieser Hund von seinem Herrn behandelt wurde. Anstatt ihm einfach seinen Teller mit den Resten der Mahlzeit auf den Boden zu setzen – oft jedoch bekam der Hund sein eigenes Gericht, Milch spielte immer die Hauptrolle – forderte Starke für ihn stets einen reinen Teller, wischte ihn womöglich noch mit der Serviette ab, und in einem grossen Hôtel, als der Oberkellner eine höfliche Bemerkung machte, hatte er dann diesen Teller zertreten und bezahlt.

So ganz schweigsam war Starke auch nicht, er sprach nur nicht zu ihr, desto mehr zu seinem Hunde, den er Hassan el Saba oder nur Hassan anredete, oft hörte sie ihn hinter sich lange Reden halten, in einer Sprache, welche sie für arabisch hielt, und der Hund mit seinen klugen Augen musste ihn wohl verstehen.

Weiter studirte Ellen, wie dieser Mann lebte. Eigentlich ganz anders, wie sie bei solch' einem professionellen Bummler vermuthet hatte. Dass er sehr, sehr stark ass, war bei der ständigen Bewegung im Freien begreiflich. Ellen merkte es ja an sich selbst, und er musste den Oxydationsprocess eines ganz anderen Körpers als den ihren unterhalten. Dass er immer das Beste ass, was nur zu haben war, ist schliesslich auch einem Bummler entsprechend, wenn er Geld hat. Aber auffallend war doch, wie sorgsam er seine Auswahl traf, wie er sein Menu zusammenstellte, kein Pariser Gourmand konnte penibler sein; lange studirte er erst die Weinkarte, wenn eine solche vorhanden, prüfend kostete er den ersten Schluck lange auf der Zunge, und schmeckte er ihm nicht, bestellte er gleich eine andere Flasche, die erstere stehen lassend. Dabei war es ganz gleich, ob er sich im grossen Hôtel oder in der elendesten Spelunke befand. Dort ass er die theuersten Austern und trank französischen Champagner, durch den Kellner liess er den Koch bitten, den Kapaun nicht mit Aepfeln, wie auf der Speisekarte stand, sondern mit Oliven zu füllen. Hier suchte er sich mit Kennerblick das beste Stück Fleisch aus und briet es selbst mit Umständlichkeit, plünderte alle Gewürzdüten, roch an jeder Flasche. Und dieselbe Sorgfalt gab er auch auf sein Aeusseres, war immer rasirt, er polirte sogar seine Fingernägel.

Nun sollte man sich diesen peniblen, pedantischen Herrn in der Wüste, im Urwalde vorstellen, vielleicht monatelang am Lagerfeuer campiren müssend!

Aber Ellen erkannte das Richtige heraus. Er würde, Angesichts des Hungertodes, seine Stiefelsohle mit derselben Umständlichkeit in Stücke schneiden und die Stücke mit demselben Behagen zum Munde führen, wie er im Speisesaale sich mit dem mit Oliven gefüllten Kapaun beschäftigte, wie er jetzt von dem mächtigen Schinken lange Schnitte absäbelte.

Die finstere Schweigsamkeit dieses Mannes hatte sich vor Ellen's Augen nach und nach in ein ruhiges Behagen verwandelt. Ja, das war es! Alles an ihm war ruhige, behagliche Zufriedenheit, die durch nichts zu erschüttern war. Ihr brauchte er es nicht zu sagen, denn sie fühlte selbst, wie sie von ihm aus auf sie überströmte.

Und dann, noch Eins erkannte sie. Wo der sich hinlegte, irgendwo auf der Erde, so sagte er stets, wenn auch ohne Worte: so, hier liege ich, nun mag's regnen, schneien oder blitzen; hier ist meine Heimath, hier bin ich zu Hause.

Es ist ein liederliches, aber classisches Lied:

Ich hab' mein Sach auf Nichts gestellt, juchheh!
Und mir gehört die ganze Welt, juchheh!

Goethe muss wohl manchmal ähnlich gefühlt haben.

Ellen fühlte es jetzt, und das Herz wurde ihr an diesem schönen Morgen weiter.

»Schmeckt es Ihnen, Mr. Starke?« rief sie hinüber.

Kein verwundertes Aufblicken bei dieser ersten, so freundlichen Anrede. Er kannte so etwas nicht.

»Danke, Miss. Mir schmeckt es, Gott sei Dank, immer. Wenn man das Leben von der einfachsten und dennoch hauptsächlichsten Seite betrachtet, so sind Hunger, Durst und ein tiefer Schlaf die schönsten Geschenke einer gütigen Natur, und jeder freie Mensch kann sie sich verdienen, muss sie sich durch eigene Anstrengung verschaffen, denn zu kaufen sind sie nicht für alles Geld der Welt.«

Ellen war es, welche erstaunt aufblickte. Er sprach ganz aus ihrer Seele.

»Schon allein, wenn man Ihnen beim Essen zusieht, muss man ja Appetit bekommen.«

»HabenSie noch welchen? Wollen Sie ein Stück von meinem Schinken? Mein Hund isst keinen geräucherten Schinken.«

Zunächst musste Ellen hell auflachen. Erst kam also sein Hund, dann sie, und durch den trockenen Ton wirkte es urkomisch.

»Oh ja, bitte, gehen Sie mir ein Stück. Es ist doch fabelhaft, was man beim Radfahren für einen unerschöpflichen Hunger bekommt.«

»Wenn man sich nicht überanstrengt. Sonst schlägt es in das Gegentheil um.«

Er schnitt das Zweipfundstück durch, aber anstatt nun ihr die Hälfte zu bringen, blieb er gemütlich liegen, pflückte ein grosses Blatt ab, wickelte das Stück hinein und warf es ihr zu, allerdings so, dass es ihr direct in den Schooss fiel.

Doch gerade diese collegiale Gemüthlichkeit gefiel ihr wiederum. Sollte er etwa aufstehen und eine Verbeugung machen? Das konnte sie im Hôtel genug haben, hier hätte es nicht gepasst.

»Mr. Starke,« begann sie nach einer Weile wieder, »glauben Sie, dass ich die Tour in 300 Tagen machen kann?«

»Wenn Sie so fortfahren wie bisher, glaube ich es. Lassen Sie sich noch etwas Anderes sagen. Mir ist während des letzten Tages in London Einiges zu Ohren gekommen. Sie haben gesagt: wenn ich täglich nur acht Stunden fahre, so werde ich auch beim schlechtesten Wege, wenn ich nur im Sattel sitzen kann, meine 32 Meilen machen und kann mich 16 Stunden wieder ausruhen. – Bleiben Sie bei diesem Princip, und ich weiss es ganz bestimmt, dass Sie Ihre Wette gewinnen werden.«

Mit freudiger Ueberraschung sah Ellen zu ihm hinüber.

»Wirklich? Das ist Ihre ehrliche Ueberzeugung?«

»Ich spreche immer, wie ich denke. Machen Sie sich ein bestimmtes Programm, einen Stundenplan. Sie stehen halb 4 Uhr auf, Punkt 4 fahren Sie ab, Punkt 8 machen Sie den ersten Halt, zur Frühstückspause. Dann wieder von 9 bis 11. Dann grosse Pause mit Hauptmahlzeit und zwei Stunden Schlaf. Dann nochmals von 4 bis 7 im Sattel, und damit ist es aus. Halten Sie diese Zeiten mit der pedantischsten Pünktlichkeit bis zur Secunde inne. Machen Sie sich ganz unabhängig von Weg, Wetter und Wind. Gesetzt den Fall, Sie haben Nachmittags von 4 bis 7 schlechten Weg und Gegenwind, mit einem Male springt der Wind um, der Weg wird ausgezeichnet, sie wollen und können an diesem Abend noch 20 Meilen machen – nein, thun Sie es nicht, steigen Sie Punkt 7 vom Rade. Bald werden Sie merken, was für ein physiologisches, vielleicht auch psychologisches Geheimniss in diesem starren Einhalten des Princips steckt. Etwas Anderes ist es natürlich, wenn Klima, Regenzeit in Betracht kommen. Dann wird eben ein anderer Stundenplan gemacht und dieser ebenso pedantisch eingehalten. Folgen Sie meinem Rathe und soweit es ein Mensch kann und darf, garantire ich Ihnen dafür, dass Sie nicht einmal 300 Tage brauchen; Sie werden in der nächsten Stunde nach Ihrer Rückkehr mit fröhlichem Muthe Lawn-Tennis spielen können, und in Ihrer Erinnerung wird die ungeheuere Radtour eine schöne Spazierfahrt gewesen sein.«

Wie eine dankbare Erleichterung überkam es Ellen. Die felsenfeste Gewissheit lag besonders in dem einfachen Tone, mit dem er diese Worte sprach.

»Dann noch eins,« fuhr er fort. »Quälen Sie sich doch nicht unnöthig mit Entbehrungen. Diese kommen ganz von selbst, dann wird ihr Ertragen auch noch gelernt. Nehmen Sie das Beste, was Ihnen die Erde bietet, so lange Sie es noch haben können. Suchen Sie sich das weichste Bett aus, so lange Sie noch darin zu schlafen vermögen! Denn es dürfte noch die Zeit kommen, wo Sie sich wohl nach einem Bette sehnen, aber wenn Sie es haben, können Sie nicht mehr darin schlafen; stundenlang wälzen Sie sich in den Kissen, bis Sie endlich aufstehen und sich daneben auf den Boden legen und gleich sind Sie sanft, entschlafen. Provociren Sie diesen Zustand nicht, er ist manchmal nicht schön. Nehmen Sie Alles mit, auch, wenn es die Zeit Ihres Stundenplans erlaubt, Theater, Concerte und Kunstgalerien.«

Konnte es vernünftigere Worte geben?

»Ich werde Ihren Rath befolgen und ich danke Ihnen, Mr. Starke.«

Der neben seinem Herrn liegende Hund stand auf, ging zu Ellen und blieb dicht vor ihr stehen. Sie wunderte sich, dass er plötzlich zu ihr kam.

»Ach so, der arme Kerl hat ja heute kein Frühstück bekommen, weil er keinen Schinken frisst und sein egoistischer Herr nur an sich selbst gedacht hat!« bedauerte sie scherzhaft. »Er erhält nur einmal, des Abends, satt zu essen, er weiss es, und was vom Frühstück und Mittag abfällt, ist für ihn nur ein Gelegenheitsbissen, beanspruchen thut er es nicht.«

Jetzt speculirte Hassan offenbar auf die im Papier liegenden Hühnerknochen. Ellen nahm einen. Eine besondere Hundefreundin war sie nicht, sie hatte das furchtbare Gebiss des Thieres schon gesehen; sie fürchtete sich etwas, deshalb warf sie ihm den Knochen mit einem »Fang!« zu.

Aber der Hund fing nicht, kümmerte sich auch nicht um den im Grase liegenden Knochen, sondern warf Ellen einen seiner verächtlichen Blicke zu und wandte ihr den Rücken, blieb aber noch stehen.

Dieses Benehmen war so menschlich gewesen, dass Ellen förmlich erschrak.

»Oh, jetzt haben Sie ihn beleidigt,« sagte Starke. »Ich hätte Ihnen freilich sagen sollen, dass er höchstens etwas aus der Hand nimmt. Auf der Erde darf nichts gelegen haben. Nun kommt er nicht so leicht wieder zu Ihnen.«

»Was für ein merkwürdiger Hund!« rief Ellen. »Ist er denn so heikel?«

»Er trinkt aus jeder Pfütze, wenn er Durst hat, isst Cadaver, wenn er hungrig ist, aber das frische Wasser, welches ihm vorgesetzt wird, wird er nicht berühren, wenn Jemand seine Hand hineingetaucht hat, und ich glaube, er fühlt es – nicht, dass er es riecht, sondern er fühlt es heraus. Ich muss es annehmen.«

»Was ist denn das nur für ein Hund?«

»Ein Beduinenhund. Kein bevorzugtes Exemplar, sondern die ganze Race ist so. Hier haben Sie ein Beispiel, was der Mensch aus einem Thiere durch Erziehung machen kann. Aus dem Wolfe gewannen wir den treuen Hund. Aus dem Hunde hat der von der Jagd lebende Beduine der lybischen Wüste im Laufe vieler, vieler Jahrhunderte ein Thier geschaffen, welches – für welches ich keinen Namen habe. Kein Anlernen, keine Dressur, allein die Behandlung von Generation zu Generation ist es. Der Hund gehört zur Familie unter das Zelt. Denken Sie: wenn sich eine Hündin mit einem unebenbürtigen Hunde eingelassen hat, oder wenn man sonst den Vater nicht kennt, so werden ihr die Jungen im Leibe todt gedrückt, was gewöhnlich auch ihren Tod bedeutet. Ich habe viele Jahre unter den Beduinen gelebt, aber nur ein einziges Mal ist dieser Fall vorgekommen, und da habe ich gesehen, wie die gefallene Hündin stillschweigend ihre Leiden ertrug und stillschweigend starb. Nie kann ich es vergessen, nicht etwa, wie sie litt, sondern wie sie ihre Ehrlosigkeit wusste, und wie sie dann, durch ihre Sühne von der Schuld erlöst, als gerechter Beduinenhund verschied. Das war kein Hund mehr. Ja, die Ehre ist es! Wir ziehen den Hund auf Muskeln und Dressur, die Beduinen erziehen ihn zum Ehrgefühl. Wenn dagegen eine Hündin in aller Ehre entbunden wird, so ist der Jubel im Zeltlager unermesslich – doch nicht laut, die junge Mutter braucht Stille. Zuerst, wenn es ihr Zustand erlaubt, kommt der Scheich, gratulirt ihr – nicht dem Besitzer – hängt ihr etwa ein Perlenhalsband um. Dann kommen die anderen Honoratioren mit Glückwünschen und Geschenken. Schliesslich alle Beduinenfrauen, sie haben das schönste Geschenk hervorgesucht, sie bringen Kraftsüppchen, sie schmeicheln und bewundern die Jungen, und nun sollten Sie sehen, wie gravitätisch und stolz sich solch eine glückliche Hundemutter im Kindbett benimmt. So werden dann auch die Jungen erzogen.«

»Aber das ist ja Thieranbeterei!« rief Ellen.

»Nicht doch. Sie müssen bedenken, dass ein Paar solcher Hunde dort für den Ernährer einer grossen Familie gilt. Die Wüstenantilopen lassen sich nicht schiessen, das schnellste Pferd holt sie nicht ein, nur der Windhund, und zwei sind nöthig, das hakenschlagende Thier abzufangen. Jene Beduinen leben fast nur von der Antilopenjagd, daher wird der die Nahrung bringende Hund so verehrt. Wer ihn beleidigt, der beleidigt seinen Herrn; wer ihn schlägt, der verliert die rechte Hand; wer ihn tödtet, dessen Leben wird wieder gefordert. So ist das Gesetz der Wüste. Durch diese Hochachtung, welche man ihm entgegenbringt, ist dieser Hund entstanden. Wollen Sie meine besondere Ansicht darüber hören?«

»Ich bitte, ich interessire mich sehr dafür.«

»Sehen Sie Hassan an. Viele Jahre habe ich mich mit Beduinenhunden beschäftigt, vier Jahre speciell mit diesem Hunde, habe ihn beobachtet und studirt, und noch immer ist er mir ein Räthsel. Ich werde immer sagen müssen: ich weiss es nicht, ich glaube es nur, ich nehme es an. Ich weiss nicht, ob Hassan jedes meiner Worte versteht. Manchmal muss ich es fast annehmen, aber dann sträube ich mich wieder gegen den Glauben, diesem Hunde fehle nichts weiter als die Sprache und die menschliche Form, um ein Mensch zu sein. Nein, ein Thier ist es. Ich glaube das Geheimniss in etwas Anderem gefunden zu haben. Verliere ich etwas unterwegs, Hassan wird es mir nachbringen. Lese ich in einer Zeitung, der Wind entführt mir das Blatt, Hassan wird es mir ohne Aufforderung zurückbringen. Sage ich zu ihm: hole mir dies und jenes – und er kennt den Namen des Gegenstandes – er wird ihn mir sofort bringen. Das thut jeder gut dressirte Hund. Dieser Hund ist aber gar nicht dressirt! Hebe ich einen Stein vor ihm auf, werfe ihn fort – Hassan, hole ihn! – er wird mich erstaunt ansehen, warum ich denn den Stein erst fortwerfe, und wenn ich mein Verlangen mehrmals wiederhole, mehrmals Steine fortwerfe, würde er mich verlassen und irgendwo kläglich verenden. Ich weiss es, deshalb wage ich solch' ein Experiment gar nicht, ich habe es früher bei anderen Hunden probirt. Sehen Sie, als ich dies erkannte, da bin ich erschrocken gewesen. Was soll man davon denken? Ist dies nicht menschlicher Verstand, der Zweck von Zwecklosigkeit zu unterscheiden weiss? Ich habe so lange darüber nachgegrübelt, bis ich die Erklärung gefunden zu haben glaube. Wir sagen: der Mensch, und auch das höher entwickelte Thier, hat fünf Sinne. Solch' eine Eintheilung dürfte aber doch recht illusorisch sein. Wir haben offenbar noch mehr Sinne, wir sind uns dessen nur nicht bewusst, deshalb haben wir keine Bezeichnung dafür. Ich bin fest überzeugt, dass der Mensch mit seiner Entwickelung in der Cultur Sinne verloren hat. Ich will Sie in ein finsteres Zimmer stellen, Sie einige Male im Kreise herumdrehen, und Sie können mir nicht sagen, wo Ost und wo West ist. Thun Sie dasselbe mit einem Wilden, mit einem von der Jagd lebenden Indianer, und er wird Ihnen immer ganz genau angeben können, wo Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ist. Das ist der uns Culturmenschen verloren gegangene Orientirungssinn. Dann habe ich auch noch einen anderen Sinn erkannt, den ich den des Gleichgewichts nennen möchte. Ich kannte einen Mann, einen Ingenieur, ein grosser Turner und Radfahrer und vor allen Dingen ein sehr gewandter Salonmensch. Er wurde einmal zwischen einer Maschinerie am Kopfe gequetscht und musste hinter beiden Ohren operirt werden. Es hatte gar nichts zu sagen, er genas, sein Gehirn und Denkvermögen hatte nicht im mindesten gelitten, er war noch ganz derselbe Ingenieur. Auffallend war nur, dass er das Gehen erst wieder wie ein kleines Kind von Neuem lernen musste; auf einem Beine stehen konnte er nicht mehr; er besass noch dieselben Muskeln, dieselbe Beweglichkeit, aber mit dem Turnen war es für immer vorbei; nie wieder kam er auf ein Rad hinauf, er fiel immer herunter; und mit einem Male war er ein schüchterner, zaghafter Mensch geworden, der in der Gesellschaft den Mund nicht aufzuthun wagte, vor lauter Verlegenheit fortwährend Dummheiten beging. Aber dabei war er immer noch derselbe geistvolle Ingenieur. Er hatte den Sinn des Gleichgewichts verloren. Nun wieder zu dem Hunde. Durch jahrhundertlange Erziehung und Behandlung hat sich bei seiner Race ein besonderer Sinn entwickelt, welchen ich den der Sympathie nennen will. Das ist also eine Art von Ahnung, oder richtiger sehen ohne Auge, riechen ohne Nase, fühlen ohne Tastsinn: Meinetwegen mag man es auch Instinct nennen, obgleich dies gar nichts bedeutet. Ich nenne es Sympathie. Wenn man Hassan mit Zucker und Peitsche behandeln wollte, so würde man mit der Zeit sicher einen vorzüglich dressirten Hund aus ihm machen, aber ich bin überzeugt, dass er, wenn er über den Stock springen und Pfötchen geben kann, auch diesen besonderen Sinn der Sympathie wieder verloren haben würde. Ich sagte Ihnen schon,dass Hassan kein Wasser anrührt, in welches Jemand seine Hand getaucht hat, er braucht es gar nicht gesehen zu haben. Nun, das könnte er ja riechen. Dasselbe ist aber natürlich auch bei der Milch der Fall. Bei der Milch ist eine Berührung mit der Hand kaum zu vermeiden, sie wird gemolken. Das genirt den Hund nicht. Es trägt ihm Jemand Wasser oder Milch zu, die Schüssel kippt, seine Hand kommt mit der Flüssigkeit wiederholt in Berührung – der Hund trinkt sie ruhig. Sobald aber Jemand, oder auch ich selbst, hinter seinem Rücken, in einer anderen Stube, mit Absicht die Hand hineintauche, rührt er sie nicht mehr an. Woher er es weiss? Mir ist es unfassbar. Er ahnt es, er fühlt es, eben durch einen besonderen Sinn.«

»Das ist allerdings wunderbar,« sagte Ellen. »Da kann ich Ihnen eine Ergänzung geben. Einige englische Gelehrte haben jüngst ihre Beobachtungen über Vögel veröffentlicht; sie behaupten, dass die Vögel frisches Wasser nicht nur durch Gesicht und Geruch wahrnehmen.«

»Und da haben sie Recht. Ich selbst habe mich davon überzeugt bei durstigen Hühnern. Sie finden das frische Wasser immer, man mag den Saufnapf noch so gut verstecken, auch wenn man ihnen Nasenlöcher und Augen mit Wachs verklebt. Sie wittern es auf eine andere Weise. Nun aber etwas Anderes, was beweist, dass dieser Sinn, den ich meine, wirkliche Sympathie ist. Um wen ich mich nicht kümmere, um den kümmert sich auch Hassan nicht. Einmal hatte ich gegen einen Menschen einen Widerwillen, liess es mir aber nicht merken, durch kein Wort, durch keinen Blick. Plötzlich fing Hassan, was er sonst nie thut, zu knurren an, sobald sich dieser Mensch ihm näherte, und wehe ihm, hätte er ihn anzufassen gewagt. Ein anderes Mal hatte ich gegen eine Person eine herzliche Zuneigung gefasst. Sie ahnte es nicht, Niemand ahnte es, ich wusste meine Gedanken zu zähmen. Plötzlich war der Hund um diese Person herum, liebkoste sie, rieb sich an ihr – ich staunte selbst – Hassan hätte mich bald verlassen, um ihr zu folgen. Das ist Sympathie, er fühlt wie ich.«.

Ellen gab keine Entgegnung mehr, sie blickte zur Seite, die Lippen fest geschlossen.

Ja, dieser Mensch hatte durch die unnatürliche Ruhe, die er sich angeeignet, auch einen Sinn verloren, den man sonst von jeder gebildeten Person verlangt.

Wusste denn Starke gar nicht, wie beleidigend er einem jungen, feinempfindenden Mädchen gegenüber sprach?

Das hiess ja mit anderen Worten, auf gut deutsch gesagt: Du bist mir völlig schnuppe, das erkennst du aus dem Benehmen meines Hundes.

Nun, bei solch' einem originellen Charakter musste man eben ein Loch zurückstecken.

Ellen wandte das Gesicht wieder ihm zu.

»Bei derartigen Eigenschaften ist die Liebe des Beduinen zu seinem Hunde begreiflich.«

»Liebe? Es ist mehr Hochachtung. Freilich ist auch Liebe dabei, Freundschaftsliebe. Das ist es eben. Sie werden auch nicht von Ihrem Freunde verlangen, dass er zehnmal hintereinander den Stein apportirt oder aus Gefälligkeit eine ähnliche, den Menschen entsprechendere Handlung ausführt. Sonst ist er am längsten Ihr Freund gewesen. Das nennt man cujoniren. Allerdings, nach langer Trennung, da kann man auch bei dem ernsten, schweigsamen Beduinen und seinem stolzen Hunde die Liebe hervorbrechen sehen. Kommt er nach tagelangem Wüstenritt heim, so fliegt ihm der Hund entgegen, springt ihm in den Sattel und küsst seinen menschlichen Freund, und dieser drückt ihn ans Herz, überhäuft ihn mit Kosenamen – »du Sonne meines Lebens, du Weide meiner Augen, meine Braut, mein Glück, meine Seligkeit«. Dann eilt der Beduine zu seinen Pferden; auch diese wiehern ihm freudig entgegen, und dann erst kommen Kinder und Frau daran. Und sie haben Recht:

»Ein guter Hund, ein schnelles Pferd
Sind mehr als zwanzig Frauen werth.«

Plötzlich stand Ellen schnell auf, sprang auf ihr Rad und fuhr davon.

Starke zeigte keine Verwunderung, blickte ihr nicht nach; er erhob sich gemächlich, klopfte die Pfeife aus und schnallte den Gürtel ein Loch enger.

»Hassan,« sagte er dabei zu seinem Hunde, ebenfalls auf gut deutsch, »bei der sind wir Beide wieder mal in's Fettnäpfchen getreten.«


 << zurück weiter >>