Ernst Kossak
Prof. Eduard Hildebrandt's Reise um die Erde
Ernst Kossak

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XVI.

Die Tafel der Diener. Der Dampfer »Constitution«. Hirsch, der Achtzehnender. Cliffhouse. Ueber die Barre. Musterung des Schiffes. Meine Schlafburschen. Unser Marktplatz. Ein rothgedruckter Epilog. Menschen und Nummern. Kanonenkugel und Czako. Zwei Kugeln im Leibe. Ein bedenkliches Versehen. Die Höschen des Flügels. Guadeloupe. Ein Schweizerpaar.

»Was thut der Soldat am Tage der großen Parade zuerst?« fragte ein Unteroffizier den gelehrigsten seiner Schüler, und dieser antwortete ohne viel Bedenken: »Er putzt am Abend vorher seine Sachen!« Dieses vaterländischen Brauchs eingedenk, regelte auch ich nach meiner Heimkehr aus dem Atelier des Photographen und Aufhebung der Tafel im Hotel Ruß schon am 3. Mai meine Angelegenheiten; denn in den Morgenstunden des 4. Mai sollte der Dampfer »Constitution« nach Panama abfahren. Durch den Comfort des nordamerikanischen Lebens in kurzer Zeit wieder bequem geworden, hätte ich unmittelbar nach Tisch gern die Hilfe eines Domestiken beim Packen der Koffer in Anspruch genommen, allein mein Klingeln blieb unbeachtet; Niemand erschien. Verdrießlich stieg ich in das Erdgeschoß und den Speisesaal hinab; die Ursache der Vernachlässigung 223 meiner Signale war nur allzuklar. In einem Nebensalon saßen sämmtliche Domestiken des Hotels, in Gesellschaft der Dienstboten fremder Herrschaften, welche im Hause wohnten, an einer langen Tafel, nicht wie wir, je nach dem Geschlechte getrennt, sondern in bunter Reihe und munterer Unterhaltung, und ließen es sich wohl schmecken, während sie sich unter einander bedienten. Es war von meiner Seite ein unverzeihlicher Mißgriff gewesen, die guten Leute in ihrer Freistunde zu stören. Tief beschämt schlich ich in mein Gemach zurück und wartete geduldig das Ende des Schmauses ab, ehe ich wieder zur Klingel griff.

Um acht Uhr Morgens am 4. Mai war die Hotelrechnung bezahlt, das Gepäck geordnet, der Mantel gerollt, ein Fiaker fuhr vor und ein Boot brachte mich in wenigen Minuten an Bord des Dampfers. Mit Einschluß der Bollwerksgebühren hatte ich sechs Thaler zu zahlen. Es blieb mir keine Zeit, darüber nachzudenken, denn unmittelbar darauf mußten im Bureau der »Constitution« 175 Dollars für die Fahrt von San Francisco bis Panama erlegt werden. Unverhohlen bekannt, war ich froh darüber, nicht von Abschied nehmenden Verwandten und Freunden begleitet zu sein; das Getümmel auf dem Verdeck des riesigen Schiffes war ohnehin unübersehbar.

Gegen zehn Uhr wurde dreimal, wie in Bellini's »Norma«, an das auf Deck hängende Gong geschlagen, ein Signal: daß alle nicht mitreisenden Anwesenden das Schiff zu verlassen hätten; nun begannen die erschütterndsten Abschiedsscenen. Ringsum ertönte Wehklagen und Schluchzen, erschallten leidenschaftliche Versicherungen ewiger Liebe und Treue, untermischt mit wohlgemeinten Rathschlägen zur 224 Erhaltung der Gesundheit und dringenden Aufforderungen, »umgehend« zu schreiben. Unter einem wilden Gewühl von Männern, Frauen und Kindern, einer wahrhaft babylonischen Verwirrung vieler Sprachen, dem Geflatter von zahllosen weißen Taschentüchern von Seiten beider Parteien, wurde das Deck geräumt, die letzten Worte, die noch von der Schiffstreppe in mein Ohr drangen, waren die vaterländischen Laute: »theurer Hirsch!« Sie gingen verloren; der Achtzehnender befand sich nicht in meiner Nähe. Er war es, wie spätere Nachforschungen ergaben. Dann donnerte ein Kanonenschuß und langsam setzten sich die ungeheuren Schaufelräder der »Constitution« in Bewegung; in dem Schiffsdickicht bedurfte die Leitung des Dampfers der höchsten Vorsicht. Wir lassen die Küste des Goldlandes und den Hafen hinter uns, passiren Cliffhouse, eine Gruppe von Felsklippen unweit des Strandes, wo die, hier nicht von Jägern verfolgten Seelöwen sich furchtlos auf abgeplatteten Steinen sonnen, und unzähliges Vogelwild unbehelligt Nester baut und Eier legt; dann dampfen wir durch die »goldene Pforte« in das offene Meer hinaus. Vorher müssen wir noch über die Barre der Bay. Der Wellenschlag vor Madras und San Francisco ist einzig in seiner Art und der Anblick der furchtbar hohen See, die vor der hiesigen Barre steht, wird auch den kaltblütigsten Seemann nicht gleichgültig lassen. Von dem Castell eines Dampfers, wie die »Constitution« konnte man unbefangener dreinschauen, aber wie mußte den beiden Lootsen zu Muthe sein, die, jeder allein in seinem winzigen Boote, uns voranfuhren, und um einen Verdienst von zweihundert Dollars ihr Leben daransetzten. Die Brecher rückten, riesigen 225 blaugrünen Krystallmauern ähnlich, regel- und ebenmäßig vorwärts, immer in einem bestimmten Moment stürzte, so weit rechts und links das Auge reichte, diese aufgethürmte Wasserlast mit furchtbarem Getöse in eine stäubende, mehrere hundert Fuß weit hinschießende Schaummasse zusammen. Von den Passagieren genossen nur wenige das erschütternd erhabene Schauspiel; die große Mehrzahl war schon bei unserer Annäherung an die Barre der Seekrankheit erlegen und in den Cabinen verschwunden. Die »Constitution« hatte das richtige Tempo getroffen und kam glücklich hinüber, ohne den Grund zu berühren; vor den Wellen selber waren wir bei der Höhe der Schiffswände vollkommen sicher. Nach Ueberwindung dieser letzten Schwierigkeit schießt der Dampfer pfeilgeschwind ungefähr drei Meilen in den Ocean hinaus, um freie Fahrt zu gewinnen und steuert erst dann südlich. In nebelgrauer Ferne versinkt nördlich das Tafelgebirge, in angemessener Entfernung von der Constitution tummeln sich Wallfische mit ihren Kälbern und Seelöwen, Tausende von weißen Seemöven folgen, vertraulich wie Tauben, unserem Schiffe und scheinen sich den Tafelabhub bei Zeiten sichern zu wollen; ich benutze die verhältnißmäßige Ruhe an Bord zu einer Inspection des Dampfers.

Er zählt 4000 Schiffstonnen Gehalt, und die Maschinerie vermag die Kraft von 1000 Pferden zu entwickeln. Noch ein Raddampfer nach alter Art, ist er doch in allem Uebrigen nach dem neuesten System der nordamerikanischen Schiffsbaukunst eingerichtet. Die Länge beträgt 400 Fuß, die Breite 70 Fuß, und alle Räumlichkeiten sind so zweckmäßig angelegt, daß incl. der Mannschaft 2000 226 Personen untergebracht werden können. Von hinten aus betrachtet, glaubt man sich auf dem Dache eines Glaspalastes zu befinden. Die »Constitution« trägt weder Masten noch Segel; auf zwei hohen Flaggenstangen, dem einzigen Schmuck des Verdecks, flattert das Sternenbanner der Vereinigten Staaten. Um auch für etwaige kritische Vorkommnisse gerüstet zu sein, stehen auf dem Vorderdeck auf Drehscheiben neben einander zwei Armstrong-Geschütze von ungeheuerlichem Caliber; wehe dem Piraten, dem unter Wasser eine dieser Kugeln in den Bug fährt. Auf dem Hinterdeck erhebt sich das Glasdach, durch dessen Scheiben der Speise- und Gesellschaftssaal im ersten Zwischendeck sein Licht empfängt. Seine Umgebung ist durch ein sturmfestes, aber zierliches Dach vor Regen und Sonnenbrand geschützt und wird von den Passagieren erster Klasse als Wandelbahn benutzt. Der Saal ist 150 Fuß lang und 40 Fuß breit. Zur Bedienung der Geschütze ist ein Dutzend in den abenteuerlichsten Soldatenröcken steckender Artilleristen vorhanden, den Capitän umgiebt eine Leibwache, und sowohl bei Tage, wie bei Nacht, steht vor seiner Kajüte ein Posten mit geladenem Gewehr. Wir befinden uns unter Länge- und Breitengraden und unter einem Ragout von Menschen, die dem verantwortlichen Befehlshaber des Postdampfers fortwährende Vorsichtsmaßregeln gebieten. Um diese auch gegen elementare Unglücksfälle zu vervollständigen, ist die »Constitution« mit zwölf Rettungsböten neuester Construction ausgestattet. Jedes derselben vermag bequem hundert Mann, im Nothfalle und ohne Crinolinen also noch die Hälfte mehr aufzunehmen. Die Böte sind auf der Steuer- und Backbordseite gleichmäßig vertheilt; 227 vor und hinter jedem Radkasten hängen an zwei eisenbeschlagenen Balken in schönster Ordnung immer drei dieser Tröster in letzten Schiffsnöthen.

In Betreff meiner Stubenkameraden und Schlafburschen habe ich Glück gehabt; ich theile die, für fünf Personen eingerichtete Kabine nur mit zwei Herren, die sich, ungeachtet einer in New-York, der andere in New-Orleans ansäßig ist, trotz des Bürgerkrieges, wie die Engel im Himmel vertragen. Mehrjährige Reisen in Europa haben ihre rauhen Ecken abgeschliffen, und die dazu gehörigen Seefahrten ihre Empfänglichkeit für Anfälle der Seekrankheit abgestumpft, ein Umstand, der die Freuden unseres Beisammenseins wesentlich erhöht. Beide sind wohlbeleibte stattliche Männer vom Schlage des Brutus beim Shakespeare, in den besten Jahren und fröhlichen Temperaments. Politische Gegner, haben sie gemeinschaftlich mit mir auf das Wohl der »ausgesöhnten« Vereinigten Staaten eine Flasche guten Cognac geleert, der nota bene auch hier, wie jedes, nicht zur Ration gehörige geistige Getränk, immer erst nach Empfang baarer Bezahlung verabfolgt wird. Zur Erhöhung des Comforts haben wir ein förmliches Uebereinkommen getroffen. New-Orleans steht am Morgen um fünf Uhr auf, New-York um sechs Uhr; ich erhebe mich erst um sieben Uhr. Meine Bettstatt befindet sich parterre, und über mir schläft der Südstaatliche. Der Sonnenuntergang hinter schweren schwarzen Wolken verdarb uns nicht die Nachtruhe, kein Wetter stieg herauf, und der fünfte Mai brach unter einem dichtbezogenen grauen Himmel und dem frischen Athem einer Nordwest-Brise an.

Nach dem Frühstück setzte ich meine Entdeckungsreise 228 fort. Auf unserem Steamer giebt es Straßen und Plätze; der vorhandene Raum läßt sich nicht scharfsinniger ausbeuten. So liegt vor dem Speisesalon der Marktplatz der »Constitution«; man glaubt sich vor dem Kursaale eines kleinen Badeortes zu befinden. Um das dringendste aller Bedürfnisse seefahrender Nationen zu befriedigen, haben sich zwei Unternehmer von Grog-Salons etablirt, in denen das feurige Getränk zu jeder Tageszeit frisch gemischt wird. Zwischen ihnen liegt das sauber gehaltene Atelier eines Barbiers, gegenüber das eines Haarkräuslers, einige Schritte weiter treten wir in ein Bierlokal, wo uns ein auf Eis liegendes correctes Gebräu erwartet. In einer Obsthandlung erhält der Tourist Aepfel, in einem benachbarten Cigarrengeschäft, dem als Aushängeschild eine, in das Sternenbanner gewickelte Riesencigarre dient, die besten Glimmstengel. Die unmittelbare Nähe des Stiefel-Wichskabinets wird Niemand beanstanden. Jeder der Unternehmer muß an die Schiffscompagnie jährlich eine nach europäischen Begriffen unerschwinglich hohe Pachtsumme zahlen, und doch scheinen sie sämmtlich mit dem Ertrage zufrieden zu sein. Freilich entsprechen auch ihre Preise der Pacht und dem sonstigen californischen Tarife. Für die verschiedenen kleinen Genüsse erlegt der Reisende durchschnittlich 20 Sgr. nach unserem Gelde. Ein Apfel, eine Cigarre, ein Seidel Bier werden mit 20 Sgr. bezahlt; und eben so viel erhält der Barbier für die jedesmalige Abnahme des Bartes.

An der schriftstellerischen Präcision meines Passagierbillets wäre nichts auszusetzen, erregte nicht der rothgedruckte Epilog einige Besorgnisse. Seinem Inhalte nach übernimmt 229 die Schiffs-Compagnie außer der Gewähr täglicher Verpflegung und eines Platzes im Galazimmer (State room) nebst der Schlaf-Commode Nr. 3, keinerlei Verantwortlichkeit für Zufälle, die dem Reisenden im Verlaufe der Fahrt zustoßen können. Meine Kabinengefährten erläuterten mir den mißlichen Paragraphen, gestützt auf lange Erfahrungen ihrer Landsleute. So hätte ich nicht die geringsten Ansprüche auf Entschädigung, wenn die »Constitution« durch unberechenbare Naturereignisse bis an die Küste von Kamtschatka verschlagen würde! Betrachtet die Compagnie das Individuum selber mit so wegwerfenden Blicken, so werden seine Habseligkeiten vollends für nichts angesehen. Einbuße an den Reise-Effecten oder gar ihr Verlust wird nicht vergütet, sogar die Verpflichtung der Compagnie: den Reisenden für das gezahlte Geld wirklich nach Panama zu schaffen, ist nicht wörtlich in dem Passagier-Billet anerkannt. Da der Mairegen den Tag über anhielt, hatte ich vollauf Zeit, trübe Reflexionen über unser mögliches Schicksal anzustellen.

Mit zwei Maschinen von 1000 Pferdekräften kommt man indeß rasch vorwärts; die »Constitution« fährt mit der Schnelligkeit eines hungrigen Haifisches die Westküste von Amerika entlang nach Süden. Schon am 6. Mai, als wir unter dem 30. Breitegrade eintrafen, war die Veränderung der Temperatur zu verspüren. Die zunehmende Wärme verbietet die Einhaltung der von meinen Schlafburschen und mir vereinbarten Tagesordnung; wir sind heute um sechs Uhr gleichzeitig aus den Betten gesprungen und auf das Deck geflüchtet. Erst um 9 Uhr wird gefrühstückt, es bleibt uns daher nichts übrig, als zum 230 Tabak unsere Zuflucht zu nehmen. Die beiden Amerikaner rauchen zwar nie vor dem Frühstück, und nennen diese deutsche Angewohnheit, die ich unter gewöhnlichen Verhältnissen auch meinerseits nicht vertheidigen will, garstig; nüchtern Tabak zu kauen, halten sie dagegen nicht für anstößig.

Unsere Reisegesellschaft ist eine aus allen Gegenden des Erdballes zusammengewehte Menschenspreu. Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, England und Amerika, sogar Peru, die Mosquitoküste und Newfoundland, haben ihr Contingent geliefert. Auf die Nationalität wird jedoch weiter keine Rücksicht genommen; die englische ist die allgemeine Umgangssprache. Eben so wenig kommen die Namen in Betracht, die Passagiere werden gleich den Sträflingen in den Bergwerken Sibiriens, nur mit den Nummern, und zwar mit denen ihrer Tischplätze, bezeichnet; so figurirt meine Wenigkeit unter der Ziffer 123; will der Steward zu meinem genaueren Signalement ein Uebriges thun, so fügt er hinzu: »Schlafcommode Nr. 3.« Heut früh sprach er mich auf dem Deck an und sagte: »Nr. 118 ließe sich nach meinem Befinden erkundigen und Nr. 95, wie ich in der letzten Nacht geschlafen habe?« Mein Tischnachbar zur Linken, Nr. 122, ein pockennarbiger Franzose, hat in New-Carolina ein beträchtliches Vermögen erworben und kehrt jetzt in sein Vaterland zurück, um die Neige seines von Leberkrankheiten verkümmerten Daseins in Paris zu genießen. Er trinkt aus Patriotismus Medoc, sieht aber sonst wie ein Lohgerber aus. Auf meinem rechten Flügel sitzt Nr. 124, ein angeschossener, pensionirter General der Vereinigten Staaten. Er ist vor einem halben Jahre 231 durch den schweren Streifschuß einer Spitzkugel am Kopfe verwundet worden, hat aber die Blessur bei seiner kräftigen Constitution glücklich überstanden. An der linken Seite der Stirn sieht man noch die tiefe Furche, welche die Kugel in die Kopfhaut und Schädelwölbung gerissen hat. Aus seinem confusen Gespräch erlaube ich mir einen Schluß auf die Beeinträchtigung seiner Denkkraft durch die furchtbare Verletzung. Unser vis-à-vis, gleichfalls ein General, gefällt sich in der Rolle des militärischen Buffo. Er renommirt mit den überstandenen Lebensgefahren und spricht gern von einer Kanonenkugel, die einst seinen Czako durchbohrt. Glücklicherweise habe er am Tage des Gefechts eine Feldmütze getragen; die Kugel sei nur queer durch sein Zelt und den Czako geflogen. Wer die Geschichte nicht glauben will, kann in der Kabine des Generals Kugel und Czako in Augenschein nehmen. Um das Maaß der Aufschneiderei voll zu machen, will der tapfere Krieger durch dieses Ereigniß nervös so hart mitgenommen sein, daß die Aerzte ihm eine Luftveränderung anempfohlen haben. Der Befehlshaber unserer Schiffssoldaten, ein Lieutenant, ist sein Nachbar zur Rechten. Er hat nach seiner Behauptung diese Stelle, welche für einen Ruheposten angesehen wird, durch zwei Kugeln verdient, die er noch im Unterleibe mit sich umherträgt, und erzählt unglaubliche Dinge von den Leiden, welche ihm diese Ueberfahrt bei dem Wechsel des Windes und feuchter Witterung verursacht. Der Uniform nach, die in einem blauen Rocke mit Orange-Vorstoß besteht, könnte man ihn für einen preußischen Briefträger halten. Unter den Tischgenossen haben Viele Kinder oder Verwandte in dem unseligen Bürgerkriege verloren; er bildet 232 unausgesetzt den Gegenstand des Gesprächs. Der Conversationston an sich kann nicht angenehmer sein. Ein General will nicht respectvoller behandelt werden, als ein reicher Geschäftsmann, und ein Bierkellner oder Bäckergehilfe hält sich für ebensoviel als Beide, ohne doch die Höflichkeit außer Augen zu setzen; aus dieser scheinbaren Gleichheit der Gesellschaft entspringt eine heitere Ungezwungenheit der Unterhaltung, die ich sonst nirgends angetroffen habe.

In der Nacht vom 6. zum 7. Mai lieferte ich durch ein lächerliches Versehen ausgiebigen Stoff für die »Chronique scandaleuse« des nächsten Tages. Ich war um zwei Uhr aufgestanden, um das herrliche Meeresleuchten, einen siebenzig Fuß breiten glänzenden Phosphorstreifen in dem Fahrwasser der »Constitution«, zu beobachten, und durch den magischen Schimmer so geblendet, daß ich, in dem tiefen Dunkel des Zwischendecks umhertappend, in die unrechte Kabine gerieth. Nichts ahnend, streckte ich mich auf dem Lager aus, das ich für das meinige hielt, preßte aber dadurch einem warmen Gegenstande ein leises Stöhnen aus, sprang erschrocken auf und machte mich spornstreichs davon. Das Glück lächelte mir, ich vernahm, da der drückenden Hitze halber alle Kabinenthüren offen standen, das Schnarchen unseres südstaatlichen Stubenburschen und kroch schweigend in meine Höhle, froh unangenehmen Verwickelungen entronnen zu sein. Barbiere colportiren auch auf Dampfschiffen alle Neuigkeiten, und so erfuhren wir schon am Morgen die interessante Begebenheit. Der stöhnende warme Gegenstand war ein Frauenzimmer gewesen und hatte bereits über die Störung der nächtlichen Ruhe beim 233 Kapitän Klage geführt, war aber abgewiesen worden, da sich der Attenthäter nicht ermitteln lasse und sich schwerlich aus freien Stücken melden werde. Sicher vor Entdeckung, lachte ich bei Tisch von Herzen mit. Wäre ich erwischt, oder später entdeckt worden, mein Loos wäre ein von der Gesellschaft ausgesprochener Bannfluch gewesen, selbst wenn ich mich durch ein, in der tiefen Dunkelheit sehr verzeihliches Versehen entschuldigt hätte. Die Nordamerikaner verstehen keinen Spaß, wo es sich um die Aufrechthaltung des Decorums und um die gegen Damen unter allen Umständen zu beobachtende Höflichkeit handelt. Hat man doch die drei Palixander-Beine des in der Staats-Kajüte stehenden Flügels mit leichten Gazehöschen bekleidet! Selbst für ein Pianoforte ist es nicht anständig, mit bloßen Beinen in Gesellschaft zu erscheinen.

Am 7. Mai Nachmittags dampften wir in einiger Entfernung an der Insel Guadeloupe vorbei. Ihre Berggipfel erheben sich bis zu 3000 Fuß Höhe, sind aber nur von einigen Hirten und Ziegenheerden bewohnt. Meine Bekanntschaften suchte ich an diesem Tage durch einen Besuch unter den Passagieren zweiter Klasse zu erweitern. Bald hatte ich ein biederes Schweizer-Paar aufgefunden, das mir ohne Weiteres sein Herz erschloß. Vor dreizehn Jahren waren sie nach New-Orleans, und von da nach den californischen Goldminen gegangen, hatten aber nach Abzug des Lebensunterhaltes in diesem langen Zeitraume nicht mehr erübrigt, als zur Deckung der Reisekosten in die Heimath hinreichte. Nach der Behauptung der guten Leute wären mit Händearbeit keine 234 Reichthümer mehr zu erwerben: andere Schweizer hätten ihr Heil in Speculationen mit Grundstücken versucht und allmälig große Capitalien angehäuft. Nicht vermögender, als sie abgereist, kehrten die Alten, gebeugt und ergraut, in ihr vaterländisches Thal zurück; sie wollten im Schatten seiner Berge begraben sein. 235


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