Ernst Kossak
Prof. Eduard Hildebrandt's Reise um die Erde
Ernst Kossak

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VII.

Fliegende Ameisen. Meuterei und Blattern. Die Piratenstraße. Zopftoilette und Zopfspiel. Die Barbiere und ihre Kosmetik. Verkrüppelte Füße. Der Fächer. Verfehlte Sprach- und Schreibstudien. Das Drachenfest. Todesgedanken und Unruhen.

In der Annahme des längeren Ausbleibens der Gazelle mache ich mich auf einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in Hongkong gefaßt und treffe danach meine Vorkehrungen. Die Arbeit im Freien wird nur zu meinem gerechten Kummer durch das Klima des unglücklich gelegenen Ortes erschwert. Die Seebrise ist durch die Bergwand im Rücken der Stadt abgesperrt, und die Hitze mahnt mich oft genug an die Temperatur von Calcutta und Bangkok. Meine Achtung vor den asiatischen Insecten steigt mit jedem Tage; die Vielseitigkeit dieses Geschlechtes, höher organisirten Wesen Leiden zu bereiten, ist unerschöpflich. In meiner Häuslichkeit habe ich bei der Ordnung und Reinlichkeit einer annähernd europäisch organisirten Wirthschaft über das Ungeziefer keine Klagen zu führen, denn selbst die Cockroaches zeigen sich nur einzeln, als Versprengte; die letzten regnerischen Tage haben uns eine neue Plage gebracht. Die Ameisen befinden sich in ihrem Umwandlungsprozeß, und 86 durch alle Fenster dringen dichte Wolken der jetzt geflügelten Insecten. Zwar plagen sie uns nicht mit Stacheln, aber auch ihre unbewaffnete Zudringlichkeit ist unerträglich. Sie bestehen hartnäckig auf ihrem Niederlassungsrecht im menschlichen Gesicht und sind, da sie sich in ihren gegenwärtigen geselligen Neigungen immer paarweise ansiedeln, schlechterdings nicht zu vertreiben. Es bleibt zuletzt nichts übrig, als sich durch ein Selbstmaulschellirungs-Verfahren ihrer zu entledigen.

Die Unsicherheit der hiesigen Zustände wird mir täglich zu Gemüthe geführt; ungeachtet der englischen Gerichtshöfe fühlt man das Walten des Faustrechts heraus. So kamen am 19. Mai allein zwei Prozesse wegen Meuterei auf Schiffen europäischer Rheder vor. Auf dem ersten hatten die Matrosen und der Steuermann dem Capitain mit Gift nachgestellt, auf dem zweiten war der Steuermann von der chinesischen Mannschaft in's Wasser geworfen worden. Fälle von See- und Straßenraub stehen in Hongkong auf der Tagesordnung. Um dergleichen Verbrechen möglichst zu verhindern, ist den Chinesen verboten, sich in dem europäischen Stadtviertel nach acht Uhr Abends und vor Sonnenaufgang in den Straßen sehen zu lassen. Nur mit gut beleumundeten Personen wird eine Ausnahme gemacht, doch sind auch sie verpflichtet, ihre Legitimation bei sich zu tragen.

Fast kein Schiff kommt in unseren Hafen, das nicht irgend eine Unannehmlichkeit an Bord mitbrächte. Am 25. Mai traf der »Prinz Regent« aus Stettin ein. Der Steuermann und ein Matrose hatten sich auf der Ueberfahrt mit dem Capitän veruneinigt und ihm die Arbeit gekündigt. 87 Sie treten alsdann in die Kategorie der Passagiere, büßen ihren Gehalt ein und haben später die genossene Verpflegung aus eigener Tasche zu bezahlen; liegt keine Meuterei vor, so sind sie weiter nicht straffällig. Ein Hamburger Dreimaster brachte am nächsten Tage die Pockenepidemie mit und wurde daher sogleich im Quarantainehafen abgesperrt. An statistischen Berechnungen fehlt es, aber nach den von Blatternarben zerrissenen Gesichtern, die mir in den chinesischen Städten begegnet sind, muß die Krankheit im himmlischen Reiche furchtbar grassiren. Unsere Besorgnisse steigen, da das eben von Singapore anlangende Dampfschiff die Nachricht bringt, der nächste französische Postdampfer habe eine Menge Pockenkranker an Bord. Der am 25. Mai gefeierte Geburtstag der Königin Victoria konnte in diesen Calamitäten als eine erfreuliche Episode angesehen werden. Abends fünf Uhr fand eine Parade statt, auf der eben so eifrig kanonirt, wie musicirt wurde. Von den beiden Musikbanden blies die der Seapoys noch am besten, während das Gebläse der Engländer unter aller Kritik war. In den Musikcorps der Truppen in Indien und China habe ich als Directoren noch überall Deutsche wiedererkannt.

Mein Lieblingsausflug in Hongkong ist ungeachtet aller Warnungen nach der Piratenstraße gerichtet. Sie verdankt diesen wenig einladenden Namen einigen Mordthaten und vielen Raubanfällen, die sich ihre Bevölkerung hat zu Schulden kommen lassen. Die Piratenstraße zieht sich die Höhe hinab und mündet hart am Meeresstrande, so daß man von hier aus einen ziemlich vollständigen Ueberblick genießt. Ich pflege mir daher bei der Reichhaltigkeit des malerischen Materials hier unter meinem Malerschirm regelmäßig ein 88 fliegendes Atelier einzurichten, und habe keine Ursache, mich über die Chinesen zu beklagen. So oft ich unter ihnen gearbeitet habe, niemals ist mir etwas Unangenehmes begegnet. Zuweilen rückte ich sogar weiter in die Straße hinauf und gerieth dann unmittelbar in das wirthschaftliche Treiben der Einwohner, ohne von ihnen behelligt zu werden. Für höfliches Betragen ist der Chinese überaus empfänglich; ich befleißigte mich daher immer der größten Zuvorkommenheit und habe reichliche Früchte geerntet. Oft war ich Augenzeuge ihrer Toilette.

Die Appretur der Zöpfe hat mich häufig Stunden lang beschäftigt. So viel ich zu ermitteln vermochte, datirt die Sitte, diesen eigenthümlichen Kopfschmuck zu tragen, erst aus der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts; heute ist der Zopf das unentbehrliche Abzeichen jedes unbescholtenen Chinesen. Schon von den zartesten Kinderjahren an wird der auf dem Wirbel wachsende Haarschopf sorgfältig gepflegt, während man den ganzen übrigen Kopf spiegelglatt rasirt. Unter der guten Cultur gedeiht der angehende Zopf prächtig und reicht in den Jünglingsjahren bis in die Kniekehlen, ja zuweilen bis auf die Waden. Der Chinese mag noch so arm sein, seinen Zopf wird er niemals vernachlässigen. Reichen seine Mittel nicht zur glänzenden Ausschmückung hin, so sucht er wenigstens durch Verlängerung und Vergrößerung seines Umfangs des Zopfes Ansehen zu erhöhen. Er flicht auf der Straße gefundene Tauenden, Bindfäden und Strohseile hinein, und weiß ihm trotz dieser elenden Zuthaten ein leidliches Exterieur zu geben. Der Dandy widmet einen weit beträchtlicheren Theil seines Lebens der Pflege des Zopfes, als seine 89 europäischen Gesinnungsgenossen der Cultur des Haupthaares, des Backen- und Schnurrbarts. Das radikale Umflechten des Zopfes zum Behufe seiner Galagarnitur kann einen ganzen Vormittag beanspruchen; es ist weit leichter, eine Damenfrisur zum Balle in Ordnung zu bringen. Der Zopf spielt denn auch eine sehr wichtige Rolle in den Manieren eines jungen Weltmannes. Der diesseitige Elegant tändelt und kokettirt mit seinem Spazierstöckchen, seinem Nasenkneifer, er zeigt seine schöne Hand, indem er sich an der Cravatte, dem Halskragen etwas zu schaffen macht; der Chinese von Ton bedient sich zur Ausübung dieser gefallsüchtigen Künste nur des Zopfes. Bald trägt er ihn wie einen Schleppsäbel unter dem linken Arm, bald wie eine Reitgerte in der Rechten, er läßt ihn in der Luft wirbeln und weiß damit fliegende Käfer und Schmetterlinge zu treffen. Hunde und Katzen werden kurzweg mit dem Zopfe gezüchtigt, und dann wieder in der gesellschaftlichen Unterhaltung die zierlichsten Spiele mit demselben getrieben. Für eine empfindsame Schöne mag es schwer sein, dieser Koketterie Widerstand zu leisten. Wäre unseren Stutzern die verführerische Gewalt des Zopfspieles bekannt; sie würden sich unfehlbar dieses chinesische Leibmöbel aneignen. Ein junger Mann von Phantasie könnte bei unserer Kleidertracht überdies noch die Frackschöße zu Hülfe nehmen, z. B. auf Bällen in Cotillontouren die eigenthümlichsten Combinationen zu Stande bringen und ähnliche malerische Effecte, wie Künstler im antiken Costüm durch sein berechnete Drapirung erzielen.

Gelegenheit zum Studium der höheren Zopftoilette wird mir in der Piratenstraße zwar nicht geboten, desto 90 häufiger bin ich Augenzeuge der üblichen Kopfrasur. Gewisse Gewerbe drücken ihren Angehörigen unter den verschiedensten Himmelsstrichen doch dasselbe Gepräge auf. Die deutschen und chinesischen Schuster gleichen einander hinsichtlich ihrer philosophischen Beschaulichkeit, und die Schneider beider Nationen entwickeln gern dieselbe cavaliermäßige Leichtigkeit des Benehmens und der Rede, auch der hiesige Barbier ist seinen europäischen Berufsgenossen nicht unähnlich. Die weite chinesische Hose, die in Ermangelung der Tragebänder nur mit einem Gürtel um den Leib befestigt wird, der lange Ueberwurf oder Kaftan und die zolldicken Filzsohlen der Fußbekleidung verhindern ihn allerdings an dem flüchtigen sprungweisen Fortschritt, der den deutschen Bartkünstler kennzeichnet, dennoch sticht er durch größere Beweglichkeit von seinen Landsleuten ab. Der chinesische Barbier schreitet rasch durch die Straßen und balancirt kokett seinen Apparat, Messer und Scheerbeutel, an den beiden Enden eines Bambusstäbchens auf der Schulter. Er darf nicht zögern, wenn er alle seine Kunden bedienen und den eigenen Lebensunterhalt gewinnen will. Sein Rasirmesser hat nur geringe Aehnlichkeit mit den unsrigen; es besteht aus einer dreieckigen Metallplatte, die sich handlich an einem hölzernen kurzen Griffe bewegt. Wie an einem Beile verdünnt sich die Schärfe nur allmälig, und bei der Dicke des Eisenstücks hält man es gar nicht für möglich, mit der verhältnißmäßig plumpen Schneide die kurzen Haarstoppeln abzusäbeln, und doch kommt der Barbier in kurzer Zeit zum Ziele. Ein Messer, das ich später in Peking einem alten Bartkratzer gleich nach vollbrachter Operation abgekauft, ist, obgleich total verrostet, noch heute so scharf, daß ich damit einen Streifen Postpapier in der 91 Luft zu schneiden vermag. Der Kunde läßt sich auf einem Bänkchen nieder, sein Schädel wird eingeseift und in fünf Minuten ist rings um die Kopfbasis bis an die Augenbrauen jede Haarspur vertilgt. Der Verschönerungsprozeß ist indessen damit noch nicht beendet. Mit der Glättung und Politur der Schädelwölbung wird die Reinigung der Sinneswerkzeuge verbunden. Der Barbier zieht anderweitige Instrumente hervor und säubert Ohren, Augen und Nase. Er geht ganz erbarmungslos zu Werke, in den Ohren stochert er mit einem mit Wiederhaken versehenen Spatel umher, die Augen und Nase werden mit einem oben gerundeten Blechstreifen ausgekratzt. Das Honorar für das gesammte Verfahren beträgt nach unserem Gelde 3 Pfennige. Gewiß hängen die in China so oft vorkommenden Augenleiden mit diesem abscheulichen kosmetischen Verfahren zusammen. Die Kunden äußern nichtsdestoweniger damit ihre Zufriedenheit; das Nervensystem der Chinesen ist straffer besaitet, als das unsrige. Nach der Versicherung europäischer Aerzte haben sie auch bei den schmerzhaftesten Operationen noch nie von einem ihrer hiesigen Patienten einen Seufzer gehört; selbst die Kinder besitzen so viel Selbstüberwindung, ihren Schmerz zu verbeißen.

Bei meinen Malerstudien gewahre ich so Manches, was für gewöhnlich den Blicken der Fremden entzogen wird. Ich rechne dahin die kleinen Krüppelfüße der Chinesinnen, die sie höchst ungern ohne die übliche Bandage zeigen. Als ich in der Nachbarschaft einer Familie, die eben ihr Frühstück: Fische, Reis, dicke Milch und Gemüse, aus einem Dutzend winziger Schüsseln einnahm, meinen Schirm aufgespannt hatte und eifrig zu arbeiten anhub, bemerkte ich plötzlich, 92 daß die Hausmutter ihre Füße aus dem engen Futteral zog, das ich kaum einen Schuh zu nennen wage, und eine kleine Wunde bepflasterte. Der verunstaltete Fuß glich einem Huf. Der Landessitte nach werden beide Füße der kleinen Mädchen im dritten oder vierten Lebensjahre mit Bandagen und Bambusscheitern förmlich geschient, bis sie diese Zwerggestalt annehmen. Es ist mir unbegreiflich, weshalb man selbst in den unteren Ständen, die doch ihr Leben lang auf ausdauernde Arbeit angewiesen sind, die Töchter auf eine Weise verstümmelt, die ihnen Bewegung und Beschäftigung über alle Maßen erschwert. Wie oft habe ich die Frauen der Gärtner an ihren Stöcken umherhumpeln oder schneckenartig auf den Knieen zwischen den Beeten hinkriechen und Unkraut ausjäten gesehen. Unter den Tartaren hat die Unsitte nicht um sich gegriffen, die Füße ihrer Frauen sind wohlgebildet und ihre Gangart ist so elastisch, wie die einer Pariserin. Aller Mühsal ungeachtet sind die Chinesinnen stolz auf diese Fußstümpfe. In der poetischen Landessprache heißt das verstümmelte Glied Küm-leen d. h. goldene Wasserlilie. Haben sich die Einwohner der Piratenstraße bei meinen häufigen Besuchen an meine Anwesenheit gewöhnt, oder finde ich Gnade vor den Augen der Damen; beide Geschlechter bedienen sich des Fächers, den der Chinese immer zur Hand hat, in der zwanglosesten Weise. Wir pflegen nur die Gesichter mit Hilfe dieses Instrumentes zu kühlen, hier zu Lande sucht man auch anderen Körpertheilen, die der Anstand dem öffentlichen Anblick zu entziehen gebietet, frische Lust zuzufächeln. Herren und Damen raffen zuweilen hastig ihre langen Gewänder empor, und erquicken sämmtliche 93 Extremitäten durch ein lindes Fächerspiel, das, wie ich nicht leugnen will, hinsichtlich seiner verführerischen Anmuth mit dem der schönen Italienerinnen keinen Vergleich aushält.

Zuweilen arbeite ich auf dem Verdeck der Schiffe. So begab ich mich in den letzten Tagen des Mai an Bord eines englischen Dreimasters, der auf hoher See unlängst ein Abenteuer mit Piraten zu bestehen hatte. Es war ihnen gelungen, sich nach Einbruch der Dunkelheit so lautlos zu nähern, daß die Mannschaft von ihren vier Kanonen keinen Gebrauch mehr machen konnte, sondern froh sein mußte, sich gegen die von allen Seiten das Verdeck ersteigenden Seeräuber ihrer Haut zu wehren. An der Kajüte entspann sich ein Handgemenge, in dem der Capitän und sechs Matrosen um's Leben kamen; von den Chinesen wurden fünfundzwanzig erstochen oder erschossen. Sobald die Piraten 2000 Dollars und mehrere Opiumkisten bei Seite gebracht hatten, suchten sie eilig das Weite und verschwanden im Dunkel der Nacht, wiewohl man mit Kanonen hinterdrein feuerte. Die Ordnung an Bord kann ich nicht rühmen. Ueber mir im Mastkorbe wurde gearbeitet, und hätten die beiden Spieren, welche von oben herabstürzten, statt der Hutkrämpe meinen Schädel getroffen; ich hätte den Landsleuten vielleicht Gelegenheit zu einem feierlichen Leichenbegängniß gegeben. Auf einem anderen englischen Schiffe wohnte ich der Verladung einer kostbaren Theesendung bei. Die erste grüne Theeernte ist jetzt vorüber und man stellt den Versuch an, die neuen Sorten zum ersten Male mit einem Dampfer nach Europa zu schicken. Früher bediente man 94 sich dazu schnell segelnder Klipper; der Schraubendampfer faßt tausend Schiffstonnen, und die Fracht für jede Tonne beträgt zwölf Pfd. Sterling. Dennoch hofft der Speculant, indem er allen Concurrenten auf dem Londoner Markt mit seinen Thee's den Rang abläuft, einen erklecklichen Gewinn in die Tasche zu stecken.

Laut Zeitungsberichten war die Gazelle am 2. März in Rio Janeiro angelangt, ich werde mich also wohl noch mehrere Wochen gedulden müssen. In den Mittagstunden steht die Sonne gegenwärtig direct über unseren Scheiteln, und selbst im tiefsten Schatten findet man keinen Schutz vor der glühenden Hitze. Mit meiner in Bangkok wankend gewordenen Gesundheit geht es rasch bergab. Alle Eßlust ist verloren gegangen, ich sitze halbe Tage lang im Winkel und starre gedankenlos vor mich hin, ein eiserner Gürtel umspannt meine Stirn, und in den Ohren brüllt es wie Geheul eines Orkanes. Zur Arbeit reichen meine Kräfte kaum noch hin, selbst meine abendlichen Bleistift-Notizen werden mir zur Last. Die einzige Erquickung gewährt mir die jetzt herangereifte Mangofrucht. Ich hatte sie während meines bisherigen Aufenthaltes in Indien und Siam noch nicht kennen gelernt. Die Erstlinge dieses Jahres sind für das Haus Siemssen von Manila herübergeschickt worden. In meinem Elende suche ich mich durch schüchterne Anfänge im Sprachstudium zu zerstreuen. Nur Bodenstedt war so glücklich, in Mirza Schaffy einen eben so gelehrten, wie talentvoll veranlagten Lehrer zu finden; ich muß mich mit einem verrunzelten Factotum begnügen, das sich im Pidjen Englisch nothdürftig mit mir verständigen kann. Was der Sonnenbrand noch nicht 95 angerichtet hat, das vollenden die chinesischen Vocabeln. Um sich diese Sprache einzuprägen, muß man mit ihrer Erlernung schon in den Jahren Hänschens und nicht erst in dem reifen Alter der Hanse beginnen. Mein Professore spricht die Wortsignaturen mit Gutturaltönen, Zisch- und Sprudellauten aus, ich suche durch peinliches Nachmalen der Kritzeleien meinem Gedächtniß diese Zeichen einzuverleiben, vergebens, sie bleiben nicht haften, ich bin weder im Stande, sie richtig nachzusprechen, noch aus der Erinnerung correct nachzuschreiben. Rede und Schrift sind in diesem Lande eine Wissenschaft, von der Jeder nach seinen Umgangskreisen und Hülfsmitteln einen bestimmten Theil erlernt, daher die unaufhörlichen Prüfungen der Beamten, welche selbst die unserer Gerichtsassessoren weit hinter sich lassen. Der Kuli vermag mit einigen hundert Worten seine ganze Gedanken- und Gefühlswelt auszudrücken. Der gebildete Mann reicht mündlich und schriftlich mit ungefähr 1000 Worten und Zeichen. Das höchste Ziel alles chinesischen Strebens ist der Besitz der Gelehrtensprache, aber nur den begabtesten Chinesen gelingt es, sich dieselbe vor zurückgelegtem fünfzigsten Lebensjahre anzueignen. Die besten Jahre des Daseins verstreichen über dieser unermeßlichen Gedächtnißarbeit, bei der alle productiven Fähigkeiten des Geistes brach liegen. Auch daraus erklärt sich die conservative Beharrlichkeit der Chinesen, die froh ist, von Generation zu Generation die literarischen Errungenschaften der Vergangenheit fortzupflanzen, aber vor jeder Neuerung und Vermehrung zurückschreckt.

Am 6. Juni kam ein Frachtdampfer der Firma Jardins u. Comp., des reichsten Hauses in Hongkong, von 96 Calcutta an, und brachte die erfreuliche Nachricht, die sehnlich erwartete Gazelle liege im Hafen von Singapore vor Anker. Der Dampfer hat für zwei Millionen Dollars Opium an Bord. Nur an Ort und Stelle kann man sich von der Großartigkeit des hiesigen Geschäfts eine richtige Vorstellung machen. Das Haus meines gütigen Wirthes hat jährlich 80,000 Dollars Unkosten, ehe es einen Cent verdient. Der jüngste Handlungsdiener im Comptoir, der nur zu Reinschriften der Briefe benutzt werden kann, bezieht immer noch 500 Dollars bei freier Station. Die jährlichen Unkosten des Hauses Jardins sollen sich gar auf eine halbe Million Dollars belaufen. Gedanken und Gespräche drehen sich ausschließlich um Geld und Waare.

Niemand entgeht seinem Schicksal; am 12. Juni bin ich dem Doctor in die Hände gefallen. Ich verschlucke täglich eine Dosis Pillen und spüle sie mit Kamillenthee hinab. Meine Schwäche hat so zugenommen, daß ich mich nur noch mit äußerster Mühe von einem Stuhl zum andern schleppe. Draußen ist der Himmel seit einem Monat fast immer mit einem schwärzlichen Wolkenvorhang verhüllt, und der Regen stürzt bei erstickender Hitze in Strömen herab. Meine einzige Erholung besteht nur noch darin, so oft das Wetter sich etwas erheitert, am offenen Fenster zu sitzen und auf das Amphitheater von Hügeln zu blicken, die sich zwischen dem Siemssenschen Hause und dem Pik erheben. Ueber einen dieser Hügel läuft die Straße und der bunte Menschenverkehr geräth nicht einen Augenblick in's Stocken; die majestätisch langsam vorüberreitenden Madarinen sind die Glanzpunkte dieser Aufzüge.

97 Zu meinem höchsten Leidwesen beginnt am 18. Juni das Drachenfest, eine der höchsten socialen und religiösen Feierlichkeiten der Nation. Ich hatte eine Einladung erhalten, nach Kanton zu kommen, und die Festtage dort zu verleben, aber bei meinem traurigen Gesundheitszustande mußte ich auf die Herrlichkeiten der großen Stadt verzichten. Die Tendenz des Drachenfestes ist die Versöhnung des Drachens, von dem nach den Vorstellungen des Volkes die Fruchtbarkeit der Felder, namentlich aber die Ergiebigkeit des Fischfanges abhängt. Zu Wasser sucht man den unsichtbaren Unhold durch sogenannte Drachenböte zu versöhnen, die, prächtig decorirt und oft mit einem halben Hundert Ruderer bemannt, längs der Küste auf und ab fahren und unter einer ohrenzerreißenden Musik Feuerwerk abbrennen. Durch die Straßen der Stadt wird in der Weise, wie die Elephanten und Kameele in unseren Opern, die Hülle eines aus Baumwolle, Pappe, Papier u. dergl. m. zusammengestoppelten Drachen auf den Köpfen der Kulis geschleppt. Unter Zetergesang und Schlägen des Tamtams schreitet die Bevölkerung voran oder folgt dem Gebilde. Das Fest währt mehrere Tage, doch verbietet mir mein körperliches Leiden, mich daran zu betheiligen; ich lerne jetzt die Freuden der Dysenterie kennen. Es ist mir kaum mehr möglich, mich durch das Zimmer zu schleppen. Die Anstrengung auch der leichtesten Lectüre vermag ich nicht zu ertragen; ich vegetire in meinem Lehnstuhl am Fenster, aber nicht immer wirkt die Aussicht erheiternd auf mein Gemüth. Die Sterblichkeit unter den armen Volksklassen ist groß und die vorbeikommenden Leichenzüge mahnen mich an das eigene Ende. Mit zitternden Händen warf 98 ich die Skizze des Leichenbegängnisses eines Proletariers auf das Papier. Der Sarg war roth angestrichen und mit einem Fetzen von gleicher Farbe bedeckt. Wie der Degen auf den Ueberresten eines Soldaten, lag obenauf – eine große Schaufel. Vier Kulis trugen die Bahre, zwei Musikmacher schritten voran und spielten auf einer Pfeife und Pauke; einige Straßenkinder liefen hinterdrein. Bei Begräbnissen bemittelter Leute sind alle Leidtragenden von Kopf bis zu Fuß in weiße Gewänder vermummt, die Leiche wird von Priestern und Klageweibern begleitet, die ihre Gesichter mit großen weißen Tüchern verhüllen, Opfergaben, aus gekochtem Reis und Schweinebraten bestehend, werden nachgetragen. Auf dem Kirchhofe wird regelmäßig eine Salve von Schwärmern abgebrannt. Die Neuigkeiten, die durchschnittlich nur in Schiffernachrichten bestehen, sind gleichfalls nicht dazu angethan, das Herz eines Kranken zu erleichtern. Mein junger Reporter bringt aus dem Comptoir nur Hiobsposten zu mir herauf. Allein am 23. Juni waren zwei Schiffe auf der Rhede vor Anker gegangen, die mit schweren Unfällen zu kämpfen gehabt hatten. Der Engländer war auf ein Korallenriff gelaufen, aber mit einem Leck davongekommen, nachdem die Passagiere schon die Böte bestiegen, dem Dänen waren Piraten zu Leibe gegangen, und lediglich seiner Ueberlegenheit an Geschütz hatte er die Rettung der Mannschaft und Ladung zu verdanken gehabt. Jetzt werden wir sogar in Hongkong von Unruhen bedroht. Unter der chinesischen Bevölkerung hat sich nämlich das Gerücht verbreitet, die nordamerikanischen Freistaaten seien mit Rußland ein Bündniß gegen England eingegangen, die Kaufleute verweigern daher die Zahlung der Rechnungen 99 und die Kulis die Arbeit, die bedrohten Engländer werfen zum Schutz der Viktoriastadt Schanzen auf; ich versorge mich für alle Fälle mit einem Säbel, versehe meinen Revolver mit frischer Ladung und singe mit halber Stimme dazu das Motiv aus Johann von Paris:

»Welche Lust gewährt das Reisen!« 100


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