Ernst Kossak
Prof. Eduard Hildebrandt's Reise um die Erde
Ernst Kossak

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XXI.

Die gepanzerte Kehrseite. Himmels-, Drachen- und Tigergarde. Ein neunjähriger Kaiser. Prinz Kung. Der Adel im himmlischen Reiche. Der Staatsanzeiger von Peking. Der Sprachmeister, mein Mentor. Dejeuner in der Pajode. Eine schwarz-roth-goldene Leiche. Diebe mit falschen Zöpfen. Schlauberger. Die Koch- und Speisestraße.

Einmal in Peking wollte ich, ermuthigt durch mehrmaliges Gelingen meiner Versuche, zu seltenen Sehenswürdigkeiten vorzudringen, nun auch das Wagniß unternehmen, der »verbotenen Stadt«, d. h. der kaiserlichen Residenz eine Visite abzustatten. Gleich dem strebsamen Rodrigo in Shakespeare's Othello that ich Geld in meinen Beutel, befahl dem Diener und dem mir attachirten Mongolen, mich zu begleiten und bestieg mein Leibroß Thisbe. Ich wußte, daß Se. kaiserliche Majestät von China hinter einer Separatmauer wohne, und hoffte außer dem Haupteingange noch ein Nebenpförtchen aufzufinden, dessen Wächter weniger für gute Worte, als für Geld sich bewegen lassen würde, mir den Eintritt und die Besichtigung, wenn auch nur eines Theiles der kaiserlichen Schloßanlagen und Appartements zu gestatten. Der um seine Sicherheit 292 besorgte Selbstherrscher hatte sich indessen vorgesehen. Seiteneingänge waren nicht vorhanden, die hohe Enceinte des Inbegriffs der kaiserlichen Wohnungen bildete ein geschlossenes Ganze; wollte ich hinein, so mußte der Angriff auf den Haupteingang unternommen werden. Thisbe gehorsamte mir denn auch, und schritt leichten Trittes mit arabischer Eleganz auf das Thor zu, aber meine beiden Begleiter fielen mir in den Zügel. Nach ihren angstvollen Zügen stand ich im Begriff, sie in ein Majestätsverbrechen zu verwickeln. Durch Winke gab ich ihnen zu verstehen, daß sie sich entfernen sollten, und ritt unbekümmert weiter; was ich von Mannschaften im Innern des ersten Hofes bemerkte, flößte mir keine Besorgniß ein. Ich vertraute als friedfertiger Mensch auf das Amulet einer gefüllten Börse. Mein Aussehen muß jedoch den chinesischen Krongardisten nicht Zutrauen erweckend erschienen sein, denn statt, wie es die Zuaven in den Tuilerien zu thun pflegen, dem Eindringling entgegenzutreten, und ihn mit einem höflichen: »on ne passe pas!« abzuweisen, rannten sie, ohne ein Wort zu verlieren, spornstreichs an die Thürflügel, und schlugen sie mir krachend vor der Nase zu. Nur so viel Zeit hatte ich noch, um zu bemerken, daß jene Wachtmannschaften, die der Defensive so beflissen waren, Panzer trugen. Eigenthümlicher Weise diente keine dieser glänzenden Metallplatten zum Schutz der Brust oder des Rückens; jeder chinesische Kürassier trug seinen Harnisch vielmehr auf einem Theile, der im ritterlichen Handgemenge Verletzungen von Hieb- und Stichwaffen am wenigsten ausgesetzt ist, und weniger in der Kriegswissenschaft, als im Rechtswesen und seiner Praxis in Betracht kommt. An 293 der Pforte abgewiesen, wandte ich Thisbe, und ritt langsam davon, in Speculationen versunken, auf welche Weise jene Tapferen wohl vorkommenden Falles zum Angriff schreiten, und sich gleichzeitig des gedachten Panzers als Schutzmittel bedienen mochten. Es blieb unmöglich, das Räthsel zu lösen.

Nach eingezogenen Erkundigungen und eigenen Beobachtungen gelang mir, so viel zu ermitteln, daß die kaiserlichen Leibwächter in drei Abtheilungen zerfallen, die Himmels-, Drachen- und Tiger-Garde. Letztere wird am meisten gefürchtet und pflegt angeblich die Schlachten zu entscheiden. Ihre Kämpfer sind mit großen sichelartigen Schwertern bewaffnet und dahin einexercirt, zwischen die Pferde der feindlichen Cavallerie zu schleichen oder zu kriechen, und Reitern oder Thieren »die Beine abzuschneiden«. Bei seinen Schießübungen legt der chinesische Infanterist den Kolben der Luntenflinte nicht an die Backe und zielt; er schießt, wie unsere Jungen, mit Flitzbogen und Pfeil, »im Bogen«! Ein Pfropfen wird nicht auf die Ladung gesetzt und da der Durchmesser der Kugel kleiner ist, als der des Laufes, würde erstere hinausrollen, wollte der Schütz mit der Waffe nach europäischem Brauch hanthieren.

Die verbotene Stadt oder Residenz liegt im Mittelpunkte der Tartarenstadt und lehnt sich nur mit einer Breitseite ihres Gevierts an die chinesische Stadt. Bei dem Ableben des Kaisers findet eine Erbfolge im Sinne europäischer Dynasten nicht statt. Der Sterbende ernennt seinen Nachfolger aus den Angehörigen der kaiserlichen Familie. Zuweilen wird der Sohn zu Gunsten eines 294 Neffen übergangen. Nicht Geburtsrechte sind bestimmend, sondern natürliche Anlagen, Klugheit und Sittlichkeit. Der jetzige designirte Kaiser war bei meiner Anwesenheit in Peking ein Knabe von neun Jahren und stand unter Vormundschaft seines Onkels, des Prinzregenten Kung. Nach dem trefflichen Stich einer Photographie, den ich mitgebracht habe, ist der Gesichtsausdruck des Prinzen Kung nicht intelligent, aber gutmüthig und etwas trübselig; die Nation hat von ihm weder viel zu fürchten, noch viel zu hoffen. Dem chinesischen Kaiser werden von den Landes-Angehörigen vielleicht größere Ehren erwiesen, als irgend einem anderen Staatsoberhaupte. Nach ihren religiösen Vorstellungen giebt es außer dem Himmel für die Seelen der gewöhnlichen Sterblichen noch einen kaiserlichen Extrahimmel. Dem entsprechend sind auch seine irdischen Titel von hochfahrender Art. Der Kaiser heißt »der Sohn des Himmels« und »die Blume der Vernunft«. »Landesväter« sind bekanntlich alle Regenten, aber der Kaiser titulirt sich nicht nur »Vater«, sondern auch »Mutter« des Reichs. Ein häufiges Epitheton lautet: »Dolmetscher der Verordnungen (Bestimmungen) des Himmels.« In seinen Reden und Proklamationen, die nicht mit Schwärze, sondern mit Zinnober gedruckt werden, liebt er es, den Mund voll zu nehmen und mit aufgedunsenen Phrasen um sich zu werfen.

»Ich, der Minister des Himmels, stehe über der Menschheit und bin verantwortlich, die Welt und das Volk in Ordnung zu halten. Unfähig zu schlafen, in Ruhe zu essen oder zu trinken, beladen mit Kummer und Angst, mit Leid und Sorge, mache ich meinem Volke bekannt, daß von 295 heute an . . . . .« folgt irgend eine bedeutungslose Verordnung. Der Kaiserliche Thron wird »Drachensitz« genannt und die gelbe Farbe ist ein Vorrecht des regierenden Hauses. Stirbt ein Kaiser, so haben alle Unterthanen des himmlischen Reiches dreihundert Tage hindurch Trauer anzulegen. Sie dürfen sich während dieser Zeit nicht rasiren, nicht verehelichen und kein Gastmahl veranstalten.

Ein Erbadel existirt in China nicht, alle Auszeichnungen müssen durch persönliche Verdienste erworben werden. Wie in der katholischen Kirche fromme und wunderthätige Personen nach hundert und mehr Jahren selig und heilig gesprochen werden und von diesem Zeitpunkt an eine höher geachtete Stellung in der Verehrung der Gläubigen und den Verzeichnissen der Kirchengeschichte einnehmen, ertheilt der Chinese seinem verstorbenen Groß- oder Urgroßvater, wenn sein Wissen und seine Tugenden allgemeine Anerkennung bei den Nachkommen gefunden haben, den Adel. Auch kann die Gelehrsamkeit oder Sittenreinheit der Söhne ihren Vorfahren die gleiche Auszeichnung verschaffen. Nach den Ansichten der Chinesen müssen die Ahnen eines im Staate hervorragenden Mannes gleichfalls hochbegabte Menschen gewesen sein. Die Erwerbung des Adels durch eine Geldzahlung ist den Chinesen durchaus unbekannt.

Die in Peking erscheinende einzige Zeitung der Chinesen ist ein eigenthümliches literarisches Produkt. Der Staatsrath oder das höchste Tribunal des Reiches hält seine Sitzungen im kaiserlichen Palaste, und seine neuesten Beschlüsse werden täglich, wie wichtige Actenstücke unserer Gerichtshöfe in den Hausfluren, in einem bestimmten Hofe ausgehängt. Von hier aus gehen diese Documente, seien 296 sie nun Gesetze oder geringfügigere Verordnungen, in den Besitz der Regierungs-Verwaltungen und Behörden von Peking über. Die wortgetreuen, von mehreren Beamten collationirten Copien werden in den Archiven der Büreaus aufbewahrt. Aus den Sammlungen aller dieser Schriftstücke, die von Zeit zu Zeit in Peking gedruckt werden und in freier Folge erscheinen, besteht der »Staatsanzeiger« von China. Die Leser in den Provinzen finden darin die Ordonnanzen der in Peking befindlichen sechs Ministerien, sowie der Militär-Befehlshaber, die Ernennungen, die Listen der Examina, die Promotionen der Mandarinen, die Richtersprüche und die Bestrafungen; eine Art Feuilleton bilden Notizen über Naturerscheinungen, die aus den Provinzen nach Peking gesendet werden. Das Jahres-Abonnement ist sehr billig, und beträgt nach unserem Gelde ungefähr drei Thaler.

Wenn seine anderweitigen Verpflichtungen es gestatten, mache ich kleinere Ausflüge in den Straßen von Peking gern in Gesellschaft des Sprachmeisters der englischen Gesandtschaft. Er führte mich in dem Glauben, ich sei mit dem Stande der bildenden Künste seiner Heimath nicht bekannt, zu einem geschätzten Maler der Hauptstadt, ohne mich durch die Leistungen dieses Meisters in Verwunderung zu setzen. Ich fand nichts als die bekannte Malerei auf Reispapier, doch schien der großstädtische Künstler etwas erfinderischer, als seine Collegen zu sein. Unter anderen Gräuelscenen, die eben abgebildet wurden, fiel mir ein Criminalverbrecher auf. Er hing in einem Schornstein und wurde lebendig geräuchert. In einem anderen Atelier bemalte man nur Papierlaternen, und doch hätte Leonardo 297 da Vinci oder Raphael sich nicht stolzer gegen uns gebehrden können, als dieser ungeschickte Pinsler. Ganz in der Nähe befand sich ein Tempel, dessen Besichtigung mir der Sprachmeister noch besonders anempfahl. Wir mußten erst durch lange Reihen kleiner Götzen mit fratzenhaften Gesichtern förmlich ästhetische Spießruthen laufen, ehe wir zu dem dickbäuchigen grinsenden Hauptgötzen der Pagode gelangten. Nach der Fülle der Opfergaben mußte der Gott bei dem Stadtviertel sehr gut angeschrieben stehen. Auf dem langen und breiten Altar standen Platten mit Schweinebraten, gerösteten Fischen, gekochten Gemüsen, Kuchen, Marzipan, Tabak und Pfeifen, die Priester luden uns ein, den Opfergaben zuzusprechen, und mein Mentor war, trotz seines Postens in einem vornehmen europäischen Haushalte, noch immer »Chinese« genug, um sich mit den handfesten Gottesgaben das Mittagessen zu verderben. Spaßhaft war das Gespräch eines Bekenners der Confuciuslehre, welcher seinen Freund, einen Buddhaisten, wegen dringender Geschäfte im Tempel aufgesucht hatte, mit diesem frommen Manne. Nach der Uebersetzung meines Begleiters begann es echt chinesisch mit Complimenten über die beiderseitigen Bekenntnisse.

»Was hast Du für eine herrliche Religion, mein alter Vater!« rief der Jünger des Confucius.

»Du irrst, mein Großvater, die Deinige ist viel schöner, als die meinige,« antwortete der Buddhaist.

So ging es mehrere Minuten lang fort, ehe die Herren auf den Geschäftsgegenstand kamen und wir uns empfahlen.

Gegen Abend mache ich gern einen Spaziergang auf 298 der Festungs-Stadtmauer, welche die tartarische Stadt von der chinesischen trennt. Mit Sonnenuntergang werden die tartarischen Thore geschlossen und Niemand kommt weder heraus, noch hinein. Das Schauspiel des ameisenartigen Gewimmels, kurz vor Beginn der Thorsperre, ist höchst ergötzlich. Sind die Thore geschlossen, so kehre ich auf ein Viertelstündchen in einem der kolossalen Speisehäuser ein, wo zu gleicher Zeit mehrere Tausend Tagelöhner, die von der Arbeit kommen, abgefüttert werden. Ein Besuch des alten, noch von den Jesuiten eingerichteten Observatoriums bot außer einer Totalansicht von Peking wenig Neues; ohnehin sind die noch vorhandenen Instrumente nicht mehr im Gebrauch. Doch benutzte ich den günstigen Standpunkt, ein vorüberziehendes Leichenbegängniß rasch abzukonterfeien. Die vorherrschenden Farben waren schwarz, roth, gold, und auf dem vergoldeten Sarge lag eine purpurrothe Sammetdecke. Zweiunddreißig Träger wechselten immer nach wenigen Minuten unter einander ab, die Leidtragenden trugen als Anzeichen höchster Trauer weiße Oberhemden, gleich unseren Chorknaben. Einige Jungen hielten Trommeln auf dem Rücken, die von Erwachsenen mit tiefbetrübten Gesichteru sehr nachdrücklich bearbeitet wurden.

Erlauben es die Mittel eines philosophischen Chinesen, so kauft er sich schon bei Lebzeiten einen luxuriös ausgestatteten Sarg und bewahrt ihn in seinem Wohnzimmer auf. Auch schenken sich Familienmitglieder an Hochzeits- oder Geburtstagen Prachtsärge. Hier erinnert das Chinesenthum an verwandte Züge der mittelalterlichen Romantik. Ueberaus geliebte Verstorbene behalten die Hinterbliebenen in luftdicht verschlossenen Särgen im Hause. Ihr Anblick 299 soll, wie unsere Marmorbüsten und Medaillons, an die mit ihnen verlebten frohen Stunden erinnern. Wenn man im Gesandtschaftshotel gut unterrichtet ist, spricht es für den Sittlichkeitszustand Peking's, daß Mordthaten überaus selten vorkommen, desto häufiger sind räuberische oder diebische Angriffe auf das Eigenthum. Eine geringe Gabe der Unterscheidung zwischen »mein und dein« ist dem chinesischen Volksstamm angeboren. Die strenge Criminal-Gerichtsbarkeit leistet zur Beseitigung des Uebels nur wenig. Der dritte Raub und Diebstahl wird in manchen Ländern mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe, in China mit Enthauptung bestraft. Das Leben steht nicht sonderlich hoch im Preise. Ist ein Gefängniß überfüllt, so werden, nur um zu räumen, einer ausreichenden Anzahl von Sträflingen die Köpfe abgeschnitten. In der Verschmitztheit haben es die Diebe aller Welt- und Handelsstädte sehr weit gebracht, doch scheinen die Talente von Peking allen anderen den Rang abzulaufen. Häufig kommt es vor, daß ein auf frischer That ertappter Verbrecher, wenn er von den Polizeibeamten der Landessitte gemäß am Zopfe gepackt und in Gewahrsam gebracht wird, diesen in der Hand des Häschers zurückläßt und entspringt. Da er gewöhnlich den Originalzopf schon durch frühere Bestrafungen eingebüßt, hat er sich einen falschen zugelegt, der in derartigen kritischen Fällen seinem Inhaber die besten Dienste leistet. Was die echten Zöpfe anlangt, ist es ein stereotypes Vergnügen des gemeinen Mannes und der Gassenjugend, zwei bis drei zusammenstehende und plaudernde Personen mit den Zöpfen zusammenzubinden. Es entsteht immer eine heillose 300 Verwirrung, wenn die Anstifter heulend unter die Zusammengekoppelten springen und diese zu Boden fallen.

Der November ist herangerückt, die Morgen und Abende werden kalt, und ich bemerke auffallende Veränderungen in der Garderobe der Stadtgenossen. Das unbezahlbar theure Pelzwerk, das in den Handlungen feilgeboten wird, kann bei seiner Kostbarkeit nur von Personen hohen Ranges getragen werden; die Mehrzahl der Chinesen sucht sich in der rauhen Jahreszeit auf andere Weise zu helfen. So lange die Hitze anhält, wird von dem Volke nur eine, bis zum Knie reichende, kurze Hose getragen, und Brust und Unterleib unbedeckt gelassen. Im September schützen die Chinesen beide durch eine Blouse. Nimmt die Kälte zu, so legen sie nicht dichtere wärmere Kleidungsstücke an, sondern ziehen nur Hose über Hose, Blouse über Blouse. Durch das Geschenk einer Manila-Cigarre bewog ich einen Kuli, mir eine Untersuchung seiner Garderobe zu gestatten; er trug acht Blousen und elf baumwollene Hosen über einander. In dieser Jahreszeit gleichen die auf dem Pflaster flanirenden Einwohner ausgestopften Popanzen. Etwas bemitteltere Personen verfügen über mannichfaltigere Kleidungsstücke. Sie bekleiden sich mit einer Blouse, deren lange Aermel die Handschuhe ersetzen.

Mein aus Shanghai gebürtiger Diener macht mir viel zu schaffen. Gleich in den ersten Tagen hatte ich mir in der Gesandtschaft ausbedungen, seinen Lohn aus meiner Tasche zu bezahlen, doch wäre es besser gewesen, mich mit dem englischen Haushofmeister zu verständigen, diesem das Geld auszuhändigen und die weitere Verrechnung mit dem Taugenichts zu überlassen. Als sich nach einigen Tagen 301 unseres Zusammenseins die Nothwendigkeit ergab, ihm, leichteren Commandos halber, einen Namen beizulegen, war meine Wahl schon getroffen. Ich hätte in das chinesische Vocabularium greifen und ihn Attai (Johann), Atchan (Wilhelm) oder Atchung (August) taufen können, in Betracht seiner geistigen Anlagen und moralischen Eigenthümlichkeiten entschied ich mich für den deutschen Namen »Schlauberger«, dessen Ruf er rasch Folge leistete. Die meisten Stunden des Tages außer dem Hause verweilend, mit Arbeiten beschäftigt, und dann nur von einem mongolischen Reitknecht begleitet, bin ich außer Stande, »Schlauberger« zu überwachen und zu controliren. Für meine wollenen Unterkleider zeigt er eine rührende Vorliebe. Heimlich trägt er meine rothwollenen Strümpfe und eine sammtne Mandarinen-Mütze; er theilt Alles mit mir, würde ich nicht letztere unter strengem Verschluß halten, selbst meine Baarschaft. Bringt er mir Morgens aus der Gesandtschaftsküche den trefflichen Kaffee, seit langer Zeit wieder einmal das Präparat einer sauberen, sorgsamen Frauenhand, so hat der schamlose Wicht die Hälfte bereits zu sich genommen. Seine Leidenschaft, in Peking den Dandy zu spielen, verleitet »Schlauberger« zu Ausgaben, die seine Kräfte übersteigen. Mehr als das Doppelte von dem, was ihm bis jetzt an Lohn zukommt, hat er von mir als Vorschuß herausgelockt, und ich bin darauf vorbereitet, mich von ihm mit einem starken Deficit zu trennen. Meinen Arbeiten gegenüber hat sich »Schlauberger« zu einem hohen kritischen Standpunkte emporgeschwungen; gleich unnachsichtig bin ich noch von keinem europäischen Kunstrichter 302 behandelt worden. »Schlauberger« hudelt mich wie einen Sextaner.

Mit meinen Aquarellen kann ich es ihm niemals recht machen. Bald sind ihm die Augen der schönen Landsmänninnen nicht schief oder scharf genug geschlitzt, bald habe ich es in der Kleinheit der Füße verfehlt, dann ist wieder der Kopf nicht lang und dick genug. So sorgfältig ich in Nachbildung der Architekturen von Peking zu Werke gehe, und die wunderlich verschnörkelten, zum Hohne aller Gesetze der Schwerkraft und Mechanik ausgeschweiften Dächer der Tempel und Privatwohnungen mit unsäglicher Sorgfalt in meinen Aquarellen nachzuahmen suche, die Zufriedenheit Schlauberger's kann ich nicht erwerben. In seiner Seele steckt der chinesische Dämon der Verzerrung des Naturwahren, Ursprünglichen. Wäre er es im Stande, er würde selbst seine Gedärme auf eine andere Weise verflechten, als es dem großen Ordner der Organismen beliebt hat. Daß ihm die Berge nie hoch, die Bäume nie grün, die See nie blau genug ist, darf ich wohl nicht ausdrücklich bemerken. Ueber einen Complexus von Drachen und krampfhaft verkrümmten Katzen, der dem chinesischen Künstler wahrscheinlich ebensoviel Mühe gekostet hatte, als mir bei der Zeichnung, zuckte Schlauberger verächtlich die Achsel. In der Hoffnung, auch ein blindes Huhn finde bisweilen ein Gerstenkorn, lasse ich mir Alles von ihm gefallen.

Am 4. November machte ich mit Sir Frederic Bruce einen fast vierstündigen Ausflug durch die Stadt und ihre nächste Umgebung. Vortrefflich beritten hatten wir auch die weitesten Wegstrecken nicht zu berücksichtigen, und so galoppirten wir wohl drei Viertelstunden lang durch die 303 Ackerflächen und Gartenanlagen, die zwischen der Stadtmauer und den Straßen Peking's liegen, passirten ein Thor, dessen Name mir entfallen ist, und vermochten nun eine lange Mauerflucht mit ihren gigantischen Vorsprüngen oder Forts in der weiten Sandfläche zu übersehen.

»Denken Sie sich, Sie hätten die chinesische Mauer vor sich,« sagte Sir Frederic, dem ich mein Leid klagte, bei der Unsicherheit der Straßen von der anderthalbtägigen Reise bis an die mongolische Grenze abstehen zu müssen. »Ich werde Ihnen eine Photographie der Mauer zeigen,« fügte der Gesandte hinzu, »und Sie werden keinen wesentlichen Unterschied bemerken!«

Wir sprengten eine gute Strecke an dem riesigen Bauwerk entlang und benutzten dann, ermüdet durch die großartige Monotonie der Formation, das nächste Thor, um in das Innere Peking's zurückzukehren. Das Glück wollte uns wohl; wir kamen an einem Exercierplatz vorüber, auf dem die Tigergarde, angethan mit gestreiften Uniformen, ihren kriegerischen Uebungen oblag.

Hätte uns auch nicht ein englischer Cavallerist in rother Montur und ein mongolischer Reiter begleitet, Sir Frederic schien dem Chef der Tigergarde persönlich bekannt zu sein; der tapfere Befehlshaber unterbrach nicht die Uebungen der Mannschaft. Leider wurde uns das Schauspiel anderweitig verkümmert. Ein mongolischer Gaul riß sich, erschreckt durch unsere weißen Gesichter, von der Hand eines Reitknechtes los und rannte mit der Wuth eines Tigers gegen den englischen Cavalleristen. Nur der muthigen Gewandtheit unseres mongolischen Begleiters hatte der verdutzte Europäer, dessen Streitroß wild aufbäumte, seine 304 Rettung zu danken. Mit einem dicken Kantschu hieb der Mongole dem anstürmenden Gaule, der, um sich beißend, mit den Vorderhufen den Engländer aus dem Sattel schlagen wollte, mit solcher Gewalt über die Nase, daß er stolpernd in die Knie stürzte und wieder am Zügel festgehalten werden konnte. Unsere edlen Thiere wurden unruhig, und wir suchten im raschen Galopp das Weite. Die chinesische Raumverschwendung gestattete uns, sie weit ausgreifen zu lassen.

Mit drei französischen Missionären, welche die Tracht von Mandarinen angelegt hatten, wurden weiterhin einige artige Worte gewechselt. Nicht oft genug kann wiederholt werden, daß man sich in Europa vor allen Illusionen über die Erfolge der Missionäre zu hüten habe. Die christianisirten Chinesen in Peking sind als die raffinirtesten Betrüger in der ganzen Stadt verschrieen. Bald darauf durchkreuzten wir eine Straße, in der unter freiem Himmel gekocht und dinirt wurde. In großen Kesseln brodelte eine chaotische Suppe, und vor Hunderten von reihenweise aufgestellten Eimern hockten arme Chinesen und stillten ihren Hunger. Der in der Mitte freigelassene Weg war nur schmal; ich bat meine Begleiter, absteigen zu dürfen, um zu Fuß den Garküchen näher zu kommen; der Mongole hielt mein Pferd. Die in den Eimern dampfende Speise bestand aus einer Olla potrida, wie sie annähernd im Don Quixote beschrieben wird. Für zwei oder drei Cash – ich konnte im Gedränge die einzelnen Münzen nicht unterscheiden – erhielt der Kunde die Erlaubniß, mit seinem Löffel in diesen flüssigen Brei von Fleischfetzen, Reis, Wurst, Gedärmen, Leber und Gemüsen zu fahren und so viel zu 305 essen, als er vermochte. Nur eine kritische Auswahl unter den Leckerbissen war nicht gestattet. Gern wäre ich noch etwas weiter geschritten, allein der Knoblauchsgeruch, mit dem das Universalgericht angemacht war, der zugleich die ganze Straße verpestete, trieb mich von dannen und zu den wartenden Reitern zurück. 306


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