Ernst Kossak
Prof. Eduard Hildebrandt's Reise um die Erde
Ernst Kossak

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XX.

Durch die Vorstadt Sandnest und die östliche Bequemlichkeit in die Stadt Peking. Palast Jang kung fu. Sir Frederic Bruce. Herr Bismarck. Die verbotene Stadt. Thisbe. Die Tempel des Himmels und der Erde. Eiserne Cash. Fliegende Spielhöllen. Praxis zu Pferde.

Die letzte Meile vor den Thoren, welche durch die Vorstadt »Sandnest« führt, wird unser Karren nur noch von dem Gedränge der Reiter und Fußwanderer fortgeschoben, endlich erreichen wir ein hohes gewaltiges Doppelthor und rollen oder wälzen uns vielmehr auf dem unbeschreiblich schlechten Pflaster in die uralte Hauptstadt des himmlischen Reiches. Das gastliche Thor heißt »Oestliche Bequemlichkeit«, und ich führe gleich zur Charakteristik der chinesischen Terminologie die Namen einiger Hauptthore an. So giebt es eine »Niederlassung des Friedens«, eine »Bekanntmachung gerechter Grundsätze«, eine »Ewige Niederlassung«, eine »Siegreiche Tugend«, eine »Westliche Bequemlichkeit« und ein »Räuberbesänftigungs-Thor«. Wenn die Masse der Menschen und Thiere noch fester zusammengekeilt werden konnte; so war dies jetzt der Fall. Aus dem wahnsinnigen Getümmel 277 tauchten lange Reihen von schwer beladenen Dromedaren auf, und ich war froh, als der Kutscher in eine Seitenstraße bog, und ich nicht mehr in Gefahr schwebte, bei einem Fall von der Gabeldeichsel todt getreten zu werden. Schon jetzt war mir die Pracht der breiten Hauptstraßen aufgefallen; viele Häuser glichen kunstvoll geschnitzten Möbeln und waren von der Schwelle bis zum Dachfirst schwer vergoldet. Wir brauchten noch eine volle Stunde, ehe der Karren vor dem englischen Gesandtschaftshotel hielt.

Auf Grund des mehrfach erwähnten offenen Briefes von Lord Russel empfing mich der Gesandte, Sir Frederic Bruce, ein Bruder des seitdem verstorbenen Vicekönigs von Indien, Lord Elgin, mit großer Zuvorkommenheit, und erklärte mir, er zähle mich während meines Aufenthaltes in Peking zu seinen Haus- und Tischgenossen. Sogleich bemächtigte sich meiner der ehrfurchtsvoll lauschende Haushofmeister, denn hier wird auf hocharistokratisch nationale Weise Hof gehalten, und führte mich in das mir eingeräumte kleine Gebäude, links hinter den drei Häusern, welche Sir Frederic bewohnt. Ich muß vorausschicken, daß das englische Gesandtschaftshotel, der Palast Jang kung fu, früher von einem kaiserlichen Prinzen bewohnt wurde, und seiner ganzen Bauart nach dem, Europäern unzugänglichen Palaste des jetzigen Kaisers von China entspricht. Der sogenannte Palast bildet ein von einer hohen Mauer umgebenes Oblong, das mit einer Menge kleinerer oder größerer, mehr oder minder reich ausgestatteter Baulichkeiten angefüllt ist. Innerhalb der Mauer befinden sich neben der Pforte links die Stallungen, rechts die Wache und der Portier. Durch den unvermeidlichen Triumphbogen gelangt 278 man in die drei hintereinanderstehenden und durch Pfeilergänge verbundenen Wohnhäuser des Gesandten. Diese sind mit Ausnahme der, nach dem Eingange gelegenen Vorderseite von zahlreichen einstöckigen Gebäuden umgeben, in denen die Gäste und Secretäre, die Diener, Kutscher und Köche des Gesandten wohnen. Jang kun fu ist genauer betrachtet mehr ein kleines Stadtviertel, als ein Palast, eine Citadelle, die sich unter Umständen, wenn auch nicht gegen schweres Geschütz, sehr wohl vertheidigen läßt. Die von Sir Frederic bewohnten Räume sind das reichste und eleganteste, was ich von chinesischer Architektur und Ornamentik gesehen habe. Alle Wände und Decken bestehen aus dem feinsten Schnitzwerk und sind theils reich vergoldet, theils mit herrlich glühenden Farben bemalt oder lackirt. Von feinstem Geschmack sind die Glas- oder Papierfenster, von vollendeter Arbeit und Sauberkeit die Matten des Fußbodens. In diese Galagemächer denke man sich die ersten Mandarinen des Reiches in ihren, von Gold starrenden Seidengewändern, wenn sie dem Gesandten officielle Besuche abstatten, und man wird sich mein Staunen auszumalen vermögen.

Der Haushofmeister führte mich in das, nur wenige Schritte hinter dem dritten Hauptgebäude liegende »Gasthäuschen« und stellte mir zu gleicher Zeit einen, aus Tientsin gebürtigen, nach Möglichkeit englisirten chinesischen Diener zur Verfügung. Wer beschreibt mein Entzücken, als ich an den, mit dem comfortabelsten Geschirr und dem feinsten Leinenzeug bedeckten Waschtisch trat, und mich der Schmutzerei, der verbogenen Blechschüssel des Argus erinnerte, der monumentalen Unflätherei in der 279 Halbwegskneipe und dem letzten Nachtquartiere! Ich schickte meinen dienstfertigen Zöpfling aus dem Gemach und stürzte mich lechzend in die riesige blau geblümte Wagschaale; ein Baden wars, kein Waschen mehr, zu nennen. Außer einem Vorzimmer stehen mir zwei reizende, europäisch bequem ausgestattete Gemächer zu Gebote. Nach einer flüchtigen Umschau in der Nachbarschaft und Vollendung der vorschriftsmäßigen Toilette, schlug die Stunde des Diners. Sir Frederic war der liebenswürdigste Wirth, jeder Zoll ein Gentleman. Hochgebildet, voll Geist und Humor, hat er große Reisen gemacht und sich jenen weltmännischen Ton angeeignet, den keine Vornehmheit, kein Reichthum allein dem Menschen anbilden. Der Gesandte fragte mich nach meinen letzten Reiseabenteuern und ich hatte keine Ursache, mit meinen Erlebnissen auf dem Argus hinter dem Berge zu halten. Sir Frederic war außer sich, manche Einzelheiten mußte ich ihm zwei bis drei Mal wiederholen, und nicht selten wandte er sich an seinen, hinter ihm stehenden chinesischen Sprachmeister und übersetzte ihm meine überstandenen Leiden in die Landessprache. Er rieth mir, als unumgänglich nothwendig zum Schutz für andere Reisende und Abstrafung der Gaunergilde, den Rheder des Argus zu verklagen; nur so könne ferneren gleichartigen Gräueln vorgebeugt werden. Eines Schadenersatzes von tausend Dollars könne ich gewiß sein, auf eine energische Verwendung der Gesandtschaft dürfe ich mit Bestimmtheit rechnen. Es wurde mir schwer, dem erzürnten Diplomaten auseinanderzusetzen, daß meine karg gemessene Zeit mir verbiete, das Ende des voraussichtlich langen Gerichtsverfahrens abzuwarten, ich herzlich gern auf jede Geldentschädigung 280 verzichte und vollkommen zufrieden sei, ihn von den erlittenen Mißhandlungen in Kenntniß gesetzt, und so zum Besten meiner Nachfolger beigetragen zu haben. Das stolze Rechtsgefühl des vornehmen Mannes war nicht zu ueberreden, ich erzürnte ihn fast durch meine Weigerung, die Schelme zu verklagen, zuletzt ließ er sich sogar zu der Aeußerung hinreißen: Rheder und Capitän verdienten, an den Raaen ihres eigenen Schiffes aufgehängt zu werden. Sir Frederic ließ sich erst zur Nachgiebigkeit bewegen, als ich ihn an seine selbsterlebten Seeabenteuer erinnerte. Vor einigen Jahren hatte er, damals noch Attaché, an der afrikanischen und brasilianischen Küste zweimal Schiffbruch gelitten. Endlich gelang es mir im Rauchsalon, die Laune des Gesandten bei einer Partie Billard und einer Pfeife Latakia vollkommen wiederherzustellen; ich kann mir nachrühmen, auf dem Haupte des versoffenen Argus-Capitäns feurige Kohlen gesammelt zu haben.

Mein Bette verdient eine besondere Lobrede; nach den Nachtlagern auf der Argusmatratze und dem von fröstelndem Ungeziefer wimmelnden Kachelofenpritschen verstehe ich erst jetzt den Tiefsinn der alttestamentarischen Redensart von einer »Ruhe in Abrahams Schooß.« Ohne meinen chinesischen Sancho hätte ich den ganzen nächstfolgenden Tag verschlafen. Er weckte mich zur rechten Zeit, denn Sir Frederic hatte ihm aufgetragen, mich zu einer Tour durch die Stadt aufzufordern, er selber wolle mich für spätere Ausflüge orientiren. Nach dem Tiffin stiegen wir zu Pferde und schon nach hundert Schritten sah ich ein, wie recht der Gesandte hatte, wenn er es für einen Träger europäischer Chaussüre und sauberer Inexpressibles unmöglich erklärte, 281 in den Straßen von Peking fortzukommen. Das Pflaster besteht zwar aus mehrere Fuß dicken, langen und breiten Steinblöcken, doch sind durch den Verkehr von Jahrhunderten so tiefe Geleise hineingefahren und die Steine selber so oft geborsten, daß der Fußgänger bei der mangelhaften Straßenreinigung an feuchten Stellen durch tiefe Schmutzschichten und Spalten zu waten gezwungen ist, während er in trockenen Regionen von dem steinkohlenähnlichen Staube fast erstickt wird. Mit dieser Vernachlässigung aller Wege contrastirt die namenlose Pracht der Häuserfronten; mir lachte das Herz im Leibe bei dem Anblick dieser phantastischen Wunderwerke. Die Erwachsenen liefen hinterdrein, die Kinder und Hunde flohen vor uns, zuweilen zogen wir die Zügel an, und verweilten vor den Unterhaltungen des gemeinen Volkes. In besonderes Erstaunen versetzte mich ein alter Eckensteher, um den sich ein zahlreiches Publikum versammelt hatte. Dieser steckte eine Schlange in den Mund und zog ihren Kopf durch die Nase, so daß die Hälften des Thieres aus beiden Organen herabhingen und sich bewegten. Dann wechselte er, schob die Schlange in die Nase und zog ihren Kopf aus dem Munde hervor. Das jüngere China schien sich an dem Scherze nicht satt sehen zu können.

Auf deutschen Umgang werde ich in Peking verzichten müssen. Der einzige, in der Kaiserstadt lebende, gegenwärtig in Tientsin befindliche Landsmann ist Herr Bismarck, ein junger Preuße, der sich schon seit mehreren Jahren für die chinesische Consulatscarriere vorbereitet und gründliche Kenntnisse in der Landessprache und ihrem Dialecte aneignet. Wie groß die Mannigfaltigkeit derselben 282 und ihre Schwierigkeiten sind, erfahre ich aus dem Umgange mit meinem Diener, er stammt aus Tientsin, kann sich aber mit den Bewohnern von Peking nur sehr mangelhaft verständigen, ausgebreiteter ist seine Kenntniß der englischen Sprache; er versteht zwei und zwanzig Worte und kann dreizehn davon selber sprechen. Ich habe ihn der Merkwürdigkeit wegen ordentlich zu Protokoll vernommen, und seinen Vocabelschatz gebucht. Wir befleißigen uns Beide in der Unterhaltung nothgedrungen möglichster Sparsamkeit.

Peking – die Chinesen sprechen den Namen »Peh-tsching« aus – hat einen Umfang von fünf geographischen Meilen, die Länge der Stadt beträgt deren anderthalb, die Breite eine Meile; die Zahl der Einwohner, bei dem Mangel aller statistischen Grundlagen eine schwierige Abschätzung, wird auf drei Millionen angegeben. Die Stadt zerfällt in zwei Hälften, die tartarische und chinesische; in ersterer hat die kaiserliche Majestät ihren Wohnsitz aufgeschlagen. Ihr, dem englischen Gesandtschaftshotel ähnliches, von hohen Mauern umgebenes Quartier heißt die »verbotene Stadt.« Die geschweiften Dächer derselben, wie die aller gleichartigen Paläste, sind mit gelbglasirten Ziegeln gedeckt, die im Sonnenschein wie Gold glänzen; ihre Verzierungen bestehen an allen Ecken und Enden ausschließlich aus Drachengestalten. Der Plan der Stadt ist im Ganzen regelmäßig, alle Hauptstraßen erstrecken sich von Norden nach Süden, oder von Osten nach Westen. Die Uebervölkerung macht alle Spaziergänge äußerst mühselig, aber eben so unterhaltend. Ich tummle mich rastlos unter diesem Potpourri von Medicinverkäufern, Auctionatoren, 283 Geschichtenerzählern, Wahrsagern, Bettlern, Feuerfressern, Spielbanquiers, Schlangenbändigern, Sängern und Aussätzigen umher. Ungemein achtsam muß der Flaneur auf die Lastträger, die Kuli's sein, welche ihre Bürde auf den Schultern an den Enden einer Bambusstange balanciren und den Warnungsruf: Lo! Lo! mit dumpfem Magenton vorausschicken. Immer der dritte Mann trägt Dungstoffe aus der Stadt; dieses ökonomische Volk sammelt selbst Bartabfälle vom Rasiren, wie abgeschnittene Nägel, und verkauft sie an Gärtner. Zuweilen mache ich meine Ausflüge zu Pferde, hänge an interessanten Punkten die Zügel über den Arm und werfe rasch eine flüchtige Skizze auf das Papier. Bei dem ersten Versuch, mit dem Rücken gegen ein Haus gelehnt, eine Aquarelle anzufertigen, wurde ich von dem Getümmel überrannt; als berittener Landschafter erfreue ich mich besserer Erfolge. Einmal hatte ich mich etwas weiter als gewöhnlich verlocken lassen, ich wußte nicht aus noch ein, da der Himmel mit dichten Wolken bedeckt und es unmöglich war, die Himmelsgegenden zu erkennen. Zuerst zog ich meinen selbstverfertigten »kleinen Chinesen in der Westentasche« hervor und sprach die Frage aus, nach welcher Richtung der Stadt das Gesandtschaftshotel läge? Dann zeigte ich den Umstehenden die Schriftzüge selber. Sie verstanden meine Aussprache eben so wenig, wie die Signaturen; was thun? Ich nahm meinen kleinen Tuschkasten, zeichnete das Hotel und die große englische Flagge, dann colorirte ich sie grell mit den Nationalfarben und reichte das Blättchen umher, aber selbst jetzt verstand mich Niemand. Das Volk starrte mich an und stieß seltsam girrende Vogellaute aus; endlich gerieth ich 284 auf einen gescheidten Gedanken. Ich beschloß, meiner Rozinante, einem ehemaligen Paraderosse Sir Frederics, welches das Gnadenbrot genießt, die Auffindung des Rückwegs allein zu überlassen. Thisbe, eine arabische Fliegenschimmel-Stute, hat ihre schönsten Jugendjahre in Indien verlebt, sich später in Peking vervollkommnet, und ist mehr als »militärfromm«, d. h. »chinesenfromm« geworden. Das treue Thier steht oft zehn Minuten lang unbeweglich und läßt mich zeichnen, jetzt steckte ich das Portefeuille in die Busentasche, streichelte und klopfte den seidenglänzenden Hals des edlen Thieres; Thisbe schien mich zu verstehen. Sie spitzte die Ohren, schnupperte, unbehindert von dem losen Trensezügel, in der Luft umher und setzte sich langsam in Bewegung. Von seinem Instinct geleitet, hatte das kluge Roß den kürzesten Weg gewählt; eine halbe Stunde später stand Thisbe vor der Pforte des Gesandtschaftshotels und stieß ein leises Wiehern aus. Thisbe war durch Straßen geschritten, die mir bis dahin vollkommen unbekannt geblieben waren. Der Gesandte lobte das kluge Thier, als ich ihm Abends beim Thee mein Abenteuer erzählte und Thisbe's seltenen Ortssinn schilderte.

Der alte Fliegenschimmel weiß in Peking offenbar besser Bescheid, als der Droschkenkutscher, mein Diener und ein berittener Mongole, der hinterher reitet und meinen Einlaß in die Tempel des Himmels und der Erde befürworten soll, die ich am 31. October zu besuchen gedachte. Ehe meine Begleiter die richtige Fährte aufgefunden, hatten wir uns dreimal verirrt. Die Protection des mongolischen Cavalleristen war überdies nicht stichhaltig. Hätte ich mir nicht mit klingender Münze den Weg gebahnt, wir wären von 285 der Schwelle zurückgewiesen worden. Dem Wortlaut des Gesetzes nach sind die Tempelwächter von furchtbaren Strafen bedroht, wenn sie Europäern den Einlaß gestatten, aber ein reichliches Trinkgeld überwindet in China selbst die Todesfurcht. Ebenso ist der Eintritt dem weiblichen Geschlechte verwehrt. Beide Tempel sind von einem melancholischen Cederhain umgeben und geräumiger und großartiger stylisirt als die meisten gottesdienstlichen Gebäude, die ich bis dahin kennen gelernt habe. Der Tempel des Himmels ist ein Unicum. Nur einmal im Jahre wird er vom Kaiser besucht, der darin sein Gebet verrichtet und sich schweigend entfernt. Niemand sonst darf in diesen Hallen seine Kniee vor der Gottheit beugen. Ungeachtet Sir Frederic mir gleich am ersten Tage dringend gerathen, nie Almosen zu ertheilen, weil ich sonst während meines ganzen Aufenthaltes in Peking das Bettlergesindel auf dem Halse behalten würde, hatte ich mich doch verleiten lassen, einem unglücklichen Aussätzigen ein Dutzend Cash zu reichen. Die Folge war, daß unser Gesandtschaftshotel am 1. November von einem zahlreichen Belagerungscorps umzingelt wurde, und man mich fast in Stücke zerriß, als ich vor dem Thore erschien. Erst als die chinesischen Diener mit Bambusprügeln intervenirten, zertheilte sich der Janhagel. Ich muß mich auf einen Ausflug zu Pferde beschränken und richte ihn nach der Tartarenstadt, von deren hoher Mauer aus man eine vortreffliche Aussicht auf die malerisch erhabenen Gebirgsrücken der mongolischen Tartarei genießt. Beiläufig habe ich noch zu bemerken, daß sich in dem der Agricultur geweihten Tempel der Erde ein großer Opferplatz befindet, auf dem an gewissen Tagen des Jahres 286 lebende Ochsen verbrannt werden. Das Klima Pekings soll im Sommer drückend heiß, im Winter aber fast eben so kalt sein; die jetzige Jahreszeit ist für europäische Touristen die angenehmste.

Der Mandarinenstand ist natürlich in der ersten Stadt des Reiches sehr zahlreich vertreten. Dem Geiste der Verfassung gemäß genießen die Civilmandarinen ungleich mehr Ansehen, als die Militärmandarinen. Dem Palankin eines höheren Civilmandarinen voraus marschiren nicht allein mit Stäben bewehrte Diener, um ihrem Gebieter Platz zu schaffen, sondern auch stimmbegabte Lobredner, die unter häufigen Schlägen auf Gongs und Trommeln die Titel und Tugenden ihres Herrn ausrufen, während von anderen Dienern Ehrensonnenschirme nebenher getragen und sauber gemalte, vergoldete Tafeln präsentirt werden, auf denen Name und Würden zu lesen sind. Die höchsten Auszeichnungen scheinen in der Pfauenfeder und einem rothen Korallenknopf auf der Spitze des Hutes zu bestehen. Mir, als Fremdem, werden gleichfalls, wenn auch nur von dem armen Gesindel, Auszeichnungen gespendet. Sobald ich mich blicken lasse, bildet sich ein Häuflein und begrüßt mich mit dem Rufe: Ta la je, d. h. »großer, alter Herr!«

Schon oft hatte ich mich über eine Menge brüchiger und verrosteter Cash-Stücke gewundert, die in vielen Straßen auf dem Pflaster lagen, ohne von der Bevölkerung, selbst nicht von den Bettlern und Aussätzigen, eines Blickes gewürdigt zu werden. Zuweilen, wenn ich eines dieser Geldstücke aufhob und näher betrachtete, stimmten die vorübergehenden Chinesen ein Hohngelächter an, ja ein kleiner Junge riß mir einst die Scheidemünze aus der Hand und 287 warf sie verächtlich zu Boden. Im Gesandtschaftshotel erfuhr ich, daß der hochselige Kaiser, welcher fabelhafte Summen in Bauten verschwendet, endlich gezwungen worden sei, um nur Geld zu schaffen, aus Sumpfeisen diese elende Sorte von Cashs zu prägen. Der witzige Autokrat hatte sich verrechnet, das Volk selber setzte die nichtsnutzige Münze außer Cours und streute sie auf dem Pflaster aus! Im letzten Jahre soll man in den Küstenstädten angefangen haben, die Cashs zu sammeln und nach Japan zu verschiffen, wo man sie in den Eisengießereien verwendet.

Als gebildete Großstädter sind die Einwohner leidenschaftlich Theaterfreunde. Mehrere Kunstinstitute dieser Art lagen gleich hart neben einander, ein ihnen vis-à-vis errichtetes Gebäude von ähnlichem Baustyl war jedoch kein Theater, sondern – ein Tempel. Die Vorstellungen beginnen früh Morgens und schließen erst lange nach Mitternacht. Wie wir auf einem Ausgange in eine Conditorei treten und je nach der Tageszeit eine Tasse Chocolade oder Kaffee trinken und die Zeitungen durchfliegen, tritt der Chinese auf seinem Spaziergange in das nächste Theater, sieht ein Stück und setzt seine Wanderung fort. Ich folge dem Beispiele der Herren und entrinne dadurch der Langenweile und zudringlichen Kerbthieren. In einem dieser »Sing Songs« (Tempel des Vergnügens) scheint das elegante Conversationsstück gepflegt zu werden. Ich sah dort ein Stück, in dem der Hauptheld, ein gespreizter alter Mandarin, von einem Dutzend seiner eifersüchtigten, verdorrten Frauen durch Eifersüchteleien gequält wird. Weit entfernt, unglücklich zu sein, fühlt sich der unverbesserliche Geck dadurch geschmeichelt und will sich im höchsten Discant 288 über die grimmen Furien todt lachen. Schließlich treiben sie es jedoch gar zu arg, er faßt einen raschen Entschluß und vertauscht die sechs Gerippe gegen ein kugelrundes, mehrere Centner schweres Frauenzimmerchen. Von Nebenfiguren wären zu nennen ein Unbekannter, der später als »Schuft« entlarvt wird, zwei Selbstmörder, ein Stummer, ein übermüthiger Tuchfabrikant, mehrere scrophulöse Schelme, eine stocktaube Alte, der stereotype Hauswurst und ein, auf Rattenfang dressirter Hund. Wie in allen großen Städten waren die Costüme kostbar und geschmackvoll, die Musik unerträglich, die Mimik affenartig; das chinesische Theater ist das letzte, was mir Sehnsucht nach China einflößen könnte. Zum ersten Mal sah ich in dieser Vorstellung auch chinesische Damen als Zuschauerinnen. Sie saßen in abgesondert gebauten, nur leicht vergitterten oder offenen Logen, doch schien es von dem Herrenpublikum übel vermerkt zu werden, wenn ich mich meines doppelläufigen Opernguckers bediente, und die schiefäugigen Grazien musterte. Ein Elegant in meiner Nachbarschaft flüsterte etwas von »Fanquei« und »rostborstigen Gläsern«.

Zuweilen begleitet mich Sir Frederics Sprachmeister, ein gutunterrichteter Chinese, auf meinen Wanderungen durch die Straßen und übersetzt mir einzelne Inschriften auf Ladenschildern.

»Durch Schaden gewitzigt, borg' ich von heut an nicht mehr!«

»Bei vielem Reden und geringem Verkauf (Einkauf) macht man schlechte Geschäfte.«

»Vielleicht morgen werde ich borgen!«

fand sich auf vielen Schildern in mannigfachen Varianten.

289 Wie bei uns »der billige Mann«, empfahl sich ein Schirmfabrikant: »Zum billigen Atchau« (ein Name), oder »Zur billigen Rechnung.« Wie unter den Menschen hart neben prahlerischem Uebermuth das tief gebeugte Elend, sieht man in Peking auch unter den Läden die reichsten Magazine dicht neben den ärmsten schmutzigsten Höhlen bettelhaften Gesindels.

In den Straßen Pekings entdeckte ich die ersten fliegenden Spielhöllen auf meiner Reise. Das Hazardspiel ist, wie ich schon mehrmals angedeutet, ein Nationallaster der Chinesen, dem man überall begegnet, wo sich eine Genossenschaft dieses merkwürdigen Volkes gebildet hat, aber nirgends wird diesem Laster leidenschaftlicher gefröhnt, als in der Kaiserstadt. Aller Orten sind kleine Spielbanken aufgeschlagen, an denen Individuen jedes Lebensalters in sich versunken sitzen und auf die Geldhaufen des Banquiers starren. Hat der gemeine Chinese seinen letzten Cash verloren, so spielt er um Melonenkerne; sind auch diese verspielt, so soll er einen Finger oder den großen Zeh als Einsatz anbieten. Daß ein unglücklicher Spieler, der eine kleine Summe parirt, aber nicht zahlen konnte, um den Gewinner zu befriedigen, sich ein Loch mit ölgetränkter Baumwolle in den Oberarm brennen mußte, habe ich selber gesehen. Die weite Ausdehnung der Stadt zwingt die Doctoren der Medicin, ihrer Praxis zu Pferde obzuliegen. Ich bin dergleichen Reitern, deren gelehrten Stand ich sogleich an den ungeheuer großen Brillen aus bloßem Fensterglase erkannte, täglich begegnet. Ihre Reitknecht, wenn sie vor den Thüren der Patienten die Pferde halten, machen sich gewöhnlich eine kleine Nebeneinnahme. Sie 290 lassen, wo Raum und Verkehr es gestatten, die vorüberlaufenden Schuljungen für ein Paar Cash aufsitzen und einige Mal hin- und herreiten, ja nicht selten machen sich sogar erwachsene Chinesen dieses kindliche Vergnügen. Möglich, daß sie dazu durch den Aberglauben bewegt werden, durch eine Berührung mit des Doctors Klepper vor Krankheit bewahrt zu bleiben. Man darf sich unter diesem verzauberten Volksstamm auf allen erdenklichen Unsinn gefaßt machen. 291


 << zurück weiter >>