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18.

Sophie richtete sich auf. Neben ihr stand der Arzt. Hinter Margot schoben sich der Hoteldirektor, der Kommissar und dessen Beamten ins Zimmer. Doch in diesem Augenblick sah jedes der beiden Mädchen nur das andere. Ihre Augen tauchten ineinander, hielten sich fest. Von all den Männern im Raum merkte keiner, daß sich hier zwei Frauen maßen. Sophie, das verwöhnte Produkt des Wohllebens und der Sorglosigkeit, mit Idealen von gestern – Margot, die Heutige, die Berufstätige, die Selbständige. Beide aber begehrenswert.

Roland lag in seinen Kissen und rührte sich nicht. Er verspürte quälenden Schmerz – nicht von der Wunde.

Margot trat mit ihrem raschen, energischen Schritt an das Bett heran.

»Du hast mich zu sprechen gewünscht?« Unwillkürlich glitt ihr ein gewisser provozierender Ton in die Anrede des Du.

Sophie zuckte zusammen, und zwischen ihre Brauen grub sich die bewußte Falte ein.

Roland blickte Margot einen Moment lang schweigend in die Augen; die waren grau und ernst. Sie schien ihm kühl und gefaßt, doch das leise Vibrieren ihrer Nasenflügel verriet die Erregung hinter der Maske der Gefaßtheit.

»Wer sind die Herren?« begehrte er zu wissen.

»Man hat mich verdächtigt.«

»Ich habe den Herren allerdings noch nicht gesagt, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen,« antwortete er.

Wieder suchte er ihren Blick. Er griff nach ihrer Hand: »Margot!« Dann wandte er sich zu dem Polizeibeamten: »Herr Kommissar, diese Dame hat nicht auf mich geschossen. Ein Mann war es, ein großer, starker Kerl, mit einem braunen Schnurrbart. Wenn ich nicht irre, hatte er eine Narbe über dem rechten Auge. Ich konnte ihn aber in der Geschwindigkeit nicht deutlich sehen. Als ich von der Halle in mein Zimmer gekommen war, klopfte es. Ich glaubte, der Kellner sei es, oder sonst irgend jemand. Die Tür öffnete sich, der Mensch schnellte herein, holte ohne viel Präliminarien seinen Revolver heraus und knallte los. Ich fühlte so etwas wie einen Schlag gegen die Brust und sackte um, sah aber noch, wie er davonrannte und die Tür offen ließ.«

Damit war alles gesagt, was zu sagen war. Der Kommissar stellte einige Fragen, auf die Roland ohne weiteres antwortete. Von dem ersten Attentat und der ganzen Affäre in Genf verriet er nichts. Warum auch?

Der Arzt mischte sich nach einiger Zeit ein, verbot dem Patienten alle Unterhaltung und zog mit dem Kommissar, dem Direktor und den anderen ab. Roland blieb mit den beiden Mädchen allein.

Schweigen.

Keiner der drei Menschen wußte, was er jetzt beginnen sollte. Am Bett des Mannes standen sich die beiden Mädchen gegenüber, bedrückt, beengt jedes von ihnen. Selbst die energische, für die Notwendigkeit der Minute gewappnete Margot fühlte sich ratlos. Die Schönheit der anderen entwaffnete sie, und gerade das Bewußtsein ihrer eigenen Überlegenheit machte sie schwach und unentschlossen.

Endlich rafft Roland seinen Mut zusammen.

»Ich bin neugierig, ob sie den Burschen nach meiner Beschreibung finden.« Er versuchte zu lachen. Aber das Lachen kam ihm nicht recht vom Herzen.

»War es einer von den – –?« Sophie traute sich mit der Frage nicht recht hervor.

»Natürlich war es einer von den Patrioten. Die Herrschaften in Genf haben augenscheinlich ihre Spione über die ganze Schweiz geschickt, um mir aufzulauern. Sie sind gründlich. Sie schenken nichts. Zum Glück schießen sie hundsmiserabel.«

Margot hörte über alle Maßen erstaunt zu. Sie verstand kein Wort. Was sollte die Frage des Mädchens? Wer waren die Patrioten?

Roland klammerte sich verzweifelt an ihre Fragen. Er kam sich vor wie ein erbärmlicher Feigling, der beiden Mädchen verächtlich erscheinen mußte. Da hatte man zuerst einen großen Mund, und dann – dann – –. »Du weißt natürlich nicht, um was es sich handelt, meine liebe Margot,« sagte er eifrig. »Ich habe mit diesem Revolverschuß eben einen Teil der Verpflichtungen eingelöst, die ich Herrn Petroff gegenüber eingegangen bin. Herr Petroff ist der Bruder von Fräulein Sophie.«

Margot senkte den Kopf und Sophie preßte die Lippen aufeinander. Roland wurde immer unruhiger. Er spürte, wie die Atmosphäre des Zimmers sich mit immer stärkerer Spannung lud. Er brachte es nicht über sich, einem der Mädchen ins Gesicht zu sehen.

»Die Polizei muß wirklich hexen können, wenn sie den Burschen nach meiner Beschreibung findet,« redete er krampfhaft weiter. »Er war klein und mager und glattrasiert und – übrigens habe ich ihn in Genf schon gesehen. Ich glaube bestimmt, er ist einer von den beiden Burschen, die mir Löcher in meinen schönen Hut hineingeschossen haben.«

»Warum haben Sie denn der Polizei die falsche Beschreibung gegeben?« fragte Sophie.

»Hätte ich anders handeln können? Soll ich vielleicht einen Salat anrühren, der schließlich Ihrem Bruder das ganze Menü seines Programms ruiniert? Konsequent muß man sein! Auf ein Loch mehr oder weniger kommt es nicht an!«

Sophies Augen leuchteten. Margot wurde ungeduldig. »Willst du nicht endlich einmal deutlich werden? Ich bin doch kein Kind – –«

Er kannte dieses Symptom. Abwehrend hob er die Hände, aber nun wurde er wirklich schwach. Er vermochte nicht mehr klar zu denken. Die Wunde begann infolge der Anstrengung zu schmerzen.

»Ich – ich – – –«

»Ich glaube,« kam ihm Sophie zu Hilfe, »wir sollten Herrn Roland jetzt nicht mehr mit Fragen überanstrengen. Wenn Sie es wünschen, gnädiges Fräulein, will ich Ihnen alles erklären, soweit ich es selbst weiß.«

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden dafür,« gab Margot sehr kühl und feindselig zur Antwort.

Sophie neigte sich zu Roland hinunter. »Sollen wir hinausgehen, oder stört Sie es nicht, wenn wir hier leise sprechen?«

Er schüttelte den Kopf. Gott nahm sich seiner an und senkte ihn in Schlaf. Schwer und unregelmäßig kam zuerst sein Atem. Beide Mädchen zitterten in Angst.

»Ich glaube, er hat Fieber,« flüsterte Sophie.

Margot legte ihm die Hand auf die Stirn, die heiß und trocken war. Diese Berührung schien wie ein Beruhigungsmittel zu wirken. Nach und nach wurden die Atemzüge des Mannes, um den sie sich sorgten, gleichmäßig und stärker. Schlaf der Erholung.

Auf den Zehen schlichen die Mädchen ans Fenster, und unwillkürlich blickten sie beide zu dem Hochgebirge hinüber, das sich weit draußen über der Silhouette der Stadt gegen den blauen Nachmittagshimmel abzeichnete.

»Das ist sehr schön,« sagte Margot. »Ich war vor zwei Jahren oben auf der Jungfrau. Das Panorama werde ich nie vergessen – –«

Sophie nickte eifrig. »Herrlich ist diese Gletscherwelt. Ich finde, sie ist gar nicht so kalt und tot. Sie lebt, nicht wahr? Sie ist voll Größe und Erhabenheit. – – Wir waren oben auf der Riffelalp. Wissen Sie, das ist das Hotel, das gerade gegenüber dem Matterhorn liegt. Da haben wir eines Nachts ein Gewitter gesehen, vielmehr den Widerschein eines Gewitters – – unvergeßlich! Unvergeßlich! Das war ein Erlebnis – – –«

Sie merkte gar nicht, wie die Erinnerung an jene Stunden sie fortriß. Sie über die Barriere hinwegtrug, die sie von der anderen Frau trennte. Sie glühte. Sie war voll Feuer. Margot erkannte und verstand alles.

»Sie waren mit –« Sie wollte zuerst sagen »mit meinem Bräutigam.« Aber Niedrigkeiten und Bosheiten lagen Margot Geldern nicht. »Sie waren mit Herrn Roland dort?«

Sophie nickte. »Ich war mit ihm dort und doch – – man kann nicht sagen – – Ich weiß nicht, Fräulein. Sie sind klug. Sie werden gewiß verstehen, was anderen unverständlich erscheinen muß. Ich bin ihm nachgefahren. Ja –«

»Nachgefahren?« Eine Welt des Zweifels lag in diesem Ton.

Sophie tastete nach anderen Worten. Sie wußte nicht recht, wie sie an dieses stolze, spöttische Mädchen herankommen sollte. Irgendwo mußte Margot Geldern doch eine Stelle haben, an der sie für Gefühle empfindlich war. Frau stand gegen Frau. Da gab es keine Täuschungen. Männer können sich betrügen. Männer glauben einander – Frauen nicht. Frauen fühlen. Frauen wittern. Instinkt ist ihnen alles.

Und Sophie fühlte, daß diese kühle Überlegenheit Margot Gelderns nur Rüstung war. Rüstung vielleicht gegen eigenen Schmerz, gegen die Furcht, gedemütigt zu werden. Sie fühlte sich auf einmal als die Stärkere. Sie war, die besaß, die andere mußte den Verlust erleiden.

Stockend zuerst begann sie ihren Bericht. Doch allmählich bekam ihre Erzählung Fluß und Schwung. Sie sprach von dem Kampf ihres Volkes, von der Aufgabe, die sich ihr Bruder gestellt hatte, von der Rolle, die Roland dabei zufiel und geschickt, mit dem richtigen Takt, schob sie den Bruder in den Vordergrund. Er wurde Hauptperson. Er wurde Held. Roland und sie bloße Staffage. Um Pawel Petroff drehte sich alles. Um ihn und um sein großes Werk. Das Persönliche ging in den Ereignissen auf. Margot, die erst auf allen Posten »Habt acht!« gestanden hatte, wurde gepackt. Interessiert. Wider Willen anfänglich. Aber sie war zu jung und lebendig, um nicht an der Begeisterung der anderen doch schließlich Feuer zu fangen.

Als Sophie schwieg, standen sie Arm in Arm am Fenster. Sie wußten es selbst nicht.

»Und Roland?« fragte Margot mit ganz leiser Stimme. »Er hat mir gesagt, ein Blitz hat eingeschlagen – –«

»Das wird es wohl sein.« Unwillkürlich schob sich Sophie noch näher an Margot heran. Dann blieben sie beide still.

Ein Laut vom Bett des Verwundeten schreckte sie auf.

Roland war erwacht, und als sie an das Bett traten, versuchte er sich aufzurichten. Er sah, daß sie miteinander gesprochen hatten, und wenn er auch als Mann nicht ganz zu erfassen vermochte, was zwischen ihnen, den Frauen, vorgegangen war, so hatte er doch, als er sie jetzt beide vor sich erblickte, ein Gefühl der Ruhe, der Sicherheit. Sophie war glücklich und aufgeregt. Margot lächelte. – – Sie war es, die ihm die Kissen zurechtrückte.

»Kinder, ich habe einen Mordshunger,« sagte er. »Wie wäre es mit einer Orgie in Tee und Sandwiches?«

Sophie sprang an die Tür. »Ich werde alles bestellen,« und eiligst lief sie davon.

»Nun, Margot?« fragte er.

Sie hielt sich mit unglaublicher Tapferkeit. Ihr Lächeln vertiefte sich, wurde mutiger, verständnisinniger. Mit ihrer langen, schmalen Hand strich sie ihm über Stirn und Haar.

»Sie ist ein entzückendes Geschöpf!«

»Und du bist ein Prachtmädel!«

Das war banal. Er wußte es. Aber irgend etwas drängte in ihm nach Ausdruck. Und so wie es immer geht, daß man in solchen Momenten nur das Dümmste herausbringt, so verstand er auch jetzt nichts anderes zu sagen als »Prachtmädel.«

Der Tee kam mit Sandwiches und Kuchen und Marmelade, und es wurde geschmaust. Gegen sechs Uhr erschien der Arzt, maß das Fieber, stellte mit zufriedenem Gesicht fest, daß die Temperatur nicht übermäßig erhöht war und zog sich zurück.

»Sie sollten sich nicht überanstrengen, Herr Roland, Sie werden noch ein paar Tage liegen müssen!« hatte er vorher gewarnt.

Roland war damit aber nicht einverstanden. »Mir fällt da ein,« sagte er, »daß ja eigentlich Fräulein Sophie ihren Bruder warnen müßte. Überhaupt – man muß dieses Attentat irgendwie ausnützen. Die Idioten wissen gar nicht, daß sie uns damit nur in die Hände gearbeitet haben. Man müßte in die Zeitungen setzen, Carell William Bowers, hinter dem die thrazischen Revolutionäre her sind, weil sie einen Verräter in ihm vermuten, wurde in seinem Hotel schwer verwundet. Nein – auf den Tod verwundet. Sie müssen glauben – der Mann, dem sie nachstellen, ist endlich zur Strecke gebracht. Dann hat Ihr Bruder Ruhe. Dann kann er arbeiten.«

Er dachte einen Moment nach.

»Auf jeden Fall muß man ihn verständigen. Schreiben kann ich ihm nicht – ich weiß seine Adresse nicht – –«

»Ich werde zu ihm hinfahren!« sagte Sophie.

»Sie? Nein, Sie würde man sofort erkennen, und wenn Sie sich ihm näherten, würden Sie ihm nur schaden. Das muß jemand sein, den kein Mensch in Genf kennt. Ich weiß auch nicht einmal seine Adresse. Ich weiß nur den Namen, unter dem er sich in Genf aufhält, und wo er eventuell zu finden ist. Er nennt sich Vuiè, gibt sich als Montenegriner aus und dürfte in der Redaktion dieser thrazischen Zeitung – der Teufel soll wissen, wie das Blatt heißt – – anzutreffen sein. Vielleicht könnte ich telephonieren?«

»Nach dem, was ich da höre,« mischte sich Margot ins Gespräch, »dürfte das Telephonieren auch nicht das Richtige sein. Ich werde hinfahren. Ja – – warum schaut ihr mich denn so groß an?« Sie lachte hell auf. »Glaubst du vielleicht, verehrter Richard, ich bin der Aufgabe nicht gewachsen? Warum soll ich nicht auch ein bißchen Romantik erleben? Im Bureau meines Herrn Chefs hängen lauter statistische und geologische Karten. Romantik am Genfer See ist einmal das große Andere. Wie nennt sich Herr Petroff? Vuiè, »Thrazische Zeitung« – –? Gut, ich gehe in die Zeitung, und ich werde ihn finden. Was soll ich ihm bestellen?«

Roland wehrte sich. Er wollte kein Opfer von Margot. Er verstand nur zu gut, daß sie das Feld räumte. Sich geschlagen gab. Nicht so – – nein – –

»Aber das ist ja unmöglich!« fuhr er auf.

Die alte Margot war auf einmal da. Mit hocherhobenem Kinn erklärte sie ihm, daß nichts unmöglich sei; ihr am allerwenigsten. Er sollte sie doch zur Genüge kennen, um zu wissen, daß sie sich durch solche Redensarten nicht abschrecken ließe.

Da gab er nach und schämte sich vor sich selbst darüber, daß er nachgab.

»Vielleicht erkundigst du dich bei meinem Freunde, dem Polizeikommissar Durand,« riet er ihr. »Bestell ihm meine besten Grüße und bitte ihn, ja nichts zu unternehmen. Ich hätte nur einen Streifschuß.«

Margot fuhr also noch am gleichen Abend nach Genf.


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