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6.

Die Stimme des Kommissars schreckte ihn auf.

»Es trifft uns kein Verschulden!« murmelte der Beamte, wie wenn er die Verpflichtung fühlte, sich zu entschuldigen. »Wer konnte das ahnen!«

»Ja, wer konnte das ahnen!« redete ihm Roland mechanisch nach. Sein Gewissen begann zu hämmern. Du bist schuld! Du! Ja, wer konnte das ahnen!

»Was geschieht mit ihnen?«

»Wir werden die Leichen ins Schauhaus schaffen. Die Organisation, der sie angehören, wird sich vielleicht melden. Vielleicht aber auch nicht, weil sie unsere Recherchen fürchten.«

»Könnte man nicht – schon mit Rücksicht auf mich – alle Nachforschungen einstellen, Herr Kommissar?« wagte Roland vorzubringen.

»Sie werden es verstehen, wenn ich alles tue, um Ihnen weitere Unannehmlichkeiten zu ersparen. Darf ich Ihnen einen Rat geben? Ja? Bitte, verlassen Sie so schnell wie möglich Genf! Womöglich heute noch! Bei dem Fanatismus dieser Leute ist zu erwarten, daß man jetzt andere vorschicken wird, die schon aus Rache für die Kameraden Sie zu ermorden versuchen werden.«

»Ich reise noch heute ab!«

»Ausgezeichnet. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Ihnen zwei zuverlässige Detektive mitgeben, die Sie bewachen werden.«

Roland war zwar nicht begeistert von diesem Vorschlage, aber er sah ein, daß der Kommissar recht hatte. Er war nun erst recht Freiwild. Wie hatte der verkrüppelte Halbgott gesagt? Jeder Patriot wird es sich zur höchsten Ehre anrechnen – –

Unter dem Schutze der beiden Kriminalbeamten kam er unangefochten ins Hotel zurück. Es war Mittag und Zeit zum Dejeuner. Er hatte nicht einmal einen Blick für die beiden pikanten Griechinnen, die mit ihrer Familie an einem der nächsten Tische saßen.

»Den Mokka und die Zigarre in den Salon?« hörte er dann aus verschleierter Ferne den Oberkellner fragen.

Irgendwie kam er zurück. »Nein, bitte aufs Zimmer! Und sagen Sie dem Portier, daß ich für niemand zu sprechen bin!«

Oben riegelte er sich ein. Das Fenster schloß er. Die leuchtende Sonne draußen auf dem See tat ihm weh. In der sommerlichen Wärme fröstelte ihn. Er goß den heißen Kaffee ohne Zucker, ohne Milch in gierigen Schlucken hinunter. Die Zigarre, die geliebte Coronas, steckte er an und ließ sie nach den ersten Zügen kalt werden.

Er war noch immer nicht im Gleichgewicht. Bis zu der furchtbaren Minute, da er auf die Leichen der beiden jungen Menschen schaute, war er durchs Leben gegangen, ohne sich viel um rechts und links zu kümmern. Eine Durchschnittsexistenz. Große Fähigkeiten, große Ideale besaß er nicht, und so blieben ihm auch die Kämpfe erspart, die große Begabungen mit sich bringen. Das Genie muß sich seinen Weg erkämpfen; der der Mittelmäßigkeit ist gerade, ohne Gefahren und auch ohne Steigungen. So war der Weg Rolands gewesen. Hier und da ein bißchen Leichtsinn, einmal eine verrückte Liebschaft, ein andermal ein Spritzer nach Monte Carlo. Netter Schauspieler mit netten Erfolgen. Keine phantastischen, aber dafür sichere Gagen. Man hatte immer Verwendung für ihn. Brauchte ihn sogar. Er war ein guter Turner und Sportsmann, sah elegant aus, war ein bescheidener, liebenswürdiger Mensch, dem keine Arbeit zu viel war, und der nicht mit Starmanieren Direktoren, Regisseure und Aufnahmeleiter an den Rand der Verzweiflung brachte. Auf der Kommerzbank sammelte sich bereits für ihn ein Konto, das durch die sachverständige Leitung, die Margot Geldern ihrem Verlobten angedeihen ließ, immer repräsentabler wurde. Die Versicherung wurde pünktlich bezahlt und Schulden gab es keine, nicht einmal beim Schneider. Dergestalt war die Existenz des Filmschauspielers Richard Roland gewesen, geradlinig, bürgerlich beinahe, mit dem bestimmten Endziel der Ehe mit der zierlich-hübschen und klug-energischen Margot Geldern.

Nun aber starrte ihm auf einmal die Tragödie ins Gesicht. Gefahr umlauerte ihn, bedrohte seine bis jetzt unkomplizierte Existenz und verlieh ihr einen romantisch-düsteren Schimmer, der sich wohl als Filmstaffage sehr gut ausnahm, in der Realität des Alltags jedoch nicht den geringsten Reiz hatte.

Er hatte die ganze Geschichte zuerst als einen großen Spaß genommen, der einzig und allein durch ein mögliches Mißverständnis mit Margot getrübt werden konnte. Die zwei Schußlöcher im Hute, die leidenschaftliche Warnung des schönen Krüppels hatten ihn zwar darüber belehrt, daß die Komödie, die Mr. Bowers inszenierte, gar nicht so ungefährlich verlaufen konnte. Na schön! Für so viel Geld konnte man schon ein paar Unannehmlichkeiten mit in den Kauf nehmen. Das großzügige Anerbieten Bowers hatte das seine dazu beigetragen, Rolands Entschluß zu stärken, bis zum Ende durchzuhalten.

Aber jetzt! Jetzt lagen zwei junge Menschen auf der Totenbahre. Und er mochte mit sich herumreden wie er wollte – durch seine Schuld. Er dachte dabei weniger an die eigene Gefahr, als daran, daß aus der anfänglichen Komödie eine bitterernste Tragödie geworden war. Auf einmal türmten sich Verwicklungen und Verantwortungen vor ihm auf, wie er sie nie und nimmer geahnt hatte. Es war auch jetzt zu spät, einfach zu erklären, ich tue nicht mehr mit. Er konnte die Rolle nicht mehr zurückschicken. Blut klebt daran. Blut ließ nicht mehr los. Nur noch eine einzige Möglichkeit: Durchhalten! Vier Wochen brauchte er, hatte Bowers gesagt. Auf irgendeine Weise mußte man durch diese vier Wochen kommen! Doch dazu war es notwendig, daß man vorerst einmal wußte, mit wem man es zu tun hatte. Wer diese Organisation war, die ihren jungen Leuten Revolver in die Hand drückte und ihnen befahl: Geht hin und tötet den Mann, den wir verurteilt haben. Könnt Ihr das nicht, dann tötet Euch selbst! Patriotismus? Vielleicht. Narrheit auf jeden Fall. Und der gefährlichste Feind war die Narrheit.

Roland läutete die Polizeipräfektur an und bat den freundlichen Kommissar an den Apparat. »Hat sich in unserer Affäre etwas ereignet?«

Der Kommissar war sehr mitteilungsbereit. »Soeben hat jemand angeklingelt und nach zwei jungen Leuten gefragt, die heute verhaftet sein sollten. Die Organisation meldet sich also doch! Ich erwarte ihren Besuch jede Minute.«

»Darf ich hinüberkommen, Herr Kommissar, und mir die Leute ansehen, die so erpicht darauf sind, mich um die Ecke zu bringen?«

»Aber selbstverständlich! Doch, bitte, gehen Sie ja nicht aus, ohne sich von meinen Agenten begleiten zu lassen! Es wurde mir bereits gemeldet, daß sich in der Nähe Ihres Hotels allerlei verdächtige Persönlichkeiten herumtreiben.«

»Das ist ja heiter!«

Ohne jeden Zwischenfall gelangte Roland in die Präfektur und wurde sofort in ein kleines Zimmer geführt, von dem aus er das Bureau des Kommissars zu überblicken vermochte. Die Abgesandten der Organisation waren bereits eingetroffen und mitten in den Unterhandlungen mit dem Kommissar.

Drei Männer sah Roland von seinem Versteck aus. Der eine, der das Wort zu führen schien, war ein mittelgroßer, breitschultriger Geselle mit einem wilden Busch schwarzer Haare auf großem, viereckigem Schädel und einem kleinen, halb ergrauten Spitzbart am Kinn. Er hatte eine laute, ungehobelte Stimme und begleitete seine Worte mit heftigen Gestikulationen.

Der zweite war der Krüppel. Seltsam. Roland wunderte sich gar nicht darüber, ihn an dieser Stelle wiederzufinden. Er wäre enttäuscht gewesen, hätte er ihn nicht gesehen. Der junge Mensch begnügte sich, der Debatte zwischen dem Kommissar und seinem polternden Freunde zu folgen und warf nur ab und zu einen Satz ein, wenn die Diskussion allzu hitzig zu werden drohte.

Doch der dritte der Männer! Ein großer, hagerer Bursche mit langem, schmalen, ganz kahlem Asketenschädel. Große Hornbrille über der Nase. Vornübergebeugt, engbrüstig der in armseligem, abgetragenem Rock steckende Oberkörper. Roland glaubte, das Herz stand ihm still. Denn trotz aller Verkleidung, die schon mehr einer Verschandelung gleichkam, erkannte er ihn auf den ersten Blick. Wie wenn er sich selbst in irgendeiner Filmmaske sah.

Das war Mr. Carell Bowers.


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