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3.

Roland fuhr herum und sah gerade noch, wie die beiden Burschen, die ihm, ohne daß er es gemerkt hatte, ganz dicht an den Leib gerückt waren, in einer kleinen, schmalen Seitengasse verschwanden. Sie rannten zur Rue des Allemands hinauf, in deren Gewühl sie leicht untertauchen konnten.

Sie verfolgen? Roland schüttelte den Kopf. Sie waren nicht mehr einzuholen. Da der heimtückische Schuß aus einem Revolver mit Lautschwächer abgegeben war, hatte niemand der Passanten etwas von dem Zwischenfall bemerkt, der so leicht in einer Tragödie hätte enden können. Drüben an der Brücke standen die Taxis, und die Chauffeure räkelten sich in aller Seelenruhe auf ihren Plätzen. Keine zehn Schritte entfernt breitete sich die Terrasse des Café du Nord, auf der mehrere Gäste ihren Apéritif schlürften. Niemand rührte sich. Niemand hatte den Schuß gehört. Roland hob seinen Hut auf – zwei saubere kleine Löcher zeigten sich in dem weichen Filz.

Zwei Zentimeter tiefer – –! Er wunderte sich über sich selbst, daß er so ruhig war. Immerhin, es war das erste Attentat, das auf sein Leben versucht worden war. Wenn ich die Kerle erwische – –!

Und dann packte ihn plötzlicher Zorn. Dieser Mr. William Carell Bowers war auf jeden Fall ein mit allen Wassern getaufter Haderlump! Lockte ihn mit elenden zweieinhalbtausend Pfund – schließlich was war das schon? – in die Gefahr, versprach großmütig weitere fünfundzwanzighundert in der sicheren Erwartung, sie nie auszuzahlen, da sein Opfer in der Zwischenzeit längst umgebracht sein mußte! Roland faßte an Ort und Stelle einen Entschluß. Zurück ins Hotel de Suisse! Zurück in seine eigene Haut! Und Mr. Bowers mochte sich allein erschießen lassen. Die zweieinhalbtausend behielt er natürlich. Als Entschädigung für den Nervenchock und den Hut.

Roland setzte seine langen Beine in Bewegung und rannte zu dem nächsten Taxi hinüber. »Hotel de Suisse!«

Fünf Minuten später stand er wieder dem Portier gegenüber, der ihn mit noch größerer Liebenswürdigkeit begrüßte als vorher.

»Ist Mr. Bowers – –?«

In die weinwässerigen Augen des braven Hotelmannes sprang jähe Überraschung. Er riß den Mund auf und schnappte hörbar nach Luft.

Roland knirschte mit den Zähnen und erinnerte sich. Er machte ein so wildes Gesicht, daß der Portier sich hinter seinem Pulte verkroch.

»Ist Herr Roland oben?«

»Herr Roland hat fünfzehn Minuten nach Ihnen das Hotel verlassen, Mr. Bowers,« lautete die furchtsam gestammelte Antwort.

»Wann kommt er wieder?«

»Herr Roland hat seine Rechnung bezahlt und ist nach Berlin abgereist.«

»Mit seinem ganzen Gepäck?«

»Mit seinem ganzen Gepäck.«

»Hat er nichts hinterlassen?«

»Nichts, Mr. Bowers.«

»So? Gut!« Roland stand da wie jemand, dem eine Tür vor der Nase zugeschlagen wird. »Er hat nichts hinterlassen?«

»Wirklich nichts!«

»Der Teufel …«

Der Portier machte sich an seinem Meldezettel zu schaffen, äugte aber mit immer größerer Besorgnis zu dem total veränderten Mr. Bowers hin. Der Gentleman, der bei seinem ersten Besuche die Konversation durch Überreichung einer Zwanzig-Frank-Note eröffnet hatte, schaute jetzt drein, als wolle er ihn fressen.

Roland erkannte, daß vorläufig nichts zu machen war. Er warf ein Fünf-Frank-Stück hin, brummte etwas in den Bart – oh dieser Bart! Wie er ihn haßte in diesem Moment! – und stelzte aus dem Hotel.

Dort drüben lag der Bahnhof! Nachfahren? Nach Berlin? Roland raste los. Rannte in eine Elektrische. Vermied um Haaresbreite das Schutzblech eines Autos, trat einer alten Dame den rechten Fuß ab und stürmte die Treppe zum Bahnhof hinauf. In der Halle blieb er, über seine eigene Schnelligkeit verdutzt, stehen und der Verstand, dem er davongelaufen war, konnte ihn einholen.

Was sollte er in Berlin?

Wo stand geschrieben, daß Bowers überhaupt nach Berlin gegangen war? Der war eher nach Hammerfest gefahren als ausgerechnet nach Berlin! Oder nach Timbuktu! Nach dem Feuerland! Also? Sich in der eigenen Wohnung verstecken? Keine schlechte Idee! Aber – – Margot! Mit Margot Katze und Maus spielen? Ausgeschlossen! Er erinnerte sich mit knurrendem Stolz, wie kläglich derartige Versuche zu enden pflegten. Kam er ihr irgendwie unter die Augen, so war darauf zu schwören, daß sie binnen fünf Minuten von der mysteriösen Angelegenheit alles das wußte, was ihr zu verschweigen er sich verpflichtet hatte. Und was dann mit dem Depot in der Dresdener Bank? Niemand würde zufriedener sein als Mr. William Carell Bowers aus Sidney in Australien.

Die Wut gegen diesen Mann, der ihn so schändlich aufs Glatteis gelockt hatte, steigerte sich zur Weißglut. »Ehe ich ihm den Gefallen tue – –!« zähneknirschte er, zündete sich eine Beruhigungszigarette an, tat drei, vier tiefe Züge, fühlte die innere Temperatur sinken, rückte sich den zerschossenen Hut zurecht und verließ den Bahnhof, auf dem er nichts zu suchen hatte.

Vor dem Portal hielt er Umschau. Vielleicht warteten die beiden Strolche abermals auf ihn? Oder andere hatten es übernommen, ihn aus der Welt zu befördern? Er war gerade in der richtigen Stimmung. Zum Zorn gegen Bowers gesellte sich jetzt der Trotz. Er hatte einmal in einem Sensationsfilm die Rolle eines Mannes gespielt, dem an jeder Straßenecke ein gedungener Meuchelmörder auflauerte. Browning, Dolch, sogar eine Handgranate versuchten ihr Glück gegen ihn. Er entging allen Anschlägen. Weil er – wohl wie immer ein verabscheuungswürdiger Filmschurke – ebenso schlau wie tollkühn war. »Was ich auf der Leinwand kann, muß ich im Leben auch zusammen bringen,« sagte er sich. Er griff an seine Brusttasche, in der das dünne Paket der Hundert-Pfund-Noten knisterte, fühlte sich gehoben und in seinem Entschluß gestärkt. Die anderen zweitausendfünfhundert mußte er auch bekommen. Die erst recht! Und Margot? Ein Problem! Aber – – –

Er zündete sich eine neue Zigarette an, winkte ein Taxi herbei und ließ sich ins Hotel Metropol fahren.

Auch hier stand ihm ein Portier gegenüber, der Mr. Bowers aus Sidney und niemand anderen kannte. Aus fachmännischen Gründen der Angst schluckte Roland den Rauch hinunter. Doch die Verwandlung war tadellos. Sie hielt. Sie wirkte. »Bin neugierig, ob Margot mich erkennen würde, wenn sie – –«

»Mr. Bowers, ein Herr möchte Sie sprechen!« meldete diensttrocken der Portier.

Eine vage Hoffnung sprang in Roland auf. Vielleicht Bowers selbst! Ohne Bart! Vielleicht hatte er von dem Attentat gehört und kam nun, um seine eigene Persönlichkeit wieder anzunehmen und seinen Doppelgänger zu befreien.

»Wo ist er?«

»Im großen Salon, Mr. Bowers.«

»Führen Sie mich zu ihm!«

Doch statt des langen, stattlichen Australiers, präsentierte ihm der Portier einen jungen, feingliedrigen Menschen, der sich etwas schwerfällig aus dem tiefen Sessel erhob, in dem er gewartet hatte. Roland, durch seine bisherigen Erfahrungen gewitzigt, musterte ihn scharf, ehe er sich ihm näherte.

Über dem ganzen, wundersam schönen Gesicht des Fremden lag ein Zug weltfremder Melancholie – das Antlitz eines Geistesmenschen, der schweres Leid mit sich herumschleppt. Als er aufrecht vor Roland stand, sah dieser, daß er ein armseliger Krüppel war. Das eine seiner Beine war stark verkürzt und wurde durch einen Schuh mit einer beinahe handdicken Sohle gestützt. Er war ärmlich, aber sauber gekleidet. Seine Hände waren lang, schmal und durchsichtig, die Hände eines Denkers und Grüblers. Der Schauspieler, in seinem Beruf an schöne, frohe, oft übermütige Menschen gewöhnt, empfand ehrliches Mitleid. So sah auch kein Mörder aus, der mit bereit gehaltener Pistole einen Ahnungslosen niederschoß.

Seiner Rolle getreu, trat er auf den jungen Mann zu und hielt ihm die Hand hin: »Bowers mein Name,« begrüßte er ihn auf englisch: »Sie wünschen mich zu sprechen? Was kann ich für Sie tun?«

Der Fremde wich einen Schritt zurück. Peinliche Überraschung sprang in seinem Gesicht auf. Er warf einen raschen Blick um sich, stellte fest, daß außer ihnen nur noch eine alte, in ihre Zeitungen vertiefte Engländerin im Raume war, und begann erregt in einer total fremden Sprache auf Roland einzureden. Wie slawisch, russisch oder polnisch, oder so ähnlich klang sie. Ein- – zweimal glaubte Roland einen Namen zu verstehen – Pawel Petroff. Vielleicht auch Peter Pawloff. Der junge Mensch sprach hastig, beinahe überstürzt, so daß sein Zuhörer nicht einmal die einzelnen Laute zu unterscheiden vermochte. Sein Mitleid für den armen jungen Menschen vertiefte sich noch.

Er unterbrach ihn nicht einmal durch eine Geste; erst als der Redestrom in sichtlicher Erschöpfung verebbte, legte er dem jungen Mann die Hand auf den Arm und lud ihn ein, wieder Platz zu nehmen. Erschreckt, fassungslos wie der andere war, ließ er sich in die Polster des Sessels zurückfallen. Für einen Augenblick schaute er Roland mit einem beinahe drohenden Ausdruck ins Gesicht. Ein seltsames Leuchten war in seinen dunklen Augen, Signalfeuer einer in inneren Abgründen lodernden Leidenschaftlichkeit.

»Pawel Petroff – –!« Jetzt verstand Roland den Namen deutlich, denn er wurde langsam, beinahe feierlich ausgesprochen. Doch der Rest der Worte ging ihm völlig verloren. Er hörte nur aus ihrer Betonung heraus, daß sie ernst und eindringlich gemeint waren.

»Sie verwechseln mich augenscheinlich mit jemandem, der Ihnen nahesteht,« sagte er auf englisch. Doch er sah sofort, daß er ebensowenig verstanden wurde, wie er selbst verstand. »Können Sie Deutsch? Nein? Französisch? Ja? Gott sei Dank! Mein Französisch ist zwar nicht sehr berühmt, aber ich hoffe Ihnen doch beibringen zu können, daß ich ganz bestimmt nicht der bin, den Sie suchen. Ich heiße William Carell Bowers, bin in Sidney in Australien zu Hause, wo ich eine große Schaffarm besitze. Bin jetzt nach Europa – –«

Der junge Mensch fuhr auf und schnitt ihm mit einer halb verächtlichen, halb traurigen Geste das Wort ab. Wieder strömte und stürmte es in slawischen Worten auf Roland ein.

Dieser zuckte die Achseln. »Wenn Sie mir nicht glauben, dann ist es besser, wir beenden die Unterredung.« Er trat zur Seite, wie um dem Besucher den Weg freizugeben.

»Pawel Petroff, Sie sind wahnsinnig!« zischte der Fremde jetzt auf Französisch. »Sie müssen wissen, daß man Ihre Verkleidung sofort durchschaut hat, als Sie gestern hier ankamen –«

»Also dann weiß ich wenigstens, wann ich angekommen bin,« stellte Roland bei sich fest.

»– – – und Sie wagen es noch, diese plumpe Komödie fortzusetzen? Hier, in Genf, wo Sie an jeder Straßenecke einem der Unserigen begegnen müssen!«

Der Schauspieler antwortete nicht gleich. Er suchte sich in der Situation zurechtzufinden und vermochte es nicht. Langsam streckte sich in ihm eine Idee in die Höhe.

»Sie wissen, daß ich Bowers heiße?« fragte er.

»Ich weiß, daß Sie nicht Bowers heißen, sondern Pawel Petroff, und daß Sie mehr als eine Kugel riskieren, wenn Sie sich noch eine Stunde länger in Genf aufhalten. Von den Patrioten wird es sich jeder zur höchsten Ehre anrechnen, Sie niederzuknallen.«

In diesen Worten war soviel leidenschaftliche Wahrheit, daß Roland wie vorhin auf der Straße das gleiche Unbehagen über sein Rückenmark entlanglaufen fühlte. Aber er war nicht umsonst ein Darsteller hartgesottener Charaktere. Ohne daß er sich dessen bewußt wurde, wuchs er in die Komödie hinein, deren geheime Spannungen ihn immer stärker zu reizen begannen. Die Idee, die sich in ihm emporgewagt hatte, wurde zur Gewißheit, und er zweifelte keinen Augenblick mehr daran, daß dieser junge Mann sich nicht irrte, sondern der so splendid veranlagte Mr. William Carell Bowers gar nicht William Carell Bowers, sondern Pawel Petroff war und ebensowenig aus Sidney stammte wie er selber. Der kam bestimmt aus Rußland, wo es am dicksten war, hatte dort irgendeine kapitale Niederträchtigkeit begangen und es in Genf so trefflich einzurichten verstanden, daß die bewußten Patrioten an seiner Statt ihn, den Filmschauspieler Richard Roland, niederzuknallen sich zur höchsten Ehre anrechnen mußten. Es bereitete dem Schauspieler so etwas wie ein schmerzhaftes Vergnügen, sich in die Pläne und Absichten des Mr. Bowers recte Petroffs hineinzudenken. »Wir werden uns wiedersehen, mein Herr aus Sidney,« gelobte er sich.

Dem Mann vor ihm aber sagte er nur: »Es haben bereits mehrere Patrioten versucht, dieser Ehre teilhaftig zu werden. Ich hoffe nur, sie sind bessere Patrioten als Schützen. Da – –« Er hielt dem anderen den Hut hin und zeigte ihm die Löcher darin.

In das schöne Gesicht des jungen Menschen schoß dunkle Röte. Einen Augenblick starrte er wie fasziniert auf die beiden ominösen Löcher. Dann brach wieder ein Redestrom ebenso heftiger wie unverständlicher Worte aus ihm hervor.

»Reden Sie eine Sprache, die ich verstehe –«

»Sie sind ein Narr! Oder ein Prahlhans!«

»Sie vergessen die dritte und die einzig richtige Möglichkeit. Ich bin weder ein Narr noch ein Prahlhans. Aber ich bin auch nicht Ihr Pawel Petroff.«

Wieder blitzten die drohenden Lichter in den dunklen Augen auf. Ganz nahe schob sich der Krüppel an den um einen Kopf höheren Roland heran und mit vor Erregung heiserer Stimme preßte er durch die Zähne: »Ich glaube Ihr Spiel zu erkennen, Petroff. Ich sage Ihnen, es ist ein gefährliches Spiel, und Sie werden nichts damit erreichen, als daß eine von den Kugeln, die hier in dieser Stadt auf Sie warten, Sie doch tödlich trifft.«

Ohne ein weiteres Wort schob er sich mit seinem mühseligen Gang hinaus.


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