Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Die fetten und die mageren Jahre des Henequen

Es ließe sich – theoretisch – der Fall denken, daß jemand mit einem Fallschirm mitten in Yucatán landet, ohne etwas von Yucatán zu wissen. Er fragt nach dem Weg irgendwohin, zum Beispiel nach der Hauptstadt, und man zeigt ihm die Richtung. Sie führt ihn durch eine Pflanzung. Unser Jemand fühlt sich beklemmt von der Einförmigkeit und Unendlichkeit der Landschaft vor ihm, hinter ihm und neben ihm. Wohl erspäht er ein schmalspuriges Eisenbahngleis, das parallel mit ihm läuft, jedoch das ist nicht imstande, ihn zu beruhigen. »Gewiß«, sagt er sich, »gewiß, diese Schienen führen irgendwohin. Aber kann dieses irgendwohin nicht ein unbewohnter Kreuzungspunkt in der grünen Einöde sein? Und wohin soll ich mich von dort wenden? Entlang der Schienen komme ich vielleicht gar nicht zur Endstation, sondern zu einer Anfangsstation! Irgendwohin, wo die Fracht in die Waggonets geladen wird oder früher einmal geladen wurde. Hätte ich wenigstens einen Kompaß mitgenommen!«

In dieser Stimmung kann unser Jemand kein Verständnis aufbringen für die Schönheit der ihn umgebenden Ebene, die, sorgfältiger als ein Park gepflegt, mannigfache Besonderheiten aufweist. Er glaubt sich – wenn anders er wirklich so ahnungslos ist, wie wir ihn hier darstellen – in eine der Magueyplantagen auf dem Zentralplateau Mexikos versetzt. Aber wäre er auch botanisch so ungebildet, die schnapsspendende Agave americana von der faserspendenden Agave rigida nicht unterscheiden zu können, so müßte er dieser enormen Plantage ansehen, daß sie das Rohmaterial einer weit seriöseren und mächtigeren Industrie als der des Pulque liefert. 293

Geometrisch genau verlaufen die Parallelen, mathematisch gleich sind die Distanzen von Pflanze zu Pflanze. Es gibt Strecken, auf denen die Rosetten der Blätter direkt aus dem Boden wachsen, auf anderen sprießen die Rosetten der Blätter aus einer riesenhaft geratenen Ananas empor. In der Ferne erheben sich Stämme, welche oben rechts und links Blütenstände tragen wie Telegraphenstangen ihre porzellanenen Isolatoren.

Unvermutet taucht ein Mann auf mit einem zerfransten Strohhut, einem wenig vertrauenerweckenden Anzug und einer Flinte, die er auf unseren Jemand anlegt und die, freiwillig oder unfreiwillig, losgehen kann. Trotz dieser Gefahr ist unser Jemand glücklich. Denn der ihm Begegnende ist ein Mensch. Was er sonst ist, ergibt sich alsbald: ein Feldhüter. Nach einem kurzen Verhör, das er anstellt, sagt er unserem Jemand, daß dessen Richtung die richtige Richtung sei, und begleitet ihn sogar ein Stück Weges.

Um die Wahrheit zu sagen (insofern unser Jemand und unser Feldhüter überhaupt eine Wahrheit darstellen), ist der Begleiter ein wortkarger Mensch. Aber was bedarf unser Jemand jetzt noch eines Gespräches! Ihm genügt das Vorhandensein einer menschlichen Gestalt in der bisher menschenlos geglaubten Grenzenlosigkeit. Nun schaut sich unser Jemand freier um und bemerkt mehr Spuren unmittelbarer menschlicher Tätigkeit als vorher. In den Strunken klaffen helle Wunden – ein oder das andere Agavenblatt muß hier vor kurzem abgeschnitten worden sein, vielleicht erst heute. Von den anderen, noch unversehrten und fröhlich weiterwachsenden Blättern jeder Staude tragen zwei oder drei je ein Kreidezeichen. Der Feldhüter, durch den neugierigen Blick unseres Jemand veranlaßt, bricht sein Schweigen und erklärt brummend, die Kreidestriche seien Todesmale. Sieben Jahre lang dürfe sich niemand an der Pflanze vergreifen, möge sie auch noch so ergiebig sein, erst nach . . . 294

Woran ergiebig? denkt unser Jemand, aber er unterläßt die Frage, weil er sich schämt, den Zweck der Plantage nicht zu kennen.

. . . nach Ablauf von sieben Jahren, vollendet der Feldhüter fünf Minuten später seinen Satz, stehen die Blätter stark und fest auf dem Strunk. (Da er dabei auf eine der Riesenananasse klopft, weiß unser Jemand, daß Ananas und Strunk identisch sind.) Nun dürfen sie geerntet werden. »Aber glauben Sie, Señor, daß jetzt nach Belieben geerntet, alles abgeschnitten werden darf?«

Was soll unser Jemand darauf antworten? Er könnte entrüstet die Zumutung ablehnen, daß er glaube, alles dürfe nun auf einmal ratzekahlradikal abgeschnitten werden. Damit würde er sich als Fachmann auf dem Gebiet aufspielen, auf dem er sich zwar befindet, von dem er aber nicht weiß, was für ein Gebiet es ist; seine Hochstapelei müßte sich bald als solche entpuppen. Er könnte auch antworten, daß er allerdings an eine jähe, blitzartige Ernte glaube. Damit wieder würde er sich als Idiot hinstellen, und vielleicht die menschliche Begleitung verlieren. So begnügt er sich damit, zweifelnd die Achseln zu zucken und den Fragenden fragend anzusehen.

»Nein«, verkündet der Feldhüter nach weiteren fünf Minuten und deutet auf die Kreidemarkierungen; »Nur an die Blätter, die der Vorarbeiter bezeichnet, darf die Corba heran, die Sichel. Zwei Blätter von jeder Staude schneidet man auf einmal, im ganzen sechs bis neun Blätter innerhalb eines Vierteljahres. Sonst würde die Pflanze eingehen.« Vorsichtig fragt unser Jemand: »Was geschieht mit den abgeschnittenen Blättern?«

Aber er erfährt den Zweck der Pflanzung noch lange nicht. Was er erfährt, ist nur die Tatsache, daß der Schnitter mit einem zweiten Arbeiter die abgeschnittenen Blätter zu je fünfzig bündelt und auf die Feldbahn verlädt.

»Und wohin fährt die Feldbahn?« fragt unser Jemand geradeheraus, um nun endlich zu wissen, ob das Ziel eine 295 Spiritusbrennerei, eine Spinnerei, eine Zuckerfabrik oder sonst was sei.

»In die Finca selbstverständlich«, antwortet der Feldhüter, und fügt, um ganz erschöpfend zu sein, hinzu: »Direktenwegs in die Finca.«

Finca ist der Gutshof. Dorthin kommt unser Jemand schließlich, da er dem schmalbrüstigen Geleise folgt. Im offenen Schuppen rattert eine Maschine und nimmt die Ladung der Waggonets auf. Nun glaubt sich unser Jemand am Ziel seiner Neugierde angelangt und fragt und hört den Namen der Maschine: La Desfibradora. Aha, sagt sich unser Jemand. Desfibradora bedeutet Entfaserin. Also, schließt er messerscharf, wird hier das Blatt von der Faser befreit, weil diese überflüssig ist. »Jetzt weiß ich wenigstens, daß es sich nicht um eine Textilpflanze handelt.«

Befriedigt ob dieser wenn auch negativen Bereicherung seines Wissens tritt er an die Maschine heran, die – oft und primitiv repariert – in ihrem Schuppen keucht. Unser Jemand, ihr zuschauend, muß erkennen, daß seine Konklusion falsch war: nicht die Faser ist überflüssig, sondern alles andere.

Weder das Blatt noch sonst ein Grün rollt über Walzen und durch Kämme, nur das faserige Mark, und auch dieses ist im Nu nicht mehr als solches erkennbar, sondern schwebt als unendliche Wellen von flachsblonden Mädchenhaaren davon. Daß es keine Haare sind, merkt unser Jemand wohl, aber er gibt sich einem neuen Irrtum hin, hält die blonden Wellen für das Fertigprodukt. Als er der Maschine seine Hochachtung bezeugt, wird er von den Arbeitern belehrt, daß die Desfibradora im industrielosen Yucatán erfunden und im industrielosen Yucatán konstruiert worden und für das industrielose Yucatán ausreichend gewesen sei. Jetzt aber habe ihr letztes Stündlein geschlagen. Maschinen eines neuen Systems, geeignet, die Quantität der Erzeugung um 18 Prozent, die Qualität um 15 Prozent zu erhöhen, würden aus England eingeführt. 296

Rechts und links von der alten Entfaserin fällt eine Art Werg ab, »Sosoc« genannt, und wird so, wie es ist, in Bündel verpackt und exportiert.

Das Hauptprodukt aber kann keineswegs mir nichts, dir nichts die Firma verlassen. Im Hof findet unser Jemand das Mädchenhaar wieder, vieltausend Schöpfe blaßgoldenen Mädchenhaars. Jeder Schopf flattert und leuchtet von einem der tausend Perückenständer.

Arbeiter und Arbeiterinnen schreiten auf und ab und prüfen, ob die Mädchenhaare schon lufttrocken sind, nehmen sie bejahenden Falles vom Ständer, kämmen sie und ordnen sie nach Länge und Dichte. Zu unserem Jemand, der interessiert zusieht, äußern die Arbeiter, es herrsche gutes Wetter, und gutes Wetter sei gut. In der Zeit des Norte, des Golfsturms, dauere das Trocknen ewig, oft müsse die Fiber drei- bis viermal nachgetrocknet werden.

Draußen, vor dem Tor, erheben sich Berge vertrockneter Riesenananasse, die Postamente der vernichteten Agave, nun zu nichts mehr gut, als verheizt zu werden. Diese Berge sind nur ein Bruchteil von dem, was nach der Ernte zurückbleibt und alljährlich im Mai auf den Feldern verbrannt wird. So groß ist die Glut der Brände, daß man sie in der fernen Hauptstadt Merida verspürt und zu dieser Zeit nicht auf die Straße geht.

Unser Jemand folgt dem Karren mit den Mädchenhaaren, die in die Halle der Finca fahren und sich in die hydraulische Presse entleeren. Dort fügen sich die Strähnen knirschend zu einem Würfel, den im Augenblick der Würfelwerdung eine Haut aus Sackleinen umgibt. »Das ist eine Paca, 194 Kilogramm. So wird der Henequen verschickt.« Henequen! Endlich, endlich weiß unser Jemand, was er durchwandert und beobachtet hat. »Henequen!« frohlockt er in sich hinein. Ach, er frohlockt nicht lange in sich hinein, denn er wird darüber aufgeklärt, daß der verpackte und verschiffte Henequen kaum eine Woche lang Henequen heißt. Die 297 amerikanische Schiffsbesatzung, die ihn nach New Orleans bringt, und die Schauerleute, die ihn drüben verladen, kennen das Wort Henequen kaum. Sie und ganz Nordamerika kennen nur »Sisal Hemp« – »Hanf aus Sisal«, denn einstmals ging aller Henequen aus einem yukatekischen, inzwischen längst versandeten Hafen namens Sisal ab. Ebenso verliert das Bündel des Namens Paca mit dem exakten Gewicht von 194 Kilogramm bei der Überquerung des Golfs von Mexiko diese Bezeichnung und dieses Gewicht. Auf amerikanisch heißt es »bale«, wird nach Pfund gewogen und steht nicht mehr mit 108 Pesos, sondern mit dem weit höheren Betrag von 40 Dollars im Preis.

Aus Henequen, der athletischesten der Textilpflanzen, macht man Seile und Taue und Stricke. Vermittels geflochtenen Henequens hoben die antiken Mayas ihr Baumaterial, Quader auf Quader in die höchsten Höhen und schufen dergestalt ihre himmelan ragenden Pyramiden. Die moderne Welt, erhaben über solch sinnlosen Luxus, verfertigt aus Henequen die Trossen, mit welchen man die mühselig versenkten Kriegsschiffe mühselig wieder an die Meeresoberfläche emporzerrt. Nicht immer aber hat der Henequen so titanische Aufgaben zu lösen.

Neunzig Prozent der Fiber schwimmen in rohem Zustand, als »Henequen en rama«, aus dem Hafen Progreso nach den Vereinigten Staaten hinüber, die restlichen zehn Prozent bleiben in Yucatán, sofern nicht auch sie, zu Halbfabrikaten oder Endprodukten manipuliert, als »Henequen elaborado« den Weg allen Exports gehen.

Henequen bildet die Monokultur Yucatáns, – ein Volk, ein Land, eine Fiber! Alles und jedermann hängt von der Henequenproduktion ab, und die Henequenproduktion von den Kriegen in aller Welt. Unendlich ferne Völker, die ebensowenig etwas von Yucatán gehört haben, wie Yucatán von ihnen, werden in Kriegszeiten abhängig von Yucatán und Yucatán von ihnen. Den größten Wohlstand erlebte Yucatán, 298 als Europa den Kriegsjammer von 1914 bis 1918 erlebte. Um so katastrophaler wirkte sich der Weltfrieden aus, das ganze Land war arbeitslos und hungerte.

Da wurde aus Chicago ein lockendes Angebot gemacht. Mister Mac Cormick von der Harvester Machine Company, dessen Maschinen allen Weizen Amerikas bündeln, wollte die Henequengebiete Yucatáns aufkaufen, das heißt den ganzen Staat. Die Lockung war groß und noch größer Mac Cormicks Drohung, von nun an statt Henequen Manila-Hanf zu verwenden oder die Tampicofaser Ixtle, die zwar gleichfalls aus Mexiko, jedoch vom fernen Festland herstammt. Aber es ging denn doch nicht an, das ganze Land ans Ausland zu verkaufen.

Ein sozial gesinnter Mann namens Felipe Puerto Carrillo wurde Gouverneur von Yucatán, und es gelang ihm, die Dinge zum Bessern zu wandeln. Er schuf eine Industrie, deren Rohprodukt der Henequen war, er vereinigte alle Henequen-Unternehmer und Arbeiter zur großen Produktivgenossenschaft und verschaffte ihnen Friedensaufträge. Außerdem war es Felipe Puerto Carrillo, der ein modernes Unterrichtswesen organisierte, Yucatán zum vorbildlichen Schulstaat innerhalb der mexikanischen Union machte.

Aber die Konterrevolution de la Huertas griff auf Yucatán über. Felipe Puerto Carrillo wurde verhaftet und mit seinen beiden Brüdern bestialisch umgebracht. Nicht umgebracht konnte sein Werk werden, sein Andenken ist gepriesen, ein Denkmal steht vor dem Volkshaus in Merida. Im ganzen Land heißen Straßen und Plätze nach ihm.

1939 trat Europa abermals in den Krieg. Der Gouverneur Novelo Torres schloß einen Vertrag mit der American Defense Supply Corporation, demzufolge Yucatán innerhalb von drei Jahren anderthalb Millionen Ballen Henequen im Wert von 37 800 000 Dollar zu liefern hat. Neuerlicher Aufschwung. Jedoch die Zeiten nach 1918 steckten den Yukateken noch in den Gliedern, und um eine Wiederkehr der Not von damals zu 299 verhindern, schuf die Regierung das »Fomento de Yucatán«. Es besteht im Grunde aus den Maßnahmen, die der biblische Josef seinem Herrn empfahl. Wie einfach liest sich das in der Bibel! In der rauhen Wirklichkeit des kapitalistischen Heute sind die Remeduren, die Josef vorschlug, die Aufspeicherung von Getreide, nicht so leicht durchzuführen, denn Demagogen schüren den Widerstand gegen das Fomento. Was? Sollen wir, weil wir endlich wieder etwas verdienen, den Ankauf von Nahrungsmitteln für den ganzen Staat bezahlen, sollen uns sieben Centavos von jedem mühsam erarbeiteten Kilogramm Henequen abziehen lassen, damit in Yucatán Ackerbau und Viehzucht geschaffen werden?

Die Millionäre des ersten Weltkrieges besitzen das Faserland nicht mehr so unbeschränkt wie in der Prosperität nach 1914, denn im Jahre 1936 wurde das Henequenland aufgeteilt. Aber hier war die Umstellung vom Privatbetrieb zur Kollektivbearbeitung noch schwieriger als in den Baumwollgebieten der Laguna, vor allem, weil die Entfaserungsmaschinen, die Feldbahnen, die Verschiffungsanlagen und die Lieferungsverträge mit den nordamerikanischen Beziehern ganz in den Händen der alten Besitzer blieben. Im staatlich kontrollierten Verband »Henequeneros de Yucatán« sind sowohl die Arbeiter der Kollektivgüter wie die Privateigentümer organisiert.

Dort im Haus der Henequeneros finden wir unsern Jemand wieder, den wir fast vergessen hatten. Auf der Finca hatte er, um sich nicht wieder in der Unendlichkeit zu verlieren, nach der besten Gelegenheit gefragt, in die Hauptstadt zu kommen, und wurde eingeladen, sich auf ein Lastauto zu setzen. Dieses brachte Fracht und ihn direkt in das Verbandsgebäude, und zwar zu einem amerikanischen Herrn namens Sterling, der dort im Parterre des Hinterhauses an seltsamen Apparaten hantiert.

Mister Sterling ist wohl der einzige, der in diesem mit Henequen befaßten Hause Henequen in die Hand bekommt. Die anderen arbeiten wie in einer Bank, mit Geld und Papieren, 300 während Mister Sterling in seinem Laboratorium die Materialprüfung besorgt. Seine Waagen wägen nicht, sondern zeigen nur an, bei welcher Belastung eine Henequenfaser kaputt geht, seine Streckmaschinen strecken nicht, sondern zeigen nur an, bei welcher Zugkraft ein Henequenstrick reißt. Seine Apparate sind inquisitorisch und gewalttätig.

Von den übrigen Räumen aus wird aller Henequen des Landes verwaltet, die Arbeit auf den Plantagen, an den Entfaserungsmaschinen, die Transporte zur Finca und zum Lagerhaus, das wie ein Wolkenkratzer mitten im Meer, am Ende der Mole von Progreso steht. Bevorschußt werden die Ernten und die Maschinenkäufe der Seilereien.

Beladen mit Produktionsziffern und Gewinnziffern zieht unser Jemand aus dem Hause. Heute morgen im Henequenhain hat er noch nichts von Henequen gewußt, und jetzt scheint ihm, als ob er zuviel davon wüßte. Unser Jemand geht durch die Stadt Merida, glaubt aber durch die Groix Rousse zu gehen, das Weberviertel von Lyon. Aus den Häusern dringt das Geklapper hölzerner Maschinen auf die Straße, weht der Wind Wölkchen von Abfall hinaus. Aber anders als in Lyon wird in Merida nicht Seide, das aristokratische Gespinst, verarbeitet, sondern der proletarische Henequen.

Neugierig schaut unser Jemand in die Werkstätten, fühlt sich hineingezogen und steht unversehens inmitten einer mechanischen Seilerei. Da erkennt er die Pacas wieder. Vor wenigen Stunden hat er auf der Finca zugesehen, wie sie brutal zusammengepreßt und mit Sorgfalt geschlossen wurden. Jetzt sieht er, wie sie ohne Sorgfalt aufgerissen werden. Die Strähnen flachsblonden Mädchenhaars werden maschinell geflochten. Schon ist der Zopf zweihundertsechzig Meter lang, ein Rekordzopf, der den Neid der einst berühmten »Anna Csillag mit meinem 175 Zentimeter langen Riesenloreleyhaar« erweckt hätte, und dennoch wird er noch zu strecken versucht. Schließlich schießt er aus der Maschine wie ein Strahl in einen Wagen, der davonrollt, wenn er voll ist. In Reih und 301 Glied ist eine Kompanie von leeren Spulen formiert, bereit, sich einwickeln zu lassen, mit neunzig Meter per Spule.

Alle Arbeiter atmen unter Taschentüchern, denn wie Schneegestöber wirbelt der Abfall durch die Werkstatt; die Röhren an den Wanden, die Treibriemen und die Rahmen der Webstühle sind voll davon. In der von den Flocken durchwirbelten Hitze erzeugen die vermummten Seiler die Stricke, die nördlich des Golfs »Binder twine« heißen. Proben gehen ins Prüfungszimmer des Mister Sterling, wo sie sich mit der Mutterfaser wiedertreffen.

Nun aber scheiden sich die Wege. Während die Rohfaser en bloc nach Übersee verfrachtet wird, bleibt von den Garnen und Stricken vieles im Lande, um zu verschiedenartigen Gebilden umgestaltet zu werden. Unser Jemand findet sie als Sandalen, als Teppiche und als Polsterfüllung wieder, und auch als kunstvoll adaptierte Damenhandtaschen, Taschen, Jäckchen, vor allem aber als Hängematten. Von ihrer Vielfalt ist unser Jemand am meisten überrascht. Die echte Hängematte, jene, die auf dem Promenadendeck des Dampfers zum Takt der Meereswellen tänzelt (die »Hängematten«, die der Matrose in der Mannschaftskajüte purrt, sind zumeist nur aus Segeltuch), oder jene, die der Forscher im Dschungel aufhängt, um nachts vor dem Schlangengezücht geschützt zu sein, die echte Hängematte ist aus Henequen in Yucatán. »Hamaca« hieß die Hängematte schon bei den Mayas, daraus entstand das englische »hammock«, und das deutsche »Hängematte« ist nur eine sinngemäße Umgestaltung von Hamaca.

Ganze Dörfer knüpfen Hängematten, meist aus Chelem, Chun oder Citanco, den wilden Arten des Henequen. In den Wohnungen gibt es kein Bett, nur Schlafnetze, und für einen Gast, der zu jeder Stunde willkommen ist, sind Haken an die Wand geschlagen, auf daß er dort sein geknotetes Schaukelbett aufhänge.

Unser Jemand kennt Hängematten, er hat vielleicht oft in welchen geschlafen, aber bevor er sich durch das 302 Marktgetriebe von Merida drängte, ahnte er nicht, wieviel Varietäten es gibt von diesen Netzen: billige für vier Pesos, und teuere, die fünfzig und achtzig Pesos kosten, graue und dreifarbige, ganz kleine für Wickelkinder und ganz große für sechs Personen, grobe und solche, deren Netzwerk zarteste Muster zeigt wie eine Stickerei. Die Hamaca Matrimonial geben die Eltern der Braut als Ausstattung mit, Brautbett, Wochenbett und schließlich Totenbett. Unser Jemand sieht auch »Hamacas para el Henequenero«, rauhe Netze, die der Henequenero nach Feierabend in der Nähe seines Arbeitsplatzes aufhängt. So findet er, nachdem er sein schweres Tagewerk im Henequen getan, auch seine Nachtruhe im Henequen. 303

 


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