Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Fragen, nichts als Fragen auf dem Monte Albán

Wenn das kein Weltwunder ist, was ist dann eines?

Gibt es irgendwo auf der Welt einen Berg, der uns phantastischere Dinge über sich aussagt und uns mehr Beweisstücke für die Wahrheit dieser Aussagen liefert, als der Monte Albán nahe der Stadt Oaxaca?

Und gibt es einen Erdenfleck, der sich gleichzeitig in so absolutes Dunkel hüllt und uns ohne Antwort läßt auf alle Fragen? Überwiegt in uns das Entzücken oder die Verwirrung?

Diese beiden Gemütsbewegungen auseinanderhaltend, fragen wir zunächst nach den Gründen unseres Entzückens.

Ist es dieser Raumkomplex, dessen Umrisse Ausblicke ins Unendliche sind? Oder sind es die Pyramiden, die aussehen wie Prunktreppen in die Innenräume des Himmels? Oder ist es der Tempelhof, der – kraft unseres Vorstellungsvermögens – erfüllt ist von vieltausend Indios in ungestümen Gebeten? Oder ist es das Observatorium, dessen ins Mauerwerk eingeschnittener Auslug mit dem Meridiankreis den Winkel Azimut bildet? Oder ist es der Blick auf ein Stadion, wie es Europa seit der römischen Antike bis zum zwanzigsten Jahrhundert nicht gebaut hat, hundertzwanzig steinerne schräg aufsteigende Reihen von Sitzen?

Ist es das System, Hunderte von Grüften so anzuordnen, daß der Raum kein Friedhof wurde, kein Grab ein anderes störte? Sind es die bunten Mosaiken, die Fresken mit ihren Figuren, Szenen, Symbolen und Hieroglyphen? Oder ist es die Tatsache, daß das ganze Erdreich ringsum eine Glyptothek ist? überall fand und findet man Skulpturen, teils Büste, 163 teils ganze Figur, teils mit verzerrtem Gesicht, teils mit hoheitsvollen Gebärden, und allesamt vollendet modelliert bis ins filigrane Detail. Oder die Tonbehälter, Opferschalen von edler Schwingung, Urnen von geometrischer Geradlinigkeit, vierfüßig und im Innern eines jeden Fußes eine Schelle, die um Hilfe klingelt, wenn ein Frevler sie davontragen will.

Oder ist es der Schmuck? War es denn nicht der Schmuck, der die Kunde von den Ausgrabungen auf dem Monte Albán in die Welt trug? War es nicht der Schmuck, der zu den falschen Meldungen Anlaß gab, der langgesuchte »Schatz des Moctezuma« sei gefunden im Grab seines Nachfolgers, des Königs Cuauhtémoc? Verblaßte nicht auf der New Yorker Weltausstellung die Schau der historischen und modernen Goldschmiedekunst vor dem Schmuck von Monte Alban?

Ein kleiner Teil dieses Schatzes leuchtet in einer Vitrine des Nationalmuseums von Mexiko. Um die Mehrheit der Funde ist das Museum der Stadt Oaxaca geradezu herumgebaut, ein Wallfahrtsort für die an Kunst, Kunstgewerbe und Kulturgeschichte Interessierten.

Wer hätte »Wilden« zugetraut, Bergkristalle mit solcher Präzisionstechnik zu schleifen, zwanzigreihige Halsketten mit 854 ziselierten, mathematisch gleichen Gliedern aus Gold und Edelsteinen zu verfertigen? Eine Brosche stellt einen Ritter des Todes dar, den Lucas Cranach nicht apokalyptischer entworfen hätte. Kniebänder, dem englischen Hosenbandorden ähnlich. Ohrgehänge, wie aus Tränen und Dornen gewoben. Kopfschmuck – eine Tiara, würdig eines Papstes über alle Päpste. Geflochtene Ringe zur Zier der Fingernägel. Bracelets und Armspangen mit bauchigen Ornamenten, Mantelschließen und Agraffen aus Jade, Türkis, Perlen, Bernstein, Korallen, Obsidian, Jaguarzähnen, Knochen und Muschelschalen. Eine Goldmaske, über deren Wangen und Nase eine Trophäe aus Menschenhaut skulptiert ist. Ein Tabakbehälter aus goldgetränkten Kürbisblättern. Fächer aus den Federn des Quetzalvogels, – welche byzantinische Kaiserin, welche indische 164 Maharani, welche amerikanische Multimillionärin besaß je zu Lebzeiten so prächtiges Geschmeide, wie es viele dieser Indios noch im Grabe trugen?

Ja, der Schmuck ist vielleicht der Hauptgrund für unser Entzücken. Der Schmuck ist jedoch nicht die Ursache des anderen, des stärkeren Gefühls, das uns auf dem Monte Albán überfällt, des Gefühls der Verwirrung. Verständnislos blicken wir umher, suchen vergeblich Antwort auf unsere Fragen:

Wie konnte sich diese über dem Tal manifest aufgebaute heilige Stadt, wie konnte sie sich so verbergen, daß man sie erst nach vierhundert Jahren fand? Wie konnte das Versteck bewahrt werden, das nicht durch unwegsame Meilen von der Stadt Oaxaca getrennt war, sondern innerhalb der gleichen Bannmeile lag? Amerikanische Bergingenieure in Oaxaca erzählten uns, sie hätten jahrelang auf dem Monte Albán nach Wild gejagt, ohne zu ahnen, daß sie über etwas anderes pürschten als über eine bewaldete Kuppe.

Haben aber nur Vegetation und Erdreich und Getier, die sich über die Stadt kauerten, sie bis zum zwanzigsten Jahrhundert getarnt? Mußte nicht vor allem der Mensch an diesem Meisterstück der Hehlerei beteiligt sein?

Wieso führt dieser Berg nicht wie alle anderen in Mexiko seinen indianischen Namen? Haben ihn die spanischen Landsknechte deshalb Monte Albán genannt, weil er sie an die Albanerberge nahe jenem katholischen Rom erinnerte, das sie genau so gründlich geplündert hatten wie später das heidnische Mexiko? Was ist denn dem römischen und dem mexikanischen weißen Berg gemeinsam außer der Tatsache, daß beide nicht weiß sind? Warum haben die Indios diesen irreführenden spanischen Namen angenommen, statt den alten Namen »Tigerberg« weiter zu gebrauchen? War es die Scheu, die heilige Stätte eitel zu nennen? War es Angst, die Habgier und Zerstörungswut der Feinde auf den Wohnsitz der Himmlischen und die Schätze der Toten hinzulenken? 165

Niemals jagten die Göttergläubigen und ihre Nachkommen dort oben auf dem Plateau der versunkenen Tempelstadt, kein Pfad führte hinauf, kein Köhler holte Holz aus dieser Gegend, kein Schäfer weidete seine Herde auf diesem Hang, kein Cochenille-Züchter baute in der Nähe sein Dach.

Unten herrschte der Markgraf des Tals von Oaxaca, identisch mit dem Eroberer Neu-Spaniens, gierig und schlau herrschte er, ward aber dennoch geprellt. Cortez starb ohne Ahnung davon, daß auf seinem Grund und Boden Reichtümer vergraben seien, weit kostbarer als der Schatz Moctezumas.

Wer aber waren die Völkerstämme, die vor Cortez zu Füßen des Monte Albán gelebt? Wer waren die Bauherren und die Architekten dieser heidnischen Kathedralen? Woher kam das Material der Kleinodien und Mosaiken? Woraus wurden die Farben für die Fresken gemischt? Woraus waren die Werkzeuge der Steinmetzen? Und worin bestand – diese Frage hat der größte Goldschmiedekünstler Europas, Benvenuto Cellini, aufgeworfen, als er ein mexikanisches Schmuckstück sah – worin bestand die Werkmethode der Juweliere, der Prozeß des »Verlorenen Wachses?«

Wie ist es zu erklären, daß manche Urnenfigur eine ägyptische Sphinx, eine andere den vogelköpfigen Gott Râ darzustellen scheint, und daß die Reliefs auf der »Galerie der Tanzenden« teils im assyrischen Stil, teils mit negroiden Typen gestaltet sind? Wieso? Weshalb? Woher?

Unter Führung des Schliemann von Mexiko, des Professors Alfonso Caso, exhumierten die Archäologen diese Stadt, die ungeahnter als Troja war. Sie haben jeden Meißelhieb und jeden Bruchteil einer Hieroglyphe registriert, und fast zu jedem Scherben seine Fortsetzung gefunden. Sie bewiesen, daß die ältesten Arbeiten aus der Epoche der »Basketmaker« stammen, deren Existenz aus Funden im Südosten der Vereinigten Staaten von Nordamerika festgestellt wurde. Auch mit einem Völkerstamm, dessen Kunstbetätigung sich auf die Darstellung 166 infantiler Köpfe, des »Babyface«, beschränkt, hatten die Monte Albaner (oder wie immer sie hießen) vielleicht etwas zu tun. Wes Stammes aber waren jene Korbflechter und die Bildner des »Babyface«? Waren sie Olmeken? Waren sie die Urbewohner Amerikas? Waren sie Mongolen oder Eskimos, die zu Schiff zwischen Eisschollen oder zu Fuß über eine verschollene Landzunge von Asien herüberkamen? Leute von Atlantis, herangerudert aus dem Sagenland? Gehörten sie gar zu den verlorenen Stämmen Israels?

Über die Olmeken wissen wir, daß sie vom Gummiland an der Küste des Golfes kamen, daß sie sich tätowierten, ihren Schädel kahl schoren, die Zähne feilten und schwärzten, Nasenringe trugen, die Knaben beschnitten, die Gesichtshaut des getöteten Feindes über die eigene spannten, Sünden beichteten, Ball spielten, die Sodomie legal ausübten und einen Kalender mit Jahren zu achtzehn Monaten besaßen. Nur eine einzige Frage, die die Olmeken betrifft, ist bisher noch umstritten, die Frage nämlich: haben die Olmeken überhaupt existiert?

Nach den Olmeken kamen beglaubigtere Völkerstämme. Zunächst die Zapoteken. Waren sie es, die die göttliche Stadt auf dem Monte Albán bauten? Haben sie sie wiedererbaut oder nur umgebaut? War das vor Christi Geburt, war das Jahrhunderte nach Christi Tode? In Asien und Europa sind geschichtliche Ereignisse auf Tag und Stunde bestimmt, und wir kennen die Namen der Baumeister von Babylon, der Silberschmiede von Mykene und der Steinmetzen an den frühmittelalterlichen Münstern. In Mexiko jedoch ist die Zeit, die bei uns Neuzeit heißt, noch Gegenstand der Archäologie, und selbst hier, inmitten dieser Riesenanlage wohlerhaltener Kunstwerke, läßt sich kaum das Jahrtausend ergründen, dem sie entstammen.

Wie ein Schülerwitz klingt es, wenn gesagt wird, daß die Zapoteken am Ende ihres Aufenthalts das Gebiet verlassen haben. Aber selbst diese banale Selbstverständlichkeit – ist 167 sie in vollem Maße richtig? Noch heute ist die Landschaft rings um den Monte Albán von Zapoteken besiedelt, die nur zapotekisch sprechen. Es war also bloß ihre Herrschaft, die stürzte, als der neue Völkerstamm einbrach, die Mixteken. Von nun an verwendeten diese den Berg viele Generationen lang als Festung, als Sportplatz, als Sternwarte, als Pantheon und vor allem als Kultstätte. Welcher Art von Religion aber waren die Tempel geweiht? Was war zum Beispiel für ein Gott ihr Gott Xipe-Totic, von dem wir eine Statue finden mit hohem Kopfputz, Hals- und Gürtelschmuck, einen Stab in der Rechten, den Kopf des Feindes an den Haaren in der Linken haltend? Wer waren die Partner seines göttlichen Geschäfts?

Wer und was waren vor allem jene Irdischen, die noch nach ihrem Tode ganze Volksvermögen am Leibe trugen? Fürsten oder Priester? Heilige oder Helden? Tyrannen oder Märtyrer? Wir berühren ein Skelett und fragen: wessen Leib hast du einst gestützt? Es schweigen die Gebeine, es schweigen die Geschmeide, und sogar die zur Mitteilung hingemalten Hieroglyphen – »7 Türkis«, »4 Tiger, 5 Schlange«, »3 Affe, 13 Tod« – was geben sie an? Wenn das Daten sind, nennen sie den Geburtstag des Toten, den Tag seines Todes oder den seiner Beerdigung? Und wüßte man's auch, was nützte es, da man den Kalender jener Völker nicht mit dem heutigen synchronisieren kann?

Einigen Anzeichen zufolge haben die Mixteken noch vor dem Einbruch der Spanier ihr Heiligtum verlassen, aber kein Anzeichen gibt Antwort auf die Fragen: Aus welchem Grund räumten sie den Platz? Waren es innere Wirren, Konflikte mit den unterjochten, aber unbotmäßigen Zapoteken? War es ein äußerer Krieg, waren es Mißernten und Hungersnot und Seuchen? War es der Verfall der Religion oder was war es sonst?

Gibt es wirklich keine genaue Angabe, keine Jahreszahl in der Geschichte dieses Vineta auf dem Bergesgipfel, gibt es nichts, was sich präzis aussagen und ohne Fragezeichen hinsetzen ließe? 168

Doch: im Jahre 1522 unterwarfen die von Cortez ausgesandten und von Sandoval befehligten 250 Soldaten das Gebiet des heutigen Oaxaca, und seither ist den Indios von der Macht und von der Kultur, deren Beweise uns der Monte Albán aus seinem Schoße reicht, kein Deut mehr geblieben. Das steht außer Frage. 169

 


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