Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Indiodorf unter dem Davidstern

Stockdunkel war die Nacht und ziemlich kühl dazu, als ich heute aufstand, um Punkt sieben in Venta Prieta zu sein.

Von diesem Dorf und seiner jüdischen Bewohnerschaft hatte ich schon in der Stadt Mexiko etwas läuten gehört, aber ich wußte nicht, wo es liegt und hatte auch den Namen vergessen, Da fuhr ich vorgestern zufällig nach Pachuca, der Silberstadt, und las bei Kilometer 83 (von der Hauptstadt aus gerechnet) an einem Ortseingang »Venta Prieta«. War das nicht der Name? Ich stieg aus, fragte unsicher nach den Juden. Die Befragte zeigte mit dem Finger. »Dort der Caballista ist einer von ihnen.«

Der Kabbalist? Weit und breit war niemand zu erblicken, der als Ziffern- und Zeichendeuter, als Kenner der Kabbala in Betracht kommen konnte. Nur ein Bauer stieg eben ganz unmystisch von einem Pferd. Mir ging ein Licht auf: Pferd heißt »Caballo«, also wird »caballista« ein Reiter sein. Ich ging auf ihn zu, fragte, und er antwortete: an jedem Samstag um sieben Uhr morgens sei Gottesdienst.

Sieben Uhr ist keine angenehme Stunde. Aber was half's? Ich sprang im nachtschlafenden Morgengrauen aus den warmen Federn von Pachuca, um dem kühlen Sabbat entgegenzugehen. Ich machte mich, wie ich gestehen muß, auf etwas Groteskes gefaßt, war ein wenig ironisch gestimmt. Ein altes Chanson ging mir durch den Kopf, das in den Zeiten harmloser Jargonkomik im Schwang gewesen ist: Mit indianischem Federschmuck in ostjüdischen Schläfenlocken, in der Kriegsbemalung der Apachen und mit dem Gebetkragen, den man 202 in der Synagoge trägt, sprang der Wiener Komiker Eisenbach auf die Brettlbühne und schmetterte:

Mein Vater war ein klaaner
Jüdischer Indianer,
Meine Mutter, tief in Texas drin,
War eine koschere Gänzlerin . . .

Als ich in Venta Prieta ankam, kam ich zu früh. Einige Indios oder Mestizen, von anderen Indios oder Mestizen durch nichts unterschieden, standen in Leinenhosen, Hemd und Sandalen im Novembernebel herum. Einer, untersetzt und in einen rotwollenen Sarape gehüllt, war Señor Enrique Téllez, der Vorsteher der Judengemeinde, an den ich mich zu wenden hatte, um authentische Auskünfte zu bekommen. Außerdem ist Señor Téllez der vermögendste Mann im Dorf, was an sich noch keinen Reichtum bedeutet.

Venta Prieta besteht aus hundertfünfzig Menschen und dementsprechend wenig Häusern. Zwei Drittel der Einwohner sind Otomi-Indios, wenn auch nicht mehr reinrassig. Sie arbeiten in den Bergwerken von Real del Monte, bebauen die Maisfelder hinter dem Dorf oder züchten »havadas«, Perlhühner, die gleich ihren Besitzern Produkte von Rassenmischung sind.

Nur auf der einen Seite der Landstraße stehen Häuser, sie sind aus Adobe, Straßenkot und Pferdedreck zusammengeklatscht. Das einzige Steingebäude ist die Schule. Auf der anderen Seite der Landstraße dehnt sich grenzenlose Ebene: Militärlager und Flugplatz für eine Nebenstrecke nach Guajutla in der Gegend von Tampico. Ein Kasernenblock schimmert aus der Ferne herüber.

»Das dritte Drittel«, sagt mir Señor Enrique Téllez, »sind wir Juden, 37 Erwachsene. Wir sind nur eine große Familie oder eigentlich zwei miteinander verschwägerte, die Téllez und die González.«

»Sind Sie schon lange hier?«

»Kaum zwei Generationen. Früher lebten wir in Zamora, im Staat Michoacán. Dort brach vor vierzig Jahren ein 203 Judenpogrom aus, die Leute bemächtigten sich meines Großvaters mütterlicherseits, Roman Gison hieß er. Sie verlangten von ihm, daß er sich taufen lasse und seinen alten Glauben verhöhne. Als er sich weigerte, nähten sie ihn in eine Kuhhaut und legten ringsherum Feuer an. Die Kuhhaut schrumpfte zusammen und zerdrückte auf diese Weise meinen Großvater. Alle Juden flüchteten aus Zamora. Mein Vater fand diesen Rancho hier, der zu einer entfernten Hacienda gehörte. Der Boden ist ganz trocken, nur spröde Schollen. Aber mein Vater kaufte ihn, weil hier sonst keine Häuser standen, – er wollte nicht mehr in einer Stadt oder auch nur in einem Dorf leben.« Don Enrique deutet hinter sich: »Da bin ich geboren.«

»Da« ist ein Haus, nicht minder verfallen und vernachlässigt als die anderen, aber größer. In regem Verkehr bewegen sich Lebewesen in und aus dem Hof, Perlhühner, Kinder, ein Pferd und viele Hunde. Während der Unterhaltung, die Don Enrique und seine Gruppe mit mir führen, steckt eine schwarze Kuh ihren Kopf aus dem Tor, blökt von Zeit zu Zeit, wie um vor mir zu warnen, und wagt sich nicht aus dem Hof, als hege sie in ihrem Euter tiefes Mißtrauen gegen mich.

Ich schaue auf meine Uhr. Don Enrique sagt: »Der Gottesdienst wird bald beginnen; sehr pünktlich sind wir nicht. Die Frauen müssen noch das Frühstück für ihre Männer zurechtmachen, die zur Arbeit gehn.«

»Arbeiten Sie am Samstag?«

»Das geht nicht anders.«

»Wie können Sie da am Gottesdienst teilnehmen?«

»Deshalb haben wir dreimal Betstunde, wir kommen in drei Schichten.«

»Halten Sie selbst den Gottesdienst ab, Señor Téllez?«

»Nein, ich versteh' nicht viel davon. Unser Rabbi ist ein Abessinier –«

»Ein Abessinier? Wie kommt ein Abessinier nach Mexiko?« 204

»Er lebt als Bäcker in Pachuca. Ein junger Mensch, der sich sehr für Religion interessiert und die Bibel kennt. Er liest sogar hebräisch. Gleich wird er da sein.«

Don Enrique zählt auf, welche religiösen Gebräuche die Gemeinde einhält. Sie fasten am Jom Kippur, – »am Ayuno Mayor«, übersetzt er mir, damit ich's verstehe. Ostern essen sie Mazzos, – »galletas de la semana santa« übersetzt er, was ich meinerseits mit »Waffeln der heiligen Woche« übersetzen würde.

»Auch das Neujahrsfest feiern wir und fasten am Jahrestag der Tempelzerstörung. Wir essen kein Schweinefleisch. Geflügel und Vieh schlachten wir koscher.«

Ich frage, ob Zirkumzision vorgenommen wird. »Ja, aber wir haben keinen Beschneider hier. Wir bringen die neugeborenen Knaben nach der Hauptstadt zum Señor Klipper.« Bei Gott, auf diesen onomatopoetischen Namen hört der Beschneider von Mexiko.

Neben der schwarzen Kuh, die noch immer aus dem Toreingang mißtrauisch zu mir herüberschaut, steht ein blonder Norwegerjunge, etwa vier Jahre alt, und sieht ebenso mißtrauisch zu mir herüber.

»Komm her«, ruft Don Enrique dem Norwegerjungen zu. Aber statt zu gehorchen, jagt der Judenbub davon. »Das ist mein Neffe«, sagt Onkel Heinrich, »ich wollte, er soll Ihnen seinen Namen sagen.«

»Wie heißt er denn?«

»Er heißt Reubeni. Alle unsere Kinder haben Namen aus dem Alten Testament: Elias, Abraham, David, Saul die Knaben, und die Mädchen heißen Rahel, Rebekka oder Sara. Wissen Sie, daß auch die Witwe von Francisco Madero ›Sara‹ heißt?«

Ich hatte schon in Mexiko gehört, daß die Märtyrer der nationalen Freiheit, die Brüder Francisco J. und Gustavo Madero illegale Juden gewesen seien, und ebenso die in New York lebende Witwe, eine geborene Pérez, was ein typischer Name 205 der spaniolischen Juden ist. Die Brüder Madero sind nicht die einzigen großen Männer, denen jüdische Abstammung nachgesagt wird, die Inquisition hat viele Opfer, um sie herabzusetzen, als »judaizante« bezeichnet, »zum Judentum neigend«. Selbst der Vater der Nation, der Pfarrer Miguel Hidalgo, steht als »judaizante« in den Inquisitionsakten.

»Unsere Kinder«, fährt der Gemeindevorsteher fort, »gehen in die allgemeine Schule. Haben Sie schon die Schule gesehen? Die ist schön, nicht wahr? Vor ein paar Jahren verlangten die ›Cristeros‹ (eine kleriko-faschistische Bewegung), daß Venta Prieta eine Kirche bekomme. Darauf wandten sich die Dorfbewohner – hier leben meist Bergleute, und alle sind gewerkschaftlich organisiert, also keine Antisemiten – an die Regierung, man möge ihnen lieber eine Schule geben, weil das Dorf bereits eine Kirche habe. Daß es eine jüdische Kirche war, haben sie nicht gesagt. Wir bekamen die Schule, unter dem Präsidenten Ortiz Rubio wurde sie eröffnet. Einer unserer Jungen, der Saúl González, geht übrigens in die Schule des Militärlagers drüben. Am Flugplatz arbeitet auch einer von uns, er hat zuerst als Mechaniker ausgeholfen und dann die Pilotenprüfung gemacht.«

Don Enriques Wissen über die Geschichte der Juden in Mexiko beschränkt sich darauf, daß er den Namen Carbajal kennt, des Portugiesen, den Philipp II. nach Neu-Spanien schickte, um die aufständischen Küstengebiete am Golf zu pazifizieren. Luis Carbajal der Ältere brachte hundert Marannen-Familien mit, und von diesen leiten die mexikanischen Juden ihre Herkunft ab. Sie verehren jedoch vor allem seinen Neffen »Carbajal, el Mozo«, der mit Mutter und Geschwistern in den Verließen der Inquisition gemartert wurde, sich aber vom mosaischen Gesetz nicht abbringen ließ. Am 5. Dezember 1596 stand er mit seiner ganzen Familie auf dem Scheiterhaufen, fünfundvierzig Juden; in diese Zahl sind die Toten nicht eingerechnet, deren Gebeine aus dem Friedhof gescharrt worden waren, und nicht die Flüchtlinge, die man nur in effigie 206 verbrennen konnte. Auch ein Deutscher stand auf dem Gerüst, als unbekehrbarer Lutheraner war er in den Kerker der Inquisition geworfen, aber dort von Carbajal – zum Judentum bekehrt worden. Luis Carbajal el Mozo und die Seinen gingen als unbußfertige Juden in Flammen auf.

Von seiner eigenen Generation weiß Don Enrique mehr zu erzählen: »In Michoacán hatten wir einen Rabbi, der war nicht bartlos wie die Indios sind, sondern trug einen großen, silbernen Bart, die Bauern nannten ihn ›Bischof der Juden‹. Manchmal fuhr er zu anderen Judengemeinden, um zu predigen. In unserer Umgebung gibt es keine Judengemeinde außer uns. Die nächste ist zwei Stunden Eisenbahnfahrt von hier, in San Agustín de Zapoctla, einem Dorf im Staat Mexiko. – Ah, da kommt unser Rabbi. Hola, Etiope!«

Der angerufene Äthiopier tritt auf uns zu, in der Hand trägt er ein sorgfältig mit Bindfaden umwickeltes Paket. Weil ich es weiß, stelle ich sofort fest, daß er ein typischer Falascha aus Abessinien ist. Im Judenchristentum der Falaschas scheint die jüdische Tendenz zu überwiegen, denn im Ausland werden die Falaschas meist Juden, in Haarlem-New York sah ich ihre große Synagoge, und nun treffe ich hier einen Rabbi aus ihrem Stamm.

Er heißt Guillermo Peña, ist kaum dreißig Jahre alt, in Mexiko geboren, und versteht nur wenige Worte Kuara, der Falascha-Sprache. Guillermo Peña lebt mit seinem Vater in Pachuca, wo er so viel Brot bäckt, wie er selbst austragen kann, demnach nicht viel. So hat er Zeit, im Selbstunterricht hebräisch zu lernen und die Bibel zu lesen. An jedem Samstagmorgen kommt er nach Venta Prieta, ohne Vergütung, hält den Gottesdienst ab und gibt Religionsunterricht. Dieser Rabbiner ist ein schüchterner, verlegener Mensch, der mir nicht gerne Rede steht und froh ist, als ich seiner wiederholten Aufforderung folge, in den »jardincito« einzutreten.

Mit »jardincito« ist das von roten Ziegeln umgebene Gärtchen gemeint, und auch das Bethaus darin. Es mag höchstens 207 vierzig Personen fassen. Von der Decke der Betstube baumelt eine Spirituslampe. Ein ärmliches Pianino in der einen Ecke, in der andern eine Schultafel mit hebräischer Kursivschrift bekreidet und als zweites Lehrmittel ein ramponierter Globus zur Veranschaulichung der biblischen Geographie. Drei Vasen aus Spiegelsplittern, Papierblumen darin, sollen das Pianino verschönern.

Auf der bestickten Decke des Altartisches steht eine Kerze (statt eines siebenarmigen Leuchters), ein Glas (statt eines goldenen Bechers), und statt einer pergamentenen, handgeschriebenen Thorarolle liegt ein Foliant: Altes und Neues Testament in spanischer Sprache, herausgegeben von der Bibelgesellschaft. Wahrlich, dieses Buch paßt von keinem Standpunkt aus hierher; weder anerkennt die Judengemeinde das Neue Testament, noch hat die Bibelgesellschaft das Buch deshalb gedruckt, damit es den Juden behilflich sei, in ihrem Glauben zu verharren.

Getünchte Wände. Eine ist mit einem Davidstern bemalt; ihn halten zwei Löwen mit mähnenumwallten Köpfen und nackten Körpern. Ferner sind, in Ermangelung wirklicher Armleuchter, zwei solche an die andere Wand gemalt aber – wenn schon, denn schon – ihre Postamente und die .Kerzen sind mit allerhand Emblemen verziert. An der Frontwand dominiert das »Höre Israel« auf hebräisch und spanisch: »Oye, Israel, el eterno es nuestro dios, el eterno uno es.«

Don Guillermo hat ängstlich meine Musterung der Fresken verfolgt, und da ich nach dem Maler frage, erwidert er ein zaghaftes »ich«, dem er hinzusetzt: »Ich bin Bäcker, Señor.«

»Die Bilder sind sehr schön, insbesondere die hebräischen Schriftzeichen«, nickte ich leutselig, und sehe sein afrikanisch dunkelbraunes Gesicht erröten. »Ich bin Bäcker, Señor«, flüstert er wieder.

Don Guillermo ist vielleicht kein Maler, aber er ist auch nicht bloß ein Bäcker. In erster Linie ist er ein Priester, wie man erkennt, wenn er liebevoll sein Bündel aufschnürt und dessen 208 Inhalt ausbreitet, Gesangsnoten und Gebetbücher mit vielen Lesezeichen versehen. Dann kommt aus einem Säckchen ein weißer Schal hervor, der den Rabbi sofort umhalst, und ein Käppi, das sich ihm auf den Hinterkopf schmiegt.

Die versammelte Gemeinde besteht aus dreizehn Menschen mosaischer Konfession, also um drei mehr als die vorgeschriebene Mindestzahl. Dennoch machen die Dreizehn kein gebetberechtigtes Kollegium aus, weil Frauen und Kinder nicht zählen. Aber kann Jehovah das so genau nehmen in Mexiko, wo die Seinen jahrhundertelang furchtbaren Drohungen und milden Lockungen standhielten?

Von Hütte zu Hütte hatten sie einander die Parole zugeraunt: »Lasset uns beten«, mit der Angabe wo und wann. Nur im Dschungel war Raum für den Gottesdienst. Auf dem Weg dorthin konnte man von Pfeilen getroffen oder von Sbirren der Inquisition gefaßt werden, man konnte in den Krater stürzen oder zerfleischt werden von wilden Tieren. Kam nun einer nicht an, vielleicht der Zehnte, sollten da die Neun unverrichteter Glaubensdinge auseinandergehen? »Ach was, lasset uns beten«, sagten sie und taten es. Und weil Jehovah damals durch die Finger sah, so ist in Mexiko ein Minjen auch dann ein Minjen, wenn weniger als zehn Männer versammelt sind.

Heute sind vier Männer da. Außerdem vier Frauen oder Mädchen. Diese sind es, die das Altartuch mit Blumen und Bibelsprüchen bestickt haben, und nun unterbrechen sie mit Gesang die eintönig gemurmelten Texte der Gebete. Die Kinder singen mit, unter ihnen der vor mir davongelaufene norwegisch-jüdisch-indianische Reubeni Téllez und der neunjährige Saúl González, der in die Militärschule geht, ein zukünftiger mexikanischer General.

Der Gottesdienst war einfach, aber im Grunde ein Sabbatgottesdienst wie anderswo auch. Am Schluß stellte sich die Gemeinde vor dem Altartisch auf zum Totengebet. Dieses Gebet dürfen Kinder nicht sprechen, bevor sie durch die Konfirmation in die Religionsgemeinschaft aufgenommen 209 sind. Hier aber traten zwei Knaben, wahrscheinlich Waisen, gleichzeitig mit den Erwachsenen vor, – eine andere der Ausnahmen, die Gott für das Dorf Venta Prieta in Mexiko bewilligt hat.

Auch ich trat vor, schloß die Füße aneinander und sprach nach, was der Rabbi uns vorsprach, nur die Namen seiner Toten fügt jeder Betende selber ein.

Mein Vater und meine Mutter waren in Prag geboren, lebten dort, starben dort und sind dort begraben. Niemals konnte ihnen in den Sinn kommen, daß einer ihrer Söhne den Totenspruch für sie in einer Gruppe von Indios sprechen werde, im Schatten der silbertragenden Berge von Pachuca. Meine Eltern, die ihr Leben im Bärenhaus der Prager Altstadt verbrachten, ahnten nicht, daß ihre Söhne einmal aus dem Bärenhaus verjagt sein würden, nach Mexiko der eine, nach Indien der andere, und die beiden, die dem Hitlerterror nicht entfliehen konnten, in unbekannte Stätten unvorstellbaren Grauens. Meine Gedanken schweifen weiter, Verwandte, Freunde, Bekannte und Fremde, Opfer Hitlers, alle haben Anspruch darauf, daß ihrer im Totengebet gedacht werde.

Ein Zug von Millionen. Frauen und Männer, die sich Zeit ihres Lebens darum gesorgt, ihre Familien zu ernähren und ihre Kinder zu nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen; Angestellte und Arbeiter, die sich im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienten; Ärzte, die Tag und Nacht bereit waren, Leidenden zu helfen; Menschen, die bemüht waren, die Wahrheit zu verbreiten und die Lage ihrer Mitmenschen zu verbessern; Gelehrte, die der Wissenschaft lebten; Künstler, die dem Leben Schönheit geben wollten; Kinder, die sich ihre Zukunft so wunderbar träumten . . . alle Arten von Menschen, lebensfrohe und sentimentale, gute und schlechte, starke und schwache.

Unübersehbar, unaufhörlich ist ihre Reihe. An kalten Fratzen vorbei wanken sie dem Ziele zu. Dort steht es, ein rauchender Bau. Alle wissen, was dieser Bau bedeutet, woraus 210 der Rauch besteht, der aus dem Schlot aufsteigt. Es ist die Todesfabrik, sie fabriziert Leichen. Mit welchen Gedanken bewegt sich diese Armee der dem Mord Geweihten diesem Ziele zu? Keine Hoffnung mehr, keine Hoffnung mehr für sich, für ihre Kinder, für ihr Angedenken, kaum Hoffnung mehr auf Rache, auf Bestrafung des Massenmords. Sie müssen sich in das Tor schieben, sie müssen sich entkleiden, sie müssen in die Kammer gehen, wo ein fürchterliches Gas sie erwürgt, verbrennt, auflöst. Aus dem Schlot steigt Rauch.

Unübersehbar ist die Kolonne, sie zieht dahin, als hätte es nie eine Menschheit gegeben, als hätte es nie einen Sinn der Menschheit gegeben, niemals das Streben, mehr Brot, mehr Recht, mehr Wahrheit, mehr Gesundheit, mehr Weisheit; mehr Schönheit, mehr Liebe und mehr Glück in die Welt zu bringen.

Als letzter trete ich weg vom Altar, zu dem ich mich vor einigen Stunden so gut gelaunt aufgemacht hatte. 211

 


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