Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Interview mit den Pyramiden

Im allgemeinen ist es schwer, ja unmöglich, mit Pyramiden ins Gespräch zu kommen. Will man sich aber dem Beruf eines Pyramiden-Interviewers widmen, dann darf man sich durch Unmöglichkeiten nicht abschrecken lassen, muß daran denken, daß eine Pyramide immer etwas zu sagen hat, einmal, weil in ihrem Innern eben ein Fund gemacht, ein andermal, weil sie, die Pyramide, überhaupt erst jetzt entdeckt wurde.

Solche Entdeckungen sind im Konkurrenzland, in Ägypten, nicht möglich. Übergangslos richtet sich dort die Pyramide aus der Wüste auf, sie kann ihren Kopf nicht in den Sand stecken, so nahe der Sand auch liegt. Und sie will gar nicht. Ist es doch ihre raison d'être, sich von der unendlichen Horizontale zu lösen, sich aus der Fläche in den Raum zu heben.

Anders in Anahuac, dem Hochtal von Mexiko. Hier ward nicht auf Sand gebaut, und der Bauplatz war nicht so glatt zu haben. Häufig erhoben sich neben den künstlichen Hügeln und Bergen natürliche Pyramiden: Hügel oder Berge. Diese Nachbarschaft rettete vielen der künstlichen Pyramiden das Leben, als die Anti-Pyramiden-Menschen nach ihnen fahndeten, um sie zu demolieren. Manchenorts taten schon vor Einlangen der europäischen Tempelstürmer die Vulkane das Tarnungswerk, sie bargen die Pyramiden unter Lava.

 
I

So erging es der Rundpyramide Cuicuilco, welche bis jetzt das älteste Bauwerk Amerikas ist. Deshalb ist sie die erste, 62 die der Interviewer aufsucht auf ihrem weitläufigen, unheimlichen Grundstück von Basaltblöcken und Lavastücken am Südrand der Stadt Mexiko, dem Pedregal.

Zunächst fragt er die Pyramide nach ihrem Alter. Sie schweigt. Der Kustos, der seine Hütte in ihren Schatten gebaut hat, beharrt darauf, daß seine Pyramide achttausend Jahre alt sei. Geologen haben die Lavaschichten geprüft, in denen sie steckt, und ihre Aussage widerspricht nicht der lokalpatriotischen des Kustos. 8000 Jahre!

»Wann hat der Ajusco Sie verschüttet?« fragt der Interviewer in die Höhe hinauf.

»Es war nicht der Ajusco«, faucht es von oben herab.

Der Ajusco ist der Riesenberg an der Peripherie der Stadt Mexiko. Sonntagsziel der Alpinisten (die in Lateinamerika »Andenisten« heißen, weil hier die Anden immerhin näher liegen als die Alpen). Des Ajusco feuerspeiendes Vorleben scheint sich noch manchmal zu regen, wenigstens melden es Bergsteiger den Zeitungen. Bei dieser Gelegenheit wird die Vergangenheit des Ajusco hervorgeholt. Schon einmal habe er die Hauptstadt vernichtet, die damals südlich von der heutigen stand. Nichts blieb von der Stadt als das Geröll, das sie begrub: der Pedregal, und derjenige, der die Tat verübte: der Ajusco.

Und nun erfährt der Interviewer von authentischer Seite: »Nicht der Ajusco.«

Nicht der Ajusco? Wer sonst?

»Der Xitli.« Haßerfüllt klingt diese Anklage gegen Xitli, den harmlos auf der anderen Seite der Landstraße stehenden Hügel. Der also ist es, den sein Ebenbild von Menschenhand bezichtigt, er habe sie in siedender Lava zu ertränken versucht.

Viel Galle hat der Xitli in seiner Wut gegen den Promethidenbau von nebenan gespien, – nicht weniger als zehn Meter dick ist das Lavafeld rings um die Pyramide. Aber sie 63 stand auf einem Hügel, der sieben Meter hoch war, und so vermochte der Vulkan die Pyramide kaum bis zur Kniehöhe zu verschütten.

Vielleicht hätten die Einwohner ihren Tempel von dieser Fußfessel lösen können, – wenn es noch Einwohner gegeben hätte. Es gab sie nicht mehr. Sie lagen unter der zehn Meter dicken Grabplatte. Wohl waren manche zur steinernen Mutter geflüchtet, hatten versucht, ihren Leib emporzuklimmen, aber tödlich drangen der Hauch des Schwefels und der Qualm des schmelzenden Gesteins hoch über die Kegelspitze hinaus. Hätte jemand da oben das Ende des Feuerregens überlebt, so wäre er nachher verhungert und verdurstet, denn durch das schäumende Lavameer konnte kein Helfer nahen.

Ehe die Wellenringe der Lava erkalteten und zu den schwarzen konzentrischen Kreisen wurden, auf denen man sich heute bewegt, vergingen Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende. Wie viele? Die Pyramide weiß es, aber nachdem sie die Beschuldigung ausgestoßen, daß der Xitli ihr Mörder war, hüllt sie sich wieder in Schweigen.

 
II

Des Pyramiden-Interviewers nächstes Ziel ist Teotihuacan, denn dieses rangiert der Anciennität nach unmittelbar hinter Cuicuilco, obwohl der Altersunterschied viele hundert Jahre beträgt. Teotihuacan hat vom Jahre 250 nach Christi bis 750 als religiöses Zentrum bestanden, wie durch Korrelation des Maya-Kalenders mit dem des Abendlandes festgestellt wurde. Heute ist Teotihuacan die Attraktion für den Fremdenverkehr, und wohl deshalb findet der Interviewer hier eine weltmännische, freundliche Aufnahme.

Die Sonnenpyramide, eine hochgewachsene Erscheinung, fragt nach seinem Begehr, wenngleich sie hinzufügt, 64 allzugroße Enthüllungen habe sie nicht zu machen, weil ihr die Archäologen schon alle Geheimnisse entlockt haben.

». . . oder fast alle«, verbessert sie sich. »Immer wieder finden sie neue Dinge, oftmals solche, die ich selbst schon längst vergessen hatte. Vor ein paar Wochen legte man hier Fresken bloß mit hunderten realistisch gemalter Figuren aus der Welt Tlalocs. Sie müssen wissen, daß Tlaloc keineswegs nur Regenmacher, sondern auch der Herr allen Wassers war. Ihm unterstanden die Ozeane und die Wolken, die Wassersucht und die Ertrinkungsgefahr, der Durst und der Schweiß, die Flüsse und die Brunnen, die Kanäle und die Aquädukte, der Tau und das Gewitter, die Fische und die Muscheln, die Boote und die Schwimmer, die Wasserpflanzen und die Wasservögel.

Wer unter seinem Zeichen starb, starb unter gutem Zeichen, denn Tlaloc regierte ein eigenes Paradies, den lustigsten Garten Eden, den Sie sich vorstellen können. Keine pausbackigen Engel, keine geflügelten Seelen mit gefalteten Händen, kein Posaunengeblase und Harfengeklimper, – nein, ein richtiges Lausbubenparadies. Da packen zum Beispiel vier Männer einen fünften bei den Gliedmaßen und werfen ihn in die Luft, haben Sie schon erlebt, daß Dahingeschiedene sich so unseriös benehmen? Hauptbeschäftigung der Entschlafenen ist es, einen Ballschläger in der Hand, sich lachend dem Spiel hinzugeben. Wenn einer zu Boden fällt, lacht er, wenn einer duscht oder ins Wasser hopst, lacht er erst recht, und die Lieder, die gesungen werden, müssen übermütig sein nach dem Gaudium der Zuhörer zu schließen.

Nur einen werden Sie in diesem Totenreich nicht lachen sehen, und der ist der komischeste von allen. Mit einem Totenzweig in der Hand tritt er über die Schwelle, direkt von seiner Beerdigung kommend und noch schluchzend über seinen Tod. Schauen Sie sich die Fresken an, Sie werden sie Ihr Lebtag nicht vergessen, auch wenn Sie so alt werden sollten wie ich.« 65

Bei diesen Worten macht sie Anstalten, sich zu verabschieden oder besser gesagt, den Interviewer zu verabschieden, denn eine Pyramide, selbst eine sprechende, kann ihre Basis niemals verlassen. Der Interviewer aber möchte gerne etwas über sie selbst hören. Er nimmt den Schlußsatz von ihrem hohen Alter als Stichwort, um sie nach ihrem Leben zu fragen.

»Sie werden es paradox finden«, antwortet sie, »wenn ich Ihnen sage, daß eine Pyramide oder eigentlich ein Pyramidenstumpf derjenige Körper ist, der am wenigsten von sich sieht. Seit meinen ersten Lebensjahren habe ich meine schiefe Figur verflucht und mir gewünscht, prismatisch zu sein, zum Beispiel ein Turm. Was ich über mich weiß, weiß ich zumeist nur vom Hörensagen. Auf meinem Kopf soll ein Standbild der Sonne gestrahlt haben, mit einem ungeheuren Herzen aus purem Gold. Ich kann das weder bestätigen noch dementieren. Große Porphyrmassen wurden zwar an mir emporgezogen, aber was mit ihnen auf der Plattform geschah, davon sah ich nichts. Oberhalb meines Gipfels beginnt das Reich der Luft, – ein fremdes Ressort.

Allerdings habe ich lange genug die Vorgänge auf meinem Gegenüber, der Mondpyramide, beobachten können. Auf mir wird es wohl im Gold des Sonnenlichts nicht viel anders zugegangen sein wie drüben im Blau des Mondscheins. Menschenopfer, geschmückt mit Blumen, stiegen hinan, entherzt und dennoch in edler Streckung stürzten sie herab. Heutzutage sind es nur Touristen, die rasch und neugierig unsere Treppen hinaufgehen. Auf dem Rückweg aber, wenn das Abwärts zum Vorwärts wird, packt die Besucher der Schwindel. Noch aufgeregt von den blutrünstigen Schilderungen des Fremdenführers, ist ihnen zumute, als würde ihnen selbst das Herz aus dem Leib gerissen und ihre irdische Hülle rolle in makabren Purzelbäumen die Stufen hinunter. Aber schreiben Sie diese Bemerkung nicht auf, sie könnte unserem Fremdenverkehr schaden. Es gibt so 66 viel anderes über uns zu schreiben. Wir waren die heilige Stadt, in der die Toten zu Göttern wurden, wie der Name Teotihuacan besagt. (Das Wort ›Teo‹ bedeutet ›Gott‹, seltsamerweise wie im Griechischen.) Hunderttausende wallfahrteten hierher, es gab Opferfeste, Tempel und Paläste von unvorstellbaren Ausmaßen und einer Schönheit, die Sie noch im Trümmerwerk erkennen können. Aber das ist ja allgemein bekannt, viel ist darüber geschrieben worden.«

 
III

Nicht allgemein bekannt, nicht viel geschrieben worden ist über die Pyramide von Tula im Staat Hidalgo. Die könnte der Interviewer, zumal wenn er ein Prager ist, die »Alt-Neu-Pyramide« nennen. Der Sage nach ward die Prager Synagoge fertig aus der Erde gescharrt. Nachweislich und erst vor vier Jahren, geschah solches der Pyramide von Tula, und sie tritt dem Interviewer mit der ganzen Naivität einer Novizin entgegen.

»Ich«, beginnt sie, »ich war das Heiligtum der Stadt Tula, des Staates Tollan und der toltekischen Nation, – ich glaube, nach eurer Zeitrechnung muß das von 648 bis zum elften Jahrhundert gewesen sein. Ich war sehr gut gebaut, man betete mich an und auf meinem Leib wurden täglich Opfer dargebracht. Meine Tolteken waren gute und besonders tüchtige Leute, Architekten, Mechaniker und Astronomen, die den Priestern halfen, von meiner Höhe herab kommende Dinge zu verkünden. Nur leider gossen sich die Tolteken zuviel Pulque hinter die Binde.

Um das Jahr 1000 eurer Zeitrechnung verließen sie mich und zogen nach Yucatán. Dort hatte man die Spuren ihrer Kunstfertigkeit inmitten der Maya-Bauten schon gefunden, als man meine Existenz noch bestritt.« 67

Die Pyramide beklagt sich über die Zeit ihrer Verlassenheit: »Ein anderes Volk kam hier an in unserer verödeten Stadt. Das muß so um 1170 herum gewesen sein. Sie nannten sich Chichimeken, ›die aus dem Hundeland‹, und richtige Hundeländler waren sie auch, Barbaren. Für mich hatten sie überhaupt kein Auge. Was nicht seit dem Abzug des Toltekenvolkes von selbst verfallen war, das zerschlugen diese Hundsfötter und verwüsteten die Gegend so, daß von mir keine Spur übrigblieb.«

Hier irrt die Pyramide. Es waren Spuren übriggeblieben in den Kodizes, in den Chroniken und in den Überlieferungen. Ihnen sind die Gelehrten des 16. Jahrhunderts nachgegangen. Neben anderen Historikern, welche die vorspanische Ära erforschten, schrieb der getaufte Indioprinz Alva Ixtli-Xochitl über Tula, das Hofleben, die Regierung, das Volk, die Straßen und die Gewerbe. Und das wurde sein wissenschaftliches Verhängnis.

Denn – so entschied die Gelehrtenrepublik im nächsten Jahrhundert – es gab kein Tula, hatte nie eines gegeben, konnte nie eines gegeben haben. War es doch nirgends gefunden worden, soviel man auch gesucht hatte und so viele Siedlungen ungesucht aus der mexikanischen Erde stiegen. Immer mehr festigte sich die Ansicht, Tula wäre nur ein Sagenort wie die Ultima Thule des Vergil oder wie der Sonnenstaat des Utopisten Campanella, weil das Wort Tula gleichfalls Sonnenstaat bedeutet. Manche Archäologen behaupteten, Tula sei identisch mit Teotihuacan, das trotz seiner majestätischen Pracht und Größe in keinem Kodex erwähnt war. Andere hielten Tula für ein Synonym von Cholula, wieder andere glaubten, die Toltekenstadt sei das heutige Dorf Tule nahe der berühmten Pyramide von Mitla.

Jener Historiker Alva Ixtli-Xochitl wurde aus dem Pantheon der Gelehrsamkeit ins Ghetto der Dichter verwiesen; man warf ihm vor, er nehme aus nationaler Verblendung die Sage von Tula so wörtlich, wie europäische Historiker 68 die Sage von Troja, welche doch nur der Phantasie Homers entsprungen sei. Dieser Vergleich verstummte erst mit der Ausgrabung Trojas durch Schliemann. Aber die Verneinung von Tula verstummte nicht einmal, als 1885 beim Städtchen Tula de Allende im Staat Hidalgo eine Pyramide ausgegraben oder richtiger angegraben wurde.

Der Mann, der diese Angrabung unternommen hatte, war allerdings in Mexiko unbeliebt und verdächtig. Er hieß Desiré Charnay und hatte sich vor der französischen Intervention mit dunklen Aufträgen Napoleons III. in Mexiko herumgetrieben; zwanzig Jahre später kehrte er nach Mexiko zurück, um auf Kosten des franko-amerikanischen Millionärs Lorillard Ausgrabungen zu machen. Seinem Geldgeber zu Ehren taufte er eine Ruinenstätte im Gebiet der Lacandonen-Indios »Lorillard« – obwohl dieser Ort längst bekannt und »Yachtli« benannt war. Bei den Grabungen in Tula de Allende, wo er wahrscheinlich die Auffindung von Goldschätzen im Auge hatte, ging Charnay laienhaft und rücksichtslos vor, mehr beschädigend als findend. Seine Unternehmung, die er in die Wege leitete, ohne die mexikanischen Gelehrten zu befragen, mag diese in ihrer Ablehnung der Existenz von Tula noch bestärkt haben.

Erst 1940 traten mexikanische Altertumsforscher neuerdings mit der Theorie auf, die Hauptstadt Tula habe es gegeben und sie sei mit dem Städtchen Tula de Allende im Staat Hidalgo identisch. In der Sociedad de Antropologia kam es zu heftigen Zusammenstößen, von denen die Öffentlichkeit erfuhr. Nun bewilligte die Regierung Geld für Ausgrabungen bei jenem Tula, in das der Interviewer mit der Eisenbahn aus der Hauptstadt fährt, anderthalb Stunden, wenn man dem Fahrplan glauben will.

Er geht durch Straßen, über den Markt und in die Kirche. Obwohl er seine Augen in einen Röntgenapparat zu verwandeln versucht und obwohl er mehr weiß, als Bewohner und Besucher Tulas bis zum Jahre 1940 gewußt hatten, vermag 69 er in diesem Städtchen von zweitausend Einwohnern nichts anderes zu sehen als ein Städtchen von zweitausend Einwohnern. Weder die Anlage des Ortes noch die behauenen Steine und die Figuren aus der Umgebung hätten genügen können, in diesem Tula jenes Tula zu vermuten. Die archäologische Zone liegt abseits von jedem Wege, fern von jedem bewohnten Haus.

Von Dorfbuben begleitet, steigt der Interviewer hinter dem Ausgang des Städtchens hoch, zunächst entlang kleiner Magueyfelder, dann über brüchige Stollen mit Kakteen und schließlich gibt es nicht einmal mehr das. Unvermutet steht er vor einem überraschend gegliederten, hohen Pyramidenbau, der vor einer Sekunde nicht sichtbar war. Eine zweite Pyramide nebenan sieht der Interviewer auch jetzt noch nicht oder vielmehr, er schenkt ihr, da er sie für einen gewöhnlichen bebuschten Hügel hält, keine Beachtung.

Die nicht ausgegrabene Pyramide war der Sonne geweiht, die andere, die sich frei erhebende, ist die der Mondgötter. Sie allein rechtfertigt die Grabungen, sie allein genügt, den Jahrhunderte währenden Gelehrtenstreit zu entscheiden. Mit ihr zugleich wurde aber auch eine Reihe anderer Schätze gehoben, welche die Welt in Staunen versetzt hätten, wenn die Welt nicht gerade in diesen vier Jahren damit beschäftigt gewesen wäre, ausgerottet zu werden oder sich gegen die Ausrottung zu wehren.

In weitem Bogen sind die steinernen Schätze vor der Pyramide aufgestellt. Dem Interviewer, der in europäischen und amerikanischen Gedankengängen befangen ist, huscht die Frage durch den Kopf, ob diese Skulpturen nicht gefälscht seien, zum Beispiel die figuralen Basreliefs. Sie sind so verdächtig lückenlos. Oder die Mäander. Wie auffallend klar und scharf sie sind! Die fast fünf Meter hohen weiblichen Karyatiden, die sogenannten Atlanten. Ihre Gesichter, Körper und sogar ihre Gewänder sehen aus, als hätte sie ein Bildhauer von heute nach ägyptischen Modellen 70 gemeißelt. Die Indianer auf den Monolithen tragen ihren Federschmuck ganz anders als auf anderen Reliefs.

Schnell verscheucht der Interviewer den Verdacht. Fälschungen? Wer sollte hier fälschen und warum? All diese Wunderwerke stehen unbewacht auf entlegenem Hügel. Ungestört könnte das ganze auf Lastautos geladen und weggeführt werden. Wer sollte ein Stadion fälschen mit steinernen Sitzreihen, wer zwei enorme Pyramiden aufbauen und eingraben, um sie wieder auszugraben?

Die Pyramide macht den Interviewer zuerst auf ihren Fries aufmerksam. »Haben Sie die Jaguare genau angesehen, die Schmetterlinge, die Totenköpfe im Schlangenrachen? Zu meiner Zeit war das das Modernste vom Modernen. Heutzutage wird es nicht mehr getragen, man baut ja gar keine Pyramiden mehr. Haben Sie auch andere Pyramiden besucht? Sagen Sie aufrichtig, welche ist am besten gebaut? . . . Ach, Sie schmeicheln mir, heute bin ich nur eine Ruine. Mit dieser Wunde, dem Blinddarmschnitt eines Pfuschers. Er hat in mich hineingehackt, weil er in meinem Bauch eine goldene Glocke vermutete.«

Während Pyramide und Interviewer miteinander sprechen, beugt sich von der Plattform ein scharfes Indiogesicht lauschend herab. Ist Alva Ixtli-Xochitl gleichzeitig mit der Pyramide aus der Erde gestiegen, um sich nach vierhundertjähriger Verbannung und Verdammung seine wissenschaftliche Ehre wiederzuholen?

 
IV

Der Interviewer soll nunmehr nach Xochicalco. Er ist von der Hauptstadt aus achtzig Kilometer nordwärts gefahren, um nach Tula zu kommen, und jetzt soll er über die Hauptstadt hinaus weitere achtzig Kilometer nach Süden. Gibt es denn keine näheren Pyramiden? 71

Doch. Und zwei von ihnen, die von Cholula und die Schlangenpyramide, sind sogar die nächstwichtigen. Aber ein Pyramiden-Interviewer muß nach der Chronologie reisen.

Für die präcortezianische Ära gibt es kaum Jahreszahlen, keine Begriffe wie Steinzeit, klassisches Altertum, Mittelalter, Renaissance oder dergleichen; Geschichte und Kulturgeschichte werden nur nach den Fundstellen eingeteilt und benannt. Das einzige, was mehr oder minder feststeht, ist die Reihenfolge der Kulturen innerhalb einer Zone, und so kann man in Mexiko eine Rundreise durch die Zeitalter machen, aus Urgestern nach Heute. Diese Strecke fährt der Pyramiden-Interviewer. Seinen Lesern soll es nicht so ergehen wie den Touristen in Rom, die sich wundern, daß das Colosseum verfallener ist als die Peterskirche, welche sie doch vorher gesehen haben.

Nach Tula kommt Xochicalco, denn die beiden Pyramiden sind etwa gleichaltrig. Die von Xochicalco erklärt dem Interviewer, daß sie ursprünglich nur in stereometrischem, nicht aber in religiösem Sinn eine Pyramide war, aus rein strategischen Gründen über die Landschaft gesetzt, als Zitadelle, als Schanzwerk gegen den Feind.

Ungeachtet dieses Zweckes gibt es auf dem Mittelplateau Mexikos keine andere so reich skulptierte Pyramide. Die Ornamente und der Fries sind nicht stilisiert, so wild züngeln Schlangen und Flammen auf einer steinernen Staffelei, wie das, was sie vorstellen: die brennende Lava, die einst von feuerspeienden Götterbergen auf den Erdenmenschen herniedersprang.

»Mich hat ein Deutscher berühmt gemacht«, erzählt die Pyramide, »der Professor Eduard Seler aus Berlin, und ich habe ihn berühmt gemacht. Er war eigentlich Sprachforscher und nur nach Mexiko gekommen, um die Dialekte der Huasteca zu studieren. Mich lernte er zufällig kennen, weil er aus Höflichkeit die Einladung eines mexikanischen 72 Archäologen annahm, der eine Exkursion hierher machte. Als Seler über mich schrieb, glaubte man ihm zuerst nicht einmal die Illustrationen. Nachher, am Ende des vorigen Jahrhunderts, setzte eine Völkerwanderung zu mir ein. Jetzt ist es ruhiger um mich geworden, obwohl sich die Stadt Cuernavaca da unten zur meistbesuchten Sommerfrische entwickelt hat.«

 
V

Die Schlangenpyramide von Tenayuca, am Nordwestrand der Hauptstadt, spricht im pluralis majestatis, was den Interviewer wundert.

»Sie wollen wissen, was unsere Besonderheit ist?« sagt sie. »Obwohl der Zug der Konquistadoren an uns vorbeikam und uns genau sah, obwohl der Soldat Bernal Díaz uns in seinem Buch erwähnt, hat man uns nicht wiedergefunden. Vierhundert Jahre lang haben zuerst die Zeloten und dann die Forscher vergeblich nach uns gesucht, die wir doch fast in der Hauptstadt standen. Erst 1925 wurden wir entdeckt.«

Der Interviewer fragt, wieso man sie nicht früher fand.

»Nichts ist erklärbar, was die Götter tun. Sie haben der Natur befohlen, unserer Wachmannschaft eine Deckung zu geben. Wir hatten früher achthundert Mann . . .«

Jetzt sind es, wie der Interviewer gezählt hat, 138, noch immer ein dichter Kordon um die Pyramide, 138 stämmige Wachtposten aus dem Gezücht granitner Klapperschlangen.

»Nach der Götterdämmerung schoben sie Wache, genau so steinern stumm wie vorher. Keinerlei Aufmerksamkeit sollte auf uns gelenkt werden bis zu dem Tage, der uns unserem Lebenszweck wiedergeben würde.«

Der Interviewer fragt, was denn dieser Lebenszweck der Pyramide gewesen sei. 73

»Wir sind nicht eine Pyramide, wenn wir auch von außen so aussehen. Wir sind unserer acht. Je 52 Jahre lang diente jede von uns dem Zweck, dem alle Pyramiden dienen: Speere werfen und die Götter ehren. Von unserer Höhe herab wurden die Speere gegen den Feind geworfen. Dergestalt waren unsere Podeste angeordnet, daß man selbst einen nahen, einen emporklimmenden Feind treffen konnte, ohne die Freunde in unseren anderen Stockwerken zu verletzen. Und die Götter zu ehren war tägliche Funktion unseres Altars.

Trat aber eine von uns in ihr 52. Lebensjahr ein, dann wurde ihr Daseinszweck ein anderer, ein weit wichtigerer. Die Welt dauerte genau 52 Jahre, – es sei denn, daß die Götter ihr eine Verlängerung gewährten. Niemand auf Erden wußte, ob diese Gnadenfrist bewilligt werden würde, erst in der letzten Stunde des letzten Jahres sollte vom Schlangenaltar auf unserem Gipfel das Zeichen erfolgen. Rings um uns lagerte Finsternis, denn überall in der Welt waren die Lichter ausgelöscht worden. Atemlose Spannung herrschte in der Menge, wenn die Priester Steine aneinanderschlugen. Waren die Götter gnädig, so entstand Feuer. Ein ungeheurer Jubel begrüßte es: die Welt wird weiter bestehen! Zum Dank wurde über und um die alte Pyramide des alten Zeitalters eine neue des neuen gebaut. Somit hat unsere Bauzeit insgesamt achtmal 52 Jahre gedauert, nach euren Begriffen vom zwölften bis zum sechzehnten Jahrhundert.«

 
VI

Mit einer Kerze in der Hand geht der Pyramiden-Interviewer mitten durch den Leib der Pyramide von Cholula. Fünf Kilometer Gänge haben die Archäologen freigelegt, enge Gänge, die sich kreuzen und unregelmäßig verzweigen, in die Irre führen wie das Labyrinth von weiland Minotaurus. 74

Auch Cholula bildet ein Konglomerat von Pyramiden. Aber was in Tenayuca respektvolle Hinzufügungen waren, sind in Cholula feindselige Akte gewesen. Jeder Volksstamm, der Cholula überwältigte, setzte der besiegten Pyramide eine neue auf den Kopf. Und als wäre das nicht genug, wurden auch die Innenräume mit Steinen ausgefüllt, die Altäre und Statuen zerstört, die Fresken unter einer Lehmschicht begraben und sogar das System der Korridore unkenntlich gemacht.

Der letzte und gründlichste Feind, der auf das Sammelsurium der Tempel seinen eigenen stülpte, war die Kirche. Stolz erhebt sich das Santuario de Nuestra Señora de los Remedios dort, wo einst die oberste Plattform der obersten Pyramide war. Niemand würde vermuten, daß dieser Domhügel Menschenwerk sei, so sehr hat die Natur die Pyramidenflächen mit hellem Grün überwuchert und verwischt. Von außen gibt es die Pyramide von Cholula nicht mehr, die einst die mächtigste der Welt war, fast doppelt so breit wie die von Cheops. Von innen jedoch gibt es sie, denn eben ist der Pyramiden-Interviewer darinnen, schreitet durch die freigelegten Gänge und längs der Fresken.

Das Licht in seiner Hand huscht über Heuschrecke und Totenkopf, Totenkopf und Heuschrecke, und ängstlich merkt der Interviewer, wie die Kerze zusammenschrumpft, zum Rückweg kaum mehr ausreichen wird. Aber seine Neugierde siegt über die Angst, dereinst hier unten als Skelett aufgefunden zu werden. Er tritt in eine Kammer ein, in deren Mitte ein großer Würfel aus Lehm steht. Da er sein Licht kreisen läßt, sieht er einen hochgewachsenen Mann mit bleichem Antlitz und langem weißen Bart vor sich.

Erschrecken Sie nicht, sagt der Fremde, ich werde Sie zurückgeleiten. Dieser Würfel war früher ein Altar. Man opferte hier Blumen, Heuschrecken und Schmetterlinge. Menschenopfer galten als Frevel. 75

Wohnen Sie hier? stottert der Interviewer, nur um irgend etwas zu stottern.

Ich lebe schon sehr lange hier, antwortet jener. Eine Zeitlang war ich fort, bin aber wieder zurückgekehrt.

Weshalb sind Sie weggezogen, wenn man fragen darf?

Man muß fragen, wenn man den Weg der Weisen finden will. Ich war ein Priester in Tula, und lehrte meine Gläubigen den Anbau von Mais und Obst, die Künste der Töpferei, des Korbflechtens und des Webens. Meine Kollegen mochten das nicht leiden; die Alten eiferten wider mich, weil die von mir gelehrten Künste unkriegerisch und weibisch seien, die Neuen nannten alle Opferungen Blasphemie. »Statt Menschenfleisch bringt er uns Schmetterlinge«, riefen die Priester der Götter, »statt Geld bringt er uns Heuschrecken«, die Priester der Kirche.

Hat man Ihnen etwas zuleide getan?

Ich zog mich nach Cholula zurück und blieb hier. Zwanzig Jahre später wanderte ich zum Meer, von Schülern und Freunden begleitet. In Veracruz bestieg ich ein Schiff und fuhr davon. Leider mit dem Versprechen, wiederzukehren.

 
VII

Der Pyramiden-Interviewer war einmal ein Kind und hatte damals ein Buch mit vielen Bildern, das Orbis Pictus hieß. Darin war, wie dem Pyramiden-Interviewer heute einfällt, ein Bild des Göttertempels von Mexiko, das er mit Buntstiften ausfärbte. Sehr viele Indianer liefen in dem Bild herum. Sonst war nichts in dem Bild verständlich. Zum Beispiel eine Treppe. Die war nicht in einem Haus, wie sonst Treppen sind, sondern führte direkt in die Sonne hinein. Und dann gab es Häuser in dem Bild, die man nicht mit dem Baukasten machen konnte. Eines sah aus wie die Gasanstalt in der Vorstadt, von wo ein direkter Schlauch in 76 die Küche lief. Auch eine Schwimmschule war in dem Bild, aber es war nicht so sicher, ob es eine Schwimmschule war. »Meinetwegen ist es eine Schwimmschule«, brummte der Vater des künftigen Pyramiden-Interviewers, als dieser immer wieder fragte.

Heute könnte der Interviewer jene Pyramide aus dem Orbis Pictus selbst fragen, – wenn er sie finden würde. Er weiß aber, daß er sie nicht finden wird. Denn er hat seit dem Orbis Pictus andere Bücher gelesen, auch Mexikobücher, und in denen steht übereinstimmend, daß der Teocalli der Hauptstadt gründlicher niedergerissen wurde als alle anderen Tempel im Lande. Kein Steinchen und keine Spur sei mehr übriggeblieben, und genau auf der Stelle, wo er gestanden, sei die Kathedrale des neuen Glaubens aufgerichtet worden.

Daß die Spanier den Teocalli mit so besonderer Zerstörungswut behandelten, ist begreiflich. Haß und Rache traten zum Glaubenseifer, weil von dieser Pyramide des Königs, von diesem König der Pyramiden der Widerstand gegen die weißen Heilsbringer organisiert, und auf ihren Altären Christenmenschen den Heidengöttern geopfert worden waren.

Machtlos und von ferne mußte, wie Heine dichtet, der geschlagene Cortez seine gefesselten Mannen hinansteigen sehen

»auf den Tempel Vitzliputzlis,
Götzenburg von rotem Backstein,
seltsam mahnend an ägyptisch,
babylonisch und assyrisch,
kolossale Bauwerkmonstren,
die wir schauen auf den Bildern
unsers Briten Henry Martin.
Ja, das sind dieselben breiten
Rampentreppen, also breit,
daß dort auf und nieder wallen
viele tausend Mexikaner. 77
Diese Rampentreppen leiten
wie ein Zickzack nach der Plattform,
einem balustradenart'gen,
ungeheuren Tempeldach.«

Der Interviewer sucht in der Kathedrale nach einer Spur des »kolossalen Bauwerkmonstrums«, er hofft, wenigstens einen Baustein mit indianischen Zeichen zu entdecken. Nichts. Enttäuscht wendet er sich zum Gehen.

Da tönt es, wie aus dem Innern der Erde: »Hier bin ich«, und ergänzend: »Der, den du suchst.«

Wo?

»Geh die Fassade der Kirche entlang gegen Sonnenaufgang und dann nach Norden bis zur nächsten Straßenecke.«

Folgsam macht der Interviewer diese Route. Dort, Ecke der Straßen Argentina und Guatemala, an einer kümmerlichen Umzäunung, späht er zuerst um sich, dann in die Höhe.

»Du mußt nach unten schauen.«

In der Tat: durch die Holzumzäunung sieht er eine Baustelle, nein, keine Baustelle, eine Abbaustelle, einige Meter unter dem Straßenniveau. Sie ist der freigelegte Teil der Pyramidenbasis. Reste der schrägen Wände, steinerne Winkel von 45 Grad ragen wie zerbrochene Zähne eines Unterkiefers nach oben. Bruchstücke von Reliefs. Schutt aller Zeitalter. Köpfe von Federschlangen. Und ein Monolith, Quetzalcoatl darstellend.

Der Interviewer dankt der Pyramide, daß sie ihm den Weg zu sich gewiesen.

»Das tat ich, weil du ein Europäer bist. Bei euch drüben vollzieht sich zur Stunde das Heil, das ihr uns gebracht, an euch selbst. Eure Bauwerke, eure Menschen erleben jetzt noch Gräßlicheres als ich erlebte, obwohl euer Cortez nur ein lächerliches und klägliches Zerrbild des unseren ist. Es ist Zeit, daß wir einen Schreiber hinüberschicken, um eure Trümmer zu interviewen«. 78

 


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