Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Verwirrung einer Kaiserin

Im Zusammenhang mit der geistigen Erkrankung von Carlota, geborene Prinzessin von Belgien und verehelichte Erzherzogin von Österreich, sind eine Reihe von Giften beschuldigt worden, den Irrsinn herbeigeführt zu haben.

Der Motive für ein Attentat gab es so viele, daß die Tat geradezu als übermotiviert bezeichnet werden muß. Carlota bereitete ihre Abreise aus Mexiko im Sommer 1866 vor, zu einem Zeitpunkt demnach, da das Kaisertum ihres Gatten Maximilian hoffnungslos geworden, der Abzug seiner französischen Hilfstruppen beschlossene Sache und nahezu das ganze Land auf die Seite von Benito Juárez getreten war. Schon vorher war die Ausschaltung der Ausländerin, die ihren schwächlichen Gemahl zum Ausharren aufstachelte und den Bürgerkrieg verlängerte, für die Mexikaner ein Ziel gewesen, aufs innigste zu wünschen. Wie wünschenswert erst mußte ihre Ausschaltung sein, als sie sich zur Fahrt über den Ozean rüstete, um fremde Heereskräfte für eine neue blutige Intervention gegen das mexikanische Volk zu werben!

Die Verabreichung des Giftes dürfte kurz vor der Einschiffung erfolgt sein. Jedenfalls wird das erste Symptom in Puebla konstatiert, wo Carlota auf der Fahrt in den Hafen Veracruz übernachtet. In Puebla weckt sie mitternachts ihre Dienerschaft und begibt sich in deren Begleitung zum Haus des ehemaligen kaiserlichen Präfekten, der jetzt dieses Amt in Veracruz bekleidet. Carlota läßt sich das leerstehende Haus aufsperren, läuft durch alle Räume und kehrt in ihr Logis zurück, ohne eine Aufklärung über diesen merkwürdigen Besuch zu geben. Drei Tage später, am 13. Juni 1866, schon auf der Landungsbrücke des Schiffes »Imperatrice Eugénie«, 219 bemerkt sie die französische Flagge auf dem Mast. Carlota eilt zur Hafenleitung und verlangt im Ton höchster Erregung die Einziehung dieser Fahne und die Hissung der mexikanischen. Nachdem diesem Wunsch entsprochen wird, fährt sie aus Mexiko ab. Für immer.

Heftigere Wirkungen zeigen sich zwei Tage nach Carlotas Landung auf europäischem Boden. Während ihrer Zusammenkunft mit Napoleon III. hören Besucher des Parks von Saint Cloud ihr gellendes Schreien und verstehen die Worte: »Sire, Sie haben mich vergiften lassen.« Als sie am 27. September vom Papst in Audienz empfangen wird, wiederholt sie die Beschuldigung gegen Napoleon. Tags darauf fährt sie abends im Vatikan vor, schickt den Kutscher weg, stürmt die Treppe hinauf, wirft sich Pius IX. zu Füßen und fleht ihn an, sie im Vatikan schlafen zu lassen, da sie nur hier vor den von Napoleon gedungenen Mördern sicher sei. Alle Versuche, Carlota mit Güte oder Gewalt zu entfernen, scheitern an ihrem Widerstand, und schließlich wird ihr ein Bett in den Bibliothekssaal gestellt. Die Akten über diesen Vorfall melden, Carlota sei die einzige Frau, die jemals im Vatikan genächtigt habe. Bei der ärztlichen Untersuchung ihres Zustandes ergibt sich, daß Carlota schwanger ist.

Schwangerschaftspsychose? Sie wird zuerst nach Miramare und dann in ihr Schloß Bouchoute bei Brüssel gebracht. Der streng moralische Hof ihres mätressengesegneten Bruders Leopold II. von Belgien billigt Carlotas anderen Umständen den mildernden Umstand zu, daß sie in Mexiko mit einem Rauschmittel vergiftet und im Zustand der Umnachtung vergewaltigt worden sei. Man hofft, ihre Psychose werde gleichzeitig mit der Schwangerschaft enden.

Die Geburt des Kindes erfolgt am 12. Januar 1867. In dem zehn Jahre vorher geschlossenen Ehevertrag war die Erbfolge von dem Gesichtspunkt aus geregelt worden, daß Maximilian unheilbar zeugungsunfähig sei. Dennoch berät 220 man jetzt, ob man das Neugeborene als legitimen Sohn Maximilians ausgeben soll, der in Mexiko sitzt und von der Entbindung nicht benachrichtigt wird. Schließlich wird entschieden, das Kind nicht Maximilian, aber auch nicht nicht Maximilian zu nennen. Man tauft es »Maxim«. Es wird einem Notar Weygand an der belgisch-französischen Grenze zur Adoption übergeben, und nachher in ein französisches Militärinstitut gebracht; der Brüsseler Hof zahlt Schulgeld und Apanage. Ein halbes Jahrhundert nach seiner Geburt, im ersten Weltkrieg, wird Maxim Weygand Chef des französischen Generalstabs. Zu dieser Zeit lebt seine Mutter noch und noch immer im Irrsinn. Es ist also keine Schwangerschaftspsychose gewesen.

Anklagen und Beschuldigungen. Das Schicksal des kaiserlichen Körpers, der sechzig Jahre lang in den Hauptstädten und Badeorten Europas umhergeht, beschäftigt diesen aus Höfen und Hofgeschichten bestehenden Erdteil intensiv, und um das Kaiserpaar entsteht eine Literatur, die fast durchwegs Aristokraten zu Verfassern hat. Außerdem beeilt sich jeder, der einmal in Mexiko war oder etwas von Mexiko gehört hat, Antwort auf die Frage zu geben, welcher geheimnisvollen Droge das gekrönte Haupt zum Opfer gefallen sein mochte.

Am häufigsten wird Marihuana beschuldigt. Marihuana hat weit zurückreichende Vorakten. Ihren Namen aber führt sie erst seit der cortezianischen Ära, wie daraus hervorgeht, daß er sich aus zwei christlichen Taufnamen zusammensetzt: aus Maria und Juana. Sie ist die Vergifterin Mexikos, sie wird trotz aller polizeilichen Maßnahmen verkauft, insbesondere auf dem Markt im Barrio Juan Polainas (nahe der Schießschule an der Straße nach Puebla). Sie ruft neun Prozent der Autounfälle hervor und fast dreißig Prozent aller Verbrechen. Sie begnügt sich nicht damit, die »Crujía de los viciosos«, die Sektion der Toximanen, zur besetztesten Abteilung des Zentralgefängnisses zu machen, sondern dringt 221 auch auf raffinierte Arten in die Kerkerzellen. Andere Stimulantia wie Morphium, arabischer Haschisch, Äther, Kokain oder Heroin gehen auf reiche Kundschaft aus, Marie-Hannchen aber gibt sich billig her und an jedermann.

Sie ist ein Kind des Hanfs, dessen Anbau in Mexiko verboten ist, damit er der Hennequenfaser keine Konkurrenz mache. Dennoch wird der Hanf angebaut, macht der Hennequenfaser keine Konkurrenz, und würde sich sehr wundern, daß man ihn zur Gattung der Textilpflanzen zählt. In Mexiko ist er eine Genußpflanze.

Meist wächst er hinter Wänden von Maisstauden illegal heran. Die weiblichen Blüten werden zerrieben und geraucht; sie bewirken sozusagen eine Betäubung bei Bewußtsein. Kein Berauschter glaubt, daß seine Halluzinationen Wirklichkeit seien, aber er erfreut sich ihrer, weil er sich sonst nicht einmal ein so bescheidenes Ausmaß von Glück vorzugaukeln vermöchte. In seiner Leichtbeschwingtheit kann er sich nicht vorstellen, daß selbst eine Küchenschabe ohne Marihuana von der Stelle käme und singt deshalb:

La cucaracha, la cucaracha,
Ya no puede caminar,
Porque no tiene, porque le falta,
Marihuana que fumar.

Wenn man den Berauschten aus seinen Wachträumen weckt, wird er rabiat, imstande einen Mord zu begehen. Für eine Herrscherin aus Herrschergeschlecht kann jedoch das bescheidene Gaukelspiel von Marihuana keine besondere Gemütserregung bedeuten, geschweige denn sie in unheilbaren Wahnsinn stürzen. Marihuana, Sie sind freigesprochen!

Ein gewisser Camotillo (Beruf: Batate) wurde ebenfalls beschuldigt, die Vergiftung der Kaiserin verübt zu haben. Zuzutrauen wäre ihm das schon, denn er hat gerichtsbekanntermaßen wiederholt, vorsätzlich und mit tauglichen Mitteln Lähmungen des Nervensystems herbeigeführt, insbesondere politische Gegner und Liebesrivalen in unheilbare 222 Geisteskrankheit mit tödlichem Ausgang versetzt. Raffinierterweise scheidet dieser Giftstoff nach vollbrachter Tat aus, so daß er weder während der Krankheit noch nach dem Tode des Opfers festzustellen ist.

Der indianischen Medizin zufolge tritt der Tod so viele Tage nach der Verabreichung von Camotillo ein, als zwischen Ausgrabung des Knollens und seinem Genuß vergangen sind. Das heißt: wer Camotillo frisch aus der Erde ißt, stirbt auf der Stelle, wer ihn aufbewahrt hat, lebt, nachdem er ihn eingenommen, noch so lange, wie die Lagerfrist währte. (Chemische Untersuchungen ergaben, daß sich in der Tat die Giftstoffe allmählich verflüchtigen, sobald der Knollen ausgegraben ist.) Aber es gibt keine Batate, die sich sechzig Jahre lang halten würde, so lange wie sich Carlota nach der Vergiftung am Leben hielt. Auch ist nichts davon bekannt, daß bei ihr eines der Symptome von Camotillovergiftung zutage getreten wäre, weder Herzschwäche noch Entzündung der Darmschleimhäute. Freispruch für Camotillo!

Gegen Ololiuqui, das »Kraut der rollenden Augen«, spricht seine Vergangenheit. Ololiuqui, eine Abart des Pfeilkrauts, wurde früher als Rachegift oft benutzt, um lebenslänglichen Irrsinn zu verursachen. Die Vergifteten sahen mit ihren rollenden Augen, von denen die Pflanze ihren Namen hat, Begebenheiten der Zukunft voraus, weshalb Ololiuqui zur Salbung der Könige das seine beitragen mußte. Der Herrscher sollte mit hellseherischen Kräften begabt werden. Das Rezept der aztekischen Krönungssalbe (wie es im Kodex Ramírez steht), enthält alle Ingredienzien einer Hexenküche, so daß man versucht wäre, es ins mystische Versmaß der faustischen Blocksberghexe zu übersetzen. Aber im Rahmen eines kriminalistischen Berichts ist der Prosawortlaut angebracht: »Man mische Tabak mit lebenden Spinnen, Skorpionen, Kröten und Tausendfüßlern zusammen, zerstoße das alles mit einem Mörser und vermenge es vermittels eines Quirls. Dann setze man den gemahlenen Samen von 223 Ololiuqui bei, den man sonst verwendet, um Verlust des Verstandes herbeizuführen. Diesem Gemengsel füge man schwarze und behaarte Würmer bei, deren Haut allein giftig genug ist, knete es mit Ruß und koche es in Töpfen, stelle es an die Altäre der Götter, wodurch es zur göttlichen Mahlzeit wird, und salbe damit den Fürsten, damit er nunmehr vor Giften geschützt sei und mit Dämonen verkehren könne.«

Eine Phiole aus Fleisch und Blut, Mädchen als Giftwaffe, – diese teuflische Idee hat Maupassant einmal gehabt: eine Französin schenkt im Krieg von 1870 vielen deutschen Offizieren ihre Gunst und ihre Krankheit. Diese Methode hat das indianische Mexiko von Staats wegen angewendet. Schöne Mädchen wurden von frühester Kindheit an mit allmählich steigenden Dosen von Blutgiften infiziert, und wenn sie mannbar waren, in kostbaren Gewändern, mit Schmuck, Geld und Dienerschaft in die Residenz feindlicher Stämme geschickt. Gelang es dem Giftmädchen, einen Häuptling zu verführen, so starb er unter gräßlichen Qualen.

Ein Mittel zur Erzeugung von Scheintod, das Xomilxihuitl, brachte Sir Walter Raleigh am Ende des 16. Jahrhunderts (1595) nach England, wo die in Amerika bereits entdeckten Wunderelixiere die Hoffnung auf Verlängerung des Lebens hervorgerufen hatten. Aber wozu gab es eine Droge zur Erzielung des Scheintods, des unheimlichsten Zustands, in den ein Mensch verfallen kann? Und wenn das Erwachen aus dem freiwilligen Scheintod unterbleibt? Diese Fragen bewegten Shakespeare, als er Romeo zu voreiliger Verzweiflung verdammte. Die Wirkung von Xomilxihuitl ist es, die der Klosterbruder Lorenzo schildert, da er Julia die Droge einhändigt:

Dann rinnt sogleich ein kalter matter Schimmer
Durch deine Adern und bemächtigt sich
Der Lebensgeister. In dem gewohnten Gang
Ist jeder Puls gehemmt und hört zu schlagen auf. 224
Kein Odem, keine Wärme zeugt von Leben.
Der Lippen und der Wangen Rosen schwinden
Zu bleicher Asche. Deiner Augen Vorhang
Fällt, wie wenn der Tod des Lebens Tag verschließt.
Ein jedes Glied, gelenker Kraft beraubt,
Wird steif und starr, wie tot erscheinen.
Als solch ein Ebenbild des dürren Todes
Sollst du verharren zweiundvierzig Stunden
Und dann erwachen . . .

Oder auch nicht. Die Odds für das Wiedererwachen stehen fünfzig zu fünfzig.

Auf der Pazifikseite wurden am Abend des Ostersonntags 1932, in der Bai von Topolobampo, der »Tränke des Tigers«, einige Kisten mit Schnapsflaschen angeschwemmt. Der Alkohol war mit Xomilxihuitl versetzt, – vielleicht zum Schutz gegen Diebstahl durch die Schiffsmannschaft oder vielleicht um die Küstenbevölkerung zu betäuben und solcherart eine geheime Landung von ostasiatischen Einwanderern, Schmugglern oder Spionen zu ermöglichen. Yaqui-Indianer, die sich dort vom Fischfang mehr schlecht als recht ernähren, liefen aus der Umgebung herbei und tranken das Strandgut bis zur Neige leer. Am Ostermontag starben zwölf an Tetanus, und dreißig lagen wochenlang im Hospital fast ohne Atmung und Herztätigkeit. Die Mehrheit aber, über hundert Personen, die sicherlich dem Inhalt der Flaschen nicht minder eifrig zugesprochen hatten, erhoben sich nach Ablauf der shakespeareschen zweiundvierzig Stunden, am Aschermittwoch, aus ihrem Tode und wandelten kerngesund weiter durchs Dasein. Dieses widerspruchsvolle Resultat des Saufgelages am Meeresufer konnte die Yaqui-Indianer nicht überraschen. Sie wissen seit eh und je, daß die gleiche Dosis von Xomilxihuitl den einen umbringt und dem andern wohl bekommt, und rufen es deshalb als Gottesurteil an. – Kaiserin Carlota wurde aber nicht getötet, kein Symptom von 225 Starrkrampf ist an ihr beobachtet worden, und so sei hiermit auch die Untersuchung gegen Xomilxihuitl eingestellt.

Gewisse Liebestränke kommen für die Täterschaft in Betracht, da sie sowohl Verrücktheit wie jenen Zustand verursachen, in welchem eine Verführung Carlotas erfolgt sein könnte. Aus der kriminologischen Untersuchung muß man aber, um sich nicht im Unendlichen zu verlieren, jene Liebesmittel ausscheiden, die sozusagen zum Hausgebrauch gehören. Vor allem die auf den Märkten feilgehaltenen Kräuter »para hacerse querer – um geliebt zu werden«. Diese aphrodisiakischen Mittel werden in den unteren Volksschichten genau so viel verwendet wie in den gehobenen. Nebenbuhlerinnen teilen sich, wenn sie miteinander befreundet sind, ihre Bezugsquellen unfehlbarer Liebespillen mit, nicht aber die Adresse der Modistin.

In den Dörfern werden gefährlichere Aphrodisiaka nach Rezepten zusammengebraut, die der Curandera von ihren Urahnen mündlich überliefert sein sollen. Wehe der Käuferin, wenn das stimmen würde. Denn gegen die Elixiere der mexikanischen Vorzeit müssen, wie aus den Berichten der Missionare hervorgeht, alle Pastilles galantes, alles Kantharidin und alles Yohimbin geradezu pure Muttermilch gewesen sein.

Besonders reizend, in jedem Sinn des Wortes, scheinen die Colorines aufzutreten, die Korallenbohnen. Allerdings schlägt ihre Wirkung oftmals ins Gegenteil um; bei allzustarker Dosis wird der Mann für die Frau und die Frau für den Mann überflüssig. Dieses Faktum brachten die Beichtväter des 18. Jahrhunderts ihrem bischöflichen Vorgesetzten mit einer kanonischen Frage zur Kenntnis: Ist für die reichliche Anwendung dieser roten Bohnen (im Hinblick auf die dadurch hervorgerufene Unterlassung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs) die Absolution zu erteilen, dagegen jenen, welche geringere Dosen eingenommen haben, die Absolution zu verweigern? Ist es nicht schlimmer, wenn Frauen 226 und Mädchen von diesem Samen des Teufels nur ein kleines Quantum einnehmen? Denn dann laufen sotane Frauenzimmer, von Nymphomanie befallen, umher, nach Männern suchend, egal ob Knabe oder Greis, und sterben in Sünde und Tollwut. Nach starker Dosis hingegen erfolgt nur Selbstbefriedigung.

Das Gift der Erkenntnis können wir ein Liebes- und Wahnsinnsmittel nennen, das verdächtig ist, den Sündenfall im Paradies veranlaßt zu haben. Die Hornschlange Mazacónatl lieferte das Gift, das in der Bibel fälschlich dem Apfelbaum der Erkenntnis zugeschrieben wird. Bei den Indios wurde dieses Schlangengift unaufgeklärten Kindern vor ihrer Brautnacht in die Mahlzeit gemischt, aber nur in kleinen Dosen. Wer größere nahm, endete in Satyriasis und Wahnsinn.

Eine Razzia durch ganz Mexiko ist nötig, um nach dem Gift zu fahnden, das Carlotas Geisteskrankheit auf dem Gewissen hat. Dabei muß man taktisch zu Werke gehen, die Kräuterkundigen zuerst nach Gegengiften fragen und dann erst das Gespräch auf die Gifte lenken, gegen die diese Gegengifte helfen.

Die anerkannteste Kräuterkundige von Mexiko ist Doña Carmelita, ihr Puesto auf dem Markt von Oaxaca ein Wallfahrtsziel. Käufer umlagern den Stand, die Augen auf Verkäuferin und Regale geheftet, als läge dort das Zaubermittel, das im nächsten Augenblick ihr Leiden bannen werde. (Dieses Leiden kann auch eine erfolglos Geliebte sein, ein gefährlicher Nebenbuhler oder eine ungetreue Ehefrau.) Im Innern der Bude tummeln sich mehr Kinder als darin Platz haben, Doña Carmelitas Enkel und Kinder, welche letzteren die jüngsten sind, – Beweisstücke dafür, daß sich die Alte in der Tat geheimer Naturkräfte zu bedienen weiß.

Das Vertrauen Doña Carmelitas erwirbt man, indem man von jedem Nervenheilmittel ein Spezimen kauft und bar bezahlt. Nach und nach rückt sie mit einigen ihrer Wißtümer 227 heraus, zum Beispiel damit, daß sie ein psychiatrisches Allheilmittel namens Lachinole besitze. Diese Pflanze, als Tee gekocht, wird dem Patienten zwanzig Tage lang eingeflößt, und er, der noch am neunzehnten Tag vollkommen verrückt gewesen, sei am zwanzigsten vollkommen normal. Nur gegen eine einzige Art von Geisteskrankheit helfe der Lachinoletee nichts, nämlich gegen jene, die von Vergiftung mit Toloachi herrührt.

Mit dem europäischen Tollkraut hat Toloachi mehr als die erste Silbe gemeinsam. Tollkraut wird nicht auf Märkten verkauft und auch der Handel mit Toloachi ist verboten. Deshalb versichert uns Doña Carmelita, daß sie es nicht auf Lager habe, das heißt: eigentlich habe sie es doch auf Lager, aber nur die Blätter, und selbst die gebe Doña Carmelita in sehr geringen Mengen ab, ausschließlich für hygienische Waschungen. Bei innerem Gebrauch sei Toloachi, insbesondere seine Samenkörner so gefährlich, daß eben keines von den Anti-Irrsinnsmitteln dagegen helfe.

War es vielleicht Toloachi, was die Emperatriz Carlota eingenommen hat?

»Nein«, sagt Doña Carmelita, »von Toloachi wird man nur vorübergehend verrückt. Erst wenn man sich den Genuß angewöhnt, wird man für immer loco. Dann tanzt man auf den Straßen wie ein Affe und alle Leute bleiben stehen und lachen. Die Emperatriz ist auf einmal vergiftet worden, durch eine einzige Dosis von Gift.«

Welches Gift mag das wohl gewesen sein?

So harmlos die Frage auch gestellt ist, Doña Carmelita erschrickt. Ob wir gekommen seien, sie darüber auszufragen? Ob wir vielleicht gehört haben, daß sie darüber etwas wisse?

Nein, wir beschäftigen uns mit Naturheilkunde, mit Arzneipflanzen.

Allmählich erfahren wir, was sie weiß. Carlota sei zu einer Kräuterfrau in der Hauptstadt gegangen und habe nach einem Mittel gefragt, um ein Kind zu bekommen. Sie 228 war verkleidet und tief verschleiert. Aber die Kräuterfrau erkannte sie, und weil sie eine Patriotin war, eine Anhängerin von Benito Juárez und Todfeindin der ausländischen »emperadores« (so, »die Kaisers«, nannte man Maximilian und Carlota), gab sie ihr Gift.

Welches Gift?

Doña Carmelita schweigt.

War es ein Samen?

Doña Carmelita schüttelt den Kopf.

War es eine Batate? Eine Rinde? Eine Blume?

Doña Carmelita schüttelt den Kopf.

War es ein Schlangengift?

»Nein«, sagt Doña Carmelita, »es war Teyhuinti, ein Pilz.«

Ein Pilz? Haben Sie den, Doña Carmelita?

»Es gibt keine Teyhuinti in Oaxaca.« Ein Mehr an Auskunft liefert Doña Carmelita nicht.

An anderen Stellen erfahren wir, daß Teyhuinti, »das Fleisch der Götter«, in verdünntem Zustand ein Tonikum sei und in unverdünntem dauernden Irrsinn hervorrufe . . . Es läßt den Körper unbeschädigt, im Gegenteil, der Vergiftete wird oft hundert Jahre alt bei voller physischer Gesundheit. Zu Beginn des Rausches gerät der Vergiftete »fuera de casa«, was wörtlich und sinngemäß »aus dem Häuschen« bedeutet. Er fühlt seine Kräfte erhöht, wird streitsüchtig, gebärdet sich kraftmeierisch, »dem werd' ich's schon zeigen«, »noch heute geh' ich direkt zum Bischof . . .« Wenn man eine Kaiserin ist, kann man sich wohl nur entschließen, es dem Kaiser von Frankreich zu zeigen oder zum Papst zu gehn.

Nach dem Abklingen des Rausches bleibt ein halbes Jahr lang die Erregung mitsamt dem ungehemmten Drang, die Kräfte mit Höhergestellten zu messen. Der Vergiftete fängt Händel an, indem er sich wirklicher Anlässe bedient und sogar logischer Argumente. Nachher tritt harmlose Verblödung ein, mens insana in corpore sano. (»Teyhuinti son los 229 hongos que producen enajenación mental definitiva sin causar la muerte«, sagt Fernando Ocaranza in seiner »Historia de la medicina en Mexico«.)

Die geistesstörende Wirkung gewisser Pilze scheint früher einmal nicht nur der Medizin in Mexiko bekannt gewesen zu sein, sondern auch in Europa, worauf die Wiener Redensart hindeutet: »Der hat narrische Schwammerln gegessen.«

Carlota, die in normalem Zustand von den Geschehnissen in Mexiko vielleicht physisch gebrochen worden wäre, überlebte die Erschießung ihres Gatten um mehr als sechzig Jahre. Doch konnte sie über die historischen Begebenheiten in dem exotischen Land, in dem sie eine verhängnisvolle Rolle gespielt, ebensowenig etwas aussagen, wie über das meuchlerische Verbrechen, dem ihr Geist zum Opfer fiel. 230

 


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