Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Zum Geburtstag des feuerspeienden Bergs

Heut ist der zwanzigste Februar 1944, und ich bin wieder am Vulkan, an dessen Wiege ich vor einem Jahre stand. Daß ich heute hier Geburtstagsvisite mache, ist der Laune einer lieben Freundin zuzuschreiben, honny soit qui mal y pense. Was mich anbelangt, so hasse ich Geburtstage und ähnliche Sentimentalitäten, insbesondere datumsmäßig festgelegte, und mir schwant, daß ich durch das Wiedersehen meinen ersten, einen überwältigenden Eindruck zerstören werde.

Eigentlich berechtigt mich nichts zu solcher Vorahnung. Die Zeitungen berichten nur Günstiges über die Entwicklung des vulkanischen Kindes. Es gedeihe geradezu prächtig, betonen sie um so eindringlicher, je einträglicher es sich für den Fremdenverkehr erweist, nun speie es nicht mehr bloß aus einem einzigen Krater, sondern aus fünfen, es schreie mit weit, weit kräftigerer Lunge, und der Unrat, den es um sich her gemacht, sei ins Ungemessene gewachsen, bravo.

Schon die Stadt Uruapan finde ich ziemlich verändert vor, manche neue Industrie ist entstanden, deren Schornstein raucht: der Vulkan. Zu allererst fällt dem Wiederkehrer eine Art organisierter Kinderarbeit auf. Jungens, die vor einem Jahr noch unverdorben waren und keine andere Zukunft für sich erwarteten als die ihrer Väter, haben seither entdeckt, daß sich auf leichtere Weise mehr Geld verdienen läßt. Sie versuchen die Autos aufzuhalten, die in die Stadt einfahren, und selbst, wenn ihnen das nicht gelingt, schwingen sie sich auf den Wagen.

Vom Trittbrett des meinigen bietet mir ein solcher Aufgeschwungener an, was er anzubieten hat: sich selbst als Führer, ein robustes Taxi, das mich billiger als alle anderen zum Vulkan bringen wird, einen besonderen Sombrero mit 231 herabfallender Krempe, der das Gesicht vor dem Lavastaubregen schützt, und einen hochgeschlossenen Overall, der das gleiche für den Körper besorgt. Ferner empfiehlt er mir ein mit Sprungfedermatratzen versehenes Hotel, wo ich mit meiner Dame, honny soit qui mal y pense, warm duschen könne, wenn wir nachts vom Vulkan heimkommen, trotz des besonderen Sombreros und trotz des hochgeschlossenen Overalls bedeckt mit Lavastaub. Auch für die Beschaffung von Vulkanphotos steht mein ungebetener Fahrgast zu Diensten sowie für den Einkauf von Kodakfilmen und für die Entwicklung eigener Aufnahmen.

Aber das alles ist, wie ich bald erfahre, nichts Besonderes mehr. Seit Jahresfrist haben sich alle Einkehrhäuser in moderne Hotels verwandelt; aus den Nachbarstädten übersiedelten Taxis nach Uruapan; neue Werkstätten mit Schaufenster für die einheimischen Lackarbeiten sind entstanden; Souvenirs gibt's allerorten; und die Preise haben ein Verhältnis mit dem Dollar angefangen.

Bei Anbruch der Nacht kommt das bestellte Taxi vor das Hotel. Der Weg zum Vulkan ist weit besser als damals, da Lastautos im nächtlichen Terpentinwald einander die Kotflügel wegmassierten, die Räder im Sand oft nicht eingreifen konnten und in der Luft zappelten wie gestrandete Fische.

Nur der geisterhafte Eindruck, den der Wald im Staub der Lava und im Licht der Reflektoren machte, ist der gleiche geblieben. Das Licht und der Staub ergeben ein irreales bläuliches Weiß. Man glaubt über Schnee zu fahren. Bäume und Sträucher stecken in diesem Schnee und verrenken ihre Gliedmaßen. Denn es wächst sich schlecht im Lavastaub und es atmet sich schlecht in vulkanischer Glut, und in der Nacht, da auch Strauch und Baum Ruhe und Dunkelheit brauchen, macht der Bergeindringling Krach und Stunk und feuerspeit dazu. Einige Bäume sind bereits tot, und ihre Stämme liegen hingestreckt auf dem Boden, andere stehen noch auf ihren Wurzeln, sehen jedoch aus, als ob auch sie es nicht mehr lange 232 treiben werden. Von den Näpfen, die einst an den Baumstämmen befestigt waren und das herabtröpfelnde Harz auffingen, ist keiner mehr da. Wer nicht mehr Saft und Kraft hat, hat auch kein Harz, geschweige denn genug, um davon abgeben zu können.

Bereits im Tageslicht, als wir in Uruapan einfuhren, wollte meine Freundin es sich nicht ausreden lassen, daß am nächsten Kilometerstein ein Wolkenbruch auf uns lauere, so finster runzelte sich das Firmament. Jetzt, zu sonnenlichtloser Stunde, blinzeln die Sterne nur fahl und klein durch den Staubvorhang. Die Feuersäule, die ich voriges Jahr an jeder Biegung der Strecke aufspringen sah, zeigt sich heute an keiner Biegung mehr.

Das Auto geht durch das Dorf San Juan Parangaricutiro, die Häuser haben keine Fenster und keine Tür nach der Straße hinaus. Nur in den Hof, der oft gar nicht umzäunt ist, führt eine Holztüre, eine sozusagen symbolische, denn sie besteht aus zerbrochenen Latten mit mehr Zwischenräumen als Latten. Aber sie ist mit einem breiten Dachstuhl gedeckt, dessen raison d'être so unklar ist wie die der Türe selbst. Vielleicht dient dieses Dach als Hühnersteige, vielleicht pflegen die Hausbewohner bei Regenwetter darunter zu stehen, um mit den Nachbarn zu sprechen, was man in Orten, in denen es Fenster gibt, vom Fenster aus tut.

Fensterlosen Häusern sieht man nicht an, ob in den Stuben Licht ist, und da wir keinem Menschen begegnen, könnte die Behauptung von der Evakuierung des Dorfes stimmen. Sie stimmt nicht, wir finden die Bewohnerschaft, und zwar schier vollzählig am Dorfrand, der mit dem Lavarand zusammenfällt. Hier haben sich Handel und Wandel vergrößert, hier herrscht jetzt das Verkehrsleben eines Knotenpunkts.

Für die Autos ist hier Endstation, für die Reittiere Kopfstation und für die Passagiere Umsteigestation vom Auto in den Sattel. Alles ist genau geregelt. Einer nach dem andern kommen die Pferdebesitzer an die Reihe, ihre Koppel zu 233 vermieten, meist Maulesel. Soweit Pferde da sind, waren sie nie zum Reiten bestimmt gewesen, sondern dazu, mit Eseln Maultiere zu zeugen. Alles Nähere über den Zeugungsprozeß erklärt mir der zehnjährige Indioknabe Sebastiano, dieweil er meinen Maulesel begleitet, erklärt es mit dem Zynismus eines nazistischen Rassenwarts und im Ton eines Pariser Schwanks.

Mein Reittier sei hier im Ort geboren, wo es eine Maultierzucht gibt, weltberühmt in der ganzen Umgebung. Ein Maultiergestüt mit Hengsten und Stuten, darunter einem Pferdehengst, genannt »El Hermoso« – »Der Fesche«, und einer Pferdestute »La Hermosa«, deren beider Hauptfunktion es ist, als Lockspitzel der Libido zu dienen. Pferd und Esel hegen nämlich solchen Abscheu gegeneinander, daß sie sich nicht miteinander paaren.

So etwas hat man – den Nürnberger Gesetzen zum Trotz – bei Menschenrassen noch niemals beobachten können, woraus eben hervorgeht, daß alle Menschen – den Nürnberger Gesetzen zum Trotz – ab ovo der gleichen Art sind. Aber die Nürnberger Gesetze kennen den wissenschaftlichen Unterschied zwischen Arten und Rassen nicht und verfügen, daß sich die Menschen wie Esel und Rösser oder gar wie Nazis benehmen sollen.

Wenn eine Pferdestute von einem Eselhengst beschlagen werden soll, so führt man ihr nicht gleich den Bräutigam vor, sondern läßt zunächst den Pferdehengst »Hermoso« vor und hinter ihr auf- und abspazieren. Nachdem er ihr Gefallen und sie seines sichtlich erregt hat, verbindet man ihr die Augen, und sie gibt sich dem Feschen hin; der aber ward inzwischen gegen einen Eselshengst ausgetauscht, und auch der tut es nur mit verbundenen Augen.

Mich dergestalt aufklärend, trottet Sebastiano barfüßig neben mir her. Erst als ihm der Boden allzusehr unter den Füßen brennt, schwingt sich Sebastiano hinter mir in den Sattel. So hoch bedeckt ist die Erde mit herangewehtem heißem 234 Sand, daß mein Maultier bis zu den Knien einsinkt, bis zu meinen Knien nämlich.

Ich kann die Silhouette meiner Freundin nicht erkennen, die knapp neben mir einherreitet. Sie sitzt trotz ihres engen Kleides im Herrensattel auf einem richtigen Pferd, aber ich sehe nichts von ihr, so dunkel ist es, und die Feuersäule des Vulkans reicht nicht bis zu unserer Kavalkade.

Das Maultier sucht im vulkanischen Nebel seinen Weg und findet ihn, muß es ihn doch allnächtlich mehrere Male tappen, einsinkend in den Staub und stolpernd über Baumwurzeln. Es kann sich nicht darum kümmern, was sich oberhalb seines Kopfes an Hindernissen in den Weg stellt, so zum Beispiel querwachsende Bäume, schräg gestürzte Stämme; mit denen würde der Kopf des Reiters im Dunkel unfehlbar zusammenprallen, wenn es nicht die Warnung des Reitburschen gäbe. »Neige den Kopf, Señor«, ruft Sebastiano und berichtet mir, während ich tief gebeugt unter dem horizontalen Balken durchreite, daß gerade vor vierzehn Tagen ein Amerikaner mit zerschlagenem Schädel vom Pferd gefallen sei. »Wir mußten ihn hinuntertragen«, sagt Sebastiano, »er liegt in Uruapan, und zwei Medicos aus Nordamerika sind bei ihm.«

Ich frage Sebastiano, ob unser Weg noch mehr solcher Hindernisse bringen werde.

»Sí, como no – ja, wie denn nicht«, ruft Sebastiano in einem Ton, als hätte er mir etwas höchst Erfreuliches zu verkünden, »noch viele, viele!«

Demütig beugen wir unser Haupt vor dem Schicksal und kommen mit unzerbrochenen Schädeln auf der Höhe des vorgelagerten Berges aus Lavastaub an, dem Endpunkt des Rittes. Von hier erst sehen wir den Vulkan. Er ist in Tätigkeit, er brennt und raucht, und meine Freundin schaut erregt und schweigend empor.

Ich schweige gleichfalls, ich verrate nicht, welcher Art mein Staunen ist, denn ich will das Schweigen und Staunen meiner Freundin nicht stören. 235

Hier aber, wo es niemand hört, kann ich es sagen, daß ich maßlos enttäuscht bin. Vom alten und von den neuen Kratern, angeblich fünfen, sehe ich keinen – sie liegen wahrscheinlich auf dem jenseitigen Abhang. Der Berg selbst ist schwarz wie jeder andere Berg zu nächtlicher Stunde, das sich bewegende Gold, aus dem er im Vorjahr zu bestehen und immer wieder neu zu erstehen schien, ist jetzt erkaltet und entfärbt. Nur auf dem Gipfel brennt eine Stadt, die aussieht wie Toledo.

Rotglühende Trambahnen fahren aus dem Zentrum. Aber in einer Felsengipfelstadt laufen Straßenbahnen nur kurze Strecken und in gemessenen Abständen. Gleich sind sie an der Peripherie, entgleisen dort und stürzen den Hang hinab, dessen Abschüssigkeit nur erkennbar ist, solange die Waggons brennen. Oben jedoch wütet weiter die Feuersbrunst, verursacht von einem Fliegerangriff. Brandbomben werden herabgeworfen, Flugabwehr schießt hinauf, und kraft der Flammensäulen erblickt man Qualmsäulen.

Die lodernde Stadt ist – so denke ich – der Grund für meiner Freundin sprachloses Staunen. Mich aber vermag sie (die lodernde Stadt) nicht in Erregung zu versetzen. Was ist das im Vergleich mit den Phantasien aus Licht und Flamme, die mir im vorigen Jahr hier in nächster Nähe geleuchtet haben.

Nun ist selbst die Nähe beseitigt. Der Berg ist nicht nur in die Höhe gewachsen, sondern auch in die Breite, und rings um ihn streckt sich immer mehr und mehr der See der Lava, an dessen Ufer für den Besucher das Weitergehen aufhört. Voriges Jahr war dieses Ufer ein senkrecht-steiler Felsenrand, und die Blöcke glühten noch von der Tiefe des Geheimnisses, aus der sie kamen. Seither wurden sie immer weiter fortgedrängt, und heute liegen sie abgekühlt, sehr weit vom heißen Schoß der Mutter Erde.

Kilometerfern ist die Spitze des Vulkans. Die mit Staub geladene Luft täuscht nicht nur optisch, sie ist auch schuld daran, daß die Bomben über Toledo so matten Tones bersten, 236 wenigstens im Vergleich zu den Donnerschlägen. die mich vor einem Jahr durch ihren Schall zersprengen wollten.

Ich taste mich zu meiner Freundin. »Nun?«

Sie schrickt zusammen. »Sehen Sie, wie er sich wehrt?« Und zitternd fügt sie hinzu: »Es nützt ihm nichts. Da rollt er hinab.«

»Wer?«

Sie versteht nicht, daß ich nicht verstehe. Was sie vor sich erschaut, ist eine Pyramide, von der Natur zu ihrer alten Bestimmung erweckt. Meine Freundin sieht dort oben die Fackeln und Brennholzbündel der Tempeldiener huschen, sieht aus den Weihrauchkesseln die Schwaden hochsteigen, sieht rotröckige Hohepriester die Obsidianmesser gegen die Brust des Opfers zücken, ihm das Herz herausreißen, und den fieberglühenden Körper die Treppe hinabstoßen . . . Dazu dumpfer Klang von Trommeln und rauchendes Blut, und der unersättlich gierige Moloch verspritzt Eiter, Geifer und Schleim.

»Entsetzlich«, murmelt meine Freundin, »daß es das noch gibt!«

Nein, das gibt es nicht mehr. Aber vielleicht war das einstmals so – die Pyramide eine künstliche Nachbildung des Vulkans, die Zeremonien auf dem Gipfel eine Darstellung der Vorgänge bei der Eruption.

Freilich, vor einem Jahr, im ohrenbetäubenden Donnern und Toben hätte kein Beschauer den Vergleich ziehen können mit irgendeiner noch so unmenschlich menschlichen Handlung. Das vulkanische Kind hat sich nicht, wie es bei seiner Geburt versprach, ins Unermeßliche entwickelt, sondern zu etwas, das mit anderem vergleichbar ist.

Ich wecke meine Freundin aus ihrer Vision von Blut und Tod.

Wir schwingen uns in den Sattel. Zu dem meine Steigbügel haltenden Sebastiano äußere ich meine Enttäuschung über die Entwicklung des Vulkans. Sebastiano ist weder überrascht noch betrübt. »Ja, wie denn nicht«, ruft er abermals, und 237 abermals in dem frohen Ton, in dem er mir auf dem Hinweg lebensgefährliche Hindernisse zugesagt hat, »die amerikanischen Professoren meinen, er wird nicht alt werden. Und was nachher aus unserem Dorf werden wird, quien sabe – wer weiß das?«

So wird denn der Feuerberg, der heut vor einem Jahr wie ein Meteor aufgetaucht war, dereinst wie ein Meteor verlöschen. Wann, Sebastiano? Ich sehe den Gefragten nicht, die Feuersäule beleuchtet nicht den Hang aus Staub, den wir emporgeklommen sind und nun wieder hinabklimmen, auf dem Abweg geht es schneller, und ich muß noch mehr aufpassen vor den in meiner Kopfhöhe querliegenden Balken.

Wahrscheinlich zuckt Sebastiano die Schultern auf meine Frage, wie lange es der Vulkan noch machen wird. »Vielleicht tausend Jahre«, sagte er, »vielleicht noch weniger. Wer weiß das?«

Jetzt bin ich's, der unsichtbar die Schultern zuckt und auf die hierzulande ewige Frage des Quien sabe die hierzulande ewige Antwort gibt: »Vamos a ver – werden ja sehen.«

Meiner Freundin sage ich nichts von der trüben Diagnose über die vulkanische Opferpyramide. Bedeckt und gefüllt mit Lavastaub reiten wir zum Auto und fahren, dieweil sie dankbar meine Hand hält, ins Hotel, béni soit qui mal y pense. 238

 


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