Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Kolleg: Kulturgeschichte des Kaktus

Goethe Cortez Spitzweg
Stifter Napoleon Humboldt
Karl May Hebbel Henri Rousseau

I. Heraldik

Nicht deshalb, meine Herren, nicht deshalb, weil der Kaktus in Mexiko zu Hause ist, hat ihn Mexiko auf sein Wappenschild gehoben. Das Emblem war schon da, bevor die Azteken ihr Land gesehen. Vom Norden her, sozusagen aus den hyperboreischen Wäldern Amerikas kamen sie gezogen, um die Heimat zu suchen, die Heimat, die ein Orakel ihnen verheißen hatte. Lange wanderten sie kämpfend kreuz und quer, bis sie im Jahre 1325 das ihnen gelobte Land fanden. Kein Zweifel konnte sich regen, das Ziel war genau so markiert wie in der Prophezeiung angegeben, eine dreigliedrige Opuntie, von zwei entfalteten Blüten gekrönt, entsproß dem von Wasser umspülten Felsen, und darauf horstete ein Königsadler mit einer Schlange in den Fängen.

Hier am See, auf Lagunen, Landzungen, Ufern und Inseln ließen sich die Wandermüden nieder und nannten den Standplatz, wie sie ihn schon in den Träumen ihrer Wanderung genannt hatten: »Tenochtitlán«, Kaktus auf einem Stein. Heute heißt die Stadt »Mexiko«. Adler und Schlange sind aus der Bannmeile geschwunden, aber der Kaktus beherrscht nach wie vor das Landschaftsbild.

Mexiko trug den Kaktus auf Fahnen, auf Siegeln und auf Münzen, und manche indianische Familie ließ, um vor dem Vizekönig den Adelsanspruch zu begründen, ihren 28 Stammbaum malen, aber nicht als Baum, sondern als Opuntie. Wenn Sie das Nationalmuseum besuchen, werden Sie im Saal der Kodizes sehen, daß die Glieder der Opuntie, von Natur aus wie Veduten oder Schilder geformt, sich weit logischer zur Aufnahme von Namen und Jahreszahlen eignen, als die auf europäischen Stammbäumen wachsenden Linden- oder Eichenblätter.

 
II. Bildende Kunst

Angesichts dieser Tatsachen berührt es fast komisch, daß die Maler der Neuen Sachlichkeit, einer Kunstrichtung von 1920, das Neue ihrer Sachlichkeit durch einen Kaktus ausdrückten, der in jedem ihrer Interieurs und Exterieurs vorkommt. Fast hundert Jahre vor der Neuen Sachlichkeit hieß Spitzweg, der altmodisch Verschrullte, den Kakteenliebhaber für das altmodisch Verschrullteste seiner Sujets. Deshalb wohl wagte der Kunsthistoriker Wilhelm Uhde die Hypothese, Spitzweg habe, eben von seiner Pariser Reise zurück, in seinen beiden Kaktusbildern Deutschland konterfeien wollen: draußen leuchtet die Sonne, grünt das Blattwerk und zwitschern die Vögel, während sich der alte Magistrats-Aktuarius dem staubigen Kaktus entgegenneigt, der sich seinerseits symmetrisch vor ihm verbeugt.

»Tu te rapelles, Rousseau, du paysage aztèque . . .?« ruft ein Gedicht von Guillaume Apollinaire seinem Malerfreunde zu. Dieser Satz Apollinaires wurde als Beweis dafür verwendet, daß des Zöllners Rousseau phantastische und erfundene Landschaften weder phantastisch noch erfunden seien, sondern Modellmalerei aus dem paysage aztèque. Wahr ist, daß Henri Rousseau als junger Militärmusiker mit der Interventionsarmee des Marschalls Bazaine nach Mexiko gekommen war, und dort mag er die Aztekenlandschaft mit ihren achthundertfünfzig Kakteensorten so gesehen haben, wie 29 ein zukünftiger Maler sie sieht. Was der närrische Douanier jedoch später malte, hat damit nicht mehr zu tun, als etwa sein Fußballbild mit einem Fußballspiel. Die Pariser Botaniker, von den ratlosen Kunsthistorikern zu Hilfe gerufen, konnten nur feststellen, daß außer den Agaven keine der Rousseauschen Pflanzen in Mexiko wachse.

 
III. Literatur

Für Adalbert Stifter ist »der Kaktus nicht das letzte gewesen, dem ich meine Aufmerksamkeit geschenkt habe«. Er findet zwar die Blüten »verwunderlich wie Märchen«, aber nicht bizarr, formensprengend oder gar ungestaltig. Im Gegenteil: sein Gärtner Simon im Kaktushaus schließt das Loblied auf den Kaktus und seine Blüten mit dem polemischen Akkord:

»Es könne nur Unverstand oder Oberflächlichkeit oder Kurzsichtigkeit diese Pflanzengattung ungestaltig nennen, da doch nichts regelmäßiger und mannigfaltiger und dabei reizender sei als eben sie.«

In Mexiko bedürfen die Kakteen keines Stifterschen Gärtners, keines Spitzwegschen Aktuarius, keiner Gewächshäuser und keiner zierlichen Blumentöpfe. Allerorten im Land wächst der Kaktus und treibt Blüten, die oftmals verwelken, ohne ein menschliches Auge entzückt zu haben. Daß und in welchen Gestalten er das mittlere und südliche Amerika bewächst, hat schon Goethe verzeichnet. Seine Kenntnis stammt aus Humboldts »Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse«, dessen Formulierungen Goethe nur stilistisch verändert:

»Dem neuen Kontinent ist eigentümlich die Kaktusform, bald kugelförmig, bald gegliedert, bald in hohen vieleckigen Säulen wie Orgelpfeifen aufrechtstehend. Diese Gruppen bilden den höchsten (bei Humboldt: »den auffallendsten«) 30 Kontrast mit der Gestalt der Liliengewächse und der Bananenbäume.« (Bei Humboldt nur: »Bananen«.)

Nicht nur Goethe, sondern auch Karl May und sogar sein Pferd haben Humboldts »Ansichten der Natur« gelesen und darin die komplizierte Methode, mit der durstige Huftiere in den Wüstengegenden Amerikas sich »bedächtig und verschlagen« das wasserreiche Mark des Melokaktus zunutze machen:

»Mit dem Vorderfuß schlägt das Maultier die Stacheln der Melokakteen seitwärts und wagt es dann erst, den kühlen Distelsaft zu trinken. Aber das Schöpfen aus dieser Quelle ist nicht immer gefahrlos; oft sieht man Tiere, welche von Kaktusstacheln am Hufe gelähmt sind.«

Wen kann es wundernehmen, daß Karl Mays ungebärdiger Hengst den Trick besser beherrscht als alle bedächtigen und verschlagenen Maultiere, und ihn gleich am Anfang des Romans »Old Surehand« dem Leser vorführt?

»Hierauf sattelte ich ab und ließ den Hengst frei. Gras gab es hier freilich nicht; dafür aber standen zwischen den Riesenkakteen Melokakteen genug, die Futter und Saft in Fülle lieferten. Mein Rappe verstand es, diese Pflanzen zu entstacheln, ohne sich zu verletzen . . .«

 
IV. Geschichte

Die Pflanze, die Sie hier sehen, meine Herren, eine Opuntia Cochinellifera, habe ich an der Schlangenpyramide am Nordwestrand von Mexiko-Stadt ausgegraben. Ein Indioknabe, der dort Idolos anbot, griff diesem Kaktus in die Achselhöhle und streckte mir etwas Winziges, Rötliches, wie mit Mehl Bestäubtes entgegen und sagte: »Cochenilla.« Als er es über der Pflanze zerquetschte, floß Blut, so viel, daß dieses eine Opuntienglied aussieht wie rohes Fleisch. Von dem Tierchen, dem das Rot entstammt, blieb nichts übrig. 31

Um der Cochenille willen hat man einst das Gewächs gepflegt, das ihre Wohnung war. In der Aztekenzeit mußte alles Blut dieser Läuse gesammelt und an die kaiserliche Hausverwaltung abgeliefert werden; Stammesfürsten und Kriegshelden wurden mit Töpfen dieses Karmins belohnt. Jedoch die edelste Sorte, jene, die von jungfräulichen oder wenigstens ungeschwängerten Lausweibchen stammte, durfte keines anderen Mantel färben als den des Herrschers selbst und die kurze Jacke des höchsten Hohenpriesters. Wie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation trugen im damals noch unentdeckten Mexiko der Kaiser und der Henker ein Gewand vom gleichen Rot. In der Tat, in Mexiko war der höchste Priester zugleich der höchste Henker und thronte auf dem Schafott, wie in Heines »Vitzliputzli« zu lesen:

»Auf des Altars Marmorstufen
Hockt ein hundertjährig Männlein
Ohne Haar an Kinn und Schädel,
Trägt ein scharlach Kamisölchen.
Dieser ist der Hohepriester
Und er wetzet seine Messer . . .«

Vergeblich war das Messerwetzen, vergeblich die Menschenopfer. Der weiße Feind marschierte heran, um dem Kaiser den Purpurmantel vom Leib zu reißen und dem Henkerpriester das scharlach Kamisölchen. Und die Götter verhinderten es nicht.

Aber ein schlichter Kaktus, ein Nopal aus der Gegend von Cholula, hätte es beinahe verhindert. In Cholula hatte Cortez die Bewohnerschaft massakrieren lassen, sechstausend Tote binnen drei Stunden, – ein Gemetzel, wie es bis dahin die Neue Welt niemals erlitten. Nach vollbrachter Tat wandten sich die Spanier der Hauptstadt zu, voran das Reiterfähnlein. Es war ein sengender Tag, gierig schlürften die Kavalleristen die rötlichen Früchte des Nopals von Cholula. 32

Unterwegs wird Halt befohlen: »Absitzen! Austreten!« Aber, Herr des Himmels, was ist das? Es ist Blut, das die Reiter urinieren! Tiefrotes Blut! Kein Zweifel, ihre Venen sind gerissen, – Gottes Strafgericht für die am Indiovolk begangenen Greuel und Scheuel. Alle sind blaß und zittern vor Todesangst. Sie rotten sich zusammen, knien gemeinsam nieder, beten zu San Jago de Compostella, leisten ein Gelübde, weigern sich, weiter Dienst zu tun.

Da kommt zu Fuß der indianische Hilfstrupp heran und läßt gleichfalls, jedoch ohne sich darüber zu beunruhigen, rotes Wasser. Nun erfahren die reuigen Sünder, solches sei die Wirkung der Tuna von Cholula, der Frucht, die sie gegessen. Keine Strafe Gottes also! Kein Grund zur Reue! Erlöst von Skrupeln setzen die Gottesstreiter ihre grausen Kriegstaten fort.

 
V. Manufakturwesen

Und nehmen das Land mit allem, was da kreucht und fleucht. Unter dem, was da kreucht, kreucht die Cochenille bald zu hoher Bedeutung hinan. Cortez hatte sie übers Meer nach der heimatlichen Halbinsel geschickt, »nur um der Wissenschaft willen«, wie er zur Entschuldigung betonte. Aber während man in Spanien die Körner von Mais und Kakao, die Tomate und die Vanille und die Stücke edelster Jade als wertlos abgetan hatte, erfaßte man sogleich den potentiellen Wert dieses Farbstoffs für die Wollweberei von Barcelona und die Seidenweberei von Valencia.

Eilends pflanzte man die vermeintlichen Samen in den Boden und wunderte sich, daß ihnen kein Gewächs entsproß. Nun heischte man aus Neu-Spanien Sprößlinge. Fruchtknollen oder Wurzeln, und solche der Opuntia Cochinellifera trafen ein. Aus denen wuchsen in den 33 heißeren Territorien der spanischen Krone, in Algier und auf den Kanarischen Inseln, die Kakteen, und auf den Blättern fanden sich die winzigen Tuben, prall gefüllt mit dem ersehnten Farbstoff.

Große Plantagen wurden angelegt, sie brachten reichen Nutzen, aber immer noch begriff man nicht, daß die Pflanzensamen keineswegs Pflanzensamen seien. Als 1703 Mynheer Ruyscher unter dem gerade erfundenen Mikroskop Leuwenhooks die Cochenille leben und sich bewegen sah, geschah allgemeines Schütteln des Kopfes. Eine Laus? Wie kann eine Laus so edlen Farbstoff liefern?

Als ich zu Hause meine heutige Vorlesung vorbereitete, ließ mir ein in Schweinsleder gebundener Riesenfoliant kaum ein Eckchen meines Tisches zum Schreiben frei. Auf irdische Maße reduziert, lautet der Titel des Buchs »Museum Museorum oder Schaubühne aller Materialien und Specereyen . . . Unter Augen geleget von Doctor Michael B. Valentini, Franckfurt am Mayn, im Jahre Christi MDCCXIV.« (Dieses deutsche Werk, das neben vielem anderen eine komplette Technologie der Manufakturzeit darstellt, habe ich in Europa jahrelang gesucht, und fand es – o Witze, die die Emigration mit uns macht – in Mexiko.) Noch 1714 ließ sich der Verfasser des gelehrten Wälzers nicht ganz durch das Mikroskop überzeugen:

»Ob nun die Kutzenellen vor einen Saamen oder sonsten etwas zu halten seyen? davon sind biss auff den heutigen Tag noch verschiedene Meynungen. Einige halten es vor einen Saamen, daher es auch die meisten Apothecker unter die anderen Saamen stecken und in ihren Catalogis als ein Sem. Coccinillae setzen; – teils weilen Coccionella von Cocco herkäme und bey den Spaniern ein kleines Korn heiße, teils weilen Wilhelmus Piso in seiner ›Historie der Brasilianischen Gewächsen‹ eine Art indianischer Feigen weitläuffig beschreibet, an welchen die Coccionellen wachsen sollen . . .« 34

Valentini zählt die vielen Verwendungsmöglichkeiten dieser fragwürdigen Miniaturkörper auf, besonders die Tatsache, daß Italien den neuspanischen Kutzenellen die Rotfärbung des Glases verdankt.

 
VI. Revolutionsgeschichte

Zweieinhalb Jahrhunderte wahrte Spanien sein Cochenille-Monopol und überwachte jedes Schiff, das von den mexikanischen Küsten auslief. Auf den bloßen Versuch, die rötenden Läuse auszuführen, stand Todesstrafe. Ein Franzose, Thierry de Menonville, wollte es dennoch wagen, um seinem eben zur Republik gewordenen Vaterland das kostbare Färbemittel zu verschaffen. Im Staate Oaxaca (er schreibt »Juaxaca«) grub er nächtlicherweile etliche der besten Zuchtpflanzen aus und verschaffte sich einige Paare der Läuse. Diese Beute brachte er glücklich nach Santo Domingo, wo sie gedieh und sich vermehrte, so daß er bald ein Faß Cochenille nach Paris senden konnte.

Und nun erlebte er den Höhepunkt seines Lebens. Die Gabe wurde dazu verwendet, der Fahne der französischen Republik, der Trikolore, die dem Nationalkonvent 1793 überreicht wurde, das Rot der Freiheit zu geben. Seine Tierchen waren es, die das neue Banner salbten!

Aber ach, auch der Vernichter der Republik schmückte sich mit dem Blut der Cochenille: es mußte dazu dienen, den roten Frack des Ersten Konsuls zu färben. Später verknüpfte sich, wenngleich nur anekdotisch, ein mexikanischer Kaktus noch einmal mit dem Namen Napoleons.

Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts verpflanzte ein britischer Kapitän, Sidney Longwood, die großen Kandelaberkakteen aus Mexiko auf die damals geschichtslose Insel Sankt Helena. Ihn hinderte kein spanisches Gesetz an diesem Export, denn Zierpflanzen waren für Industrie und 35 Handel wertlos. Auf Sankt Helena schossen sie hoch, verzweigten sich von den lotrechten Säulen des Stammes in vielarmige Leuchter, ganz so wie sie sich daheim in Mexiko verzweigt hätten, nur mit dem Unterschied, daß sie auf Sankt Helena nicht blühten. Erst an dem Maienabend, an dem Napoleon starb, entzündeten sich Hunderte von Trauerleuchtern, und ihre Flammen waren gelbgrüne Blüten mit roten Spitzen. Es war, als hätten Beleuchter, hinter den Felsen versteckt, auf diese Stunde gewartet. Angesichts der unvermutet brennenden Ampeln flüsterten die vorbeifahrenden Schiffe: »Er ist tot.«

 
VII. Industrie

Die Manufakturzeit endete, die industrielle Revolution brach aus, das Maschinenzeitalter und die Massenproduktion setzten ein und mit ihr stieg der Preis der mexikanischen Cochenille. Und gleichzeitig stiegen Ausbeutung, Spekulation und Konkurrenzkampf. Alexander von Humboldt berichtet darüber:

»Auf der Halbinsel Yucatán wurden allein in einer Nacht alle Nopale, auf denen die Cochenillen leben, abgeschnitten. Die Indianer behaupten, daß die Regierung diese gewaltsame Maßregel darum ergriffen habe, um den Preis einer Ware hinaufzutreiben, deren Eigentum man den Bewohnern der Mixteca ausschließlich zuwenden wollte; die Weißen hingegen versichern, daß die Eingeborenen aus Unzufriedenheit mit dem Preis, den die Kaufleute für die Cochenille festsetzten, einmütig das Insekt und die Opuntien zerstört haben.«

Mit solchen Mitteln der Produktionsbeschränkung begann das neunzehnte Jahrhundert. Ehe es zu Ende ging, waren diese Mittel, wenigstens soweit sie die Cochenille betrafen, nicht mehr nötig. Denn das Alizarin – aber das ist eine 36 eigene Geschichte, und diese eigene Geschichte erzählte mir eine Dame, die einen urspanischen Taufnamen sowie einen urspanischen Familiennamen trägt und dahinter einen urdeutschen Vatersnamen. Dadurch geriet das Gespräch auf ihren Großvater.

Der kam als junger Mann mit Maximilian von Habsburg nach Mexiko und schickte seinem daheimgebliebenen Freund, dem Berliner Fabrikchemiker Karl Liebermann, eine kleine Schachtel mit Cochenille-Läusen, damit er sie analysiere. Er konnte sie per Post als Muster ohne Wert senden, zehn Centavos Porto, die Zeiten, da Thierry de Menonville beim Schmuggel Kopf und Hals riskiert hatte, waren längst vorüber. Drüben verfaßte Liebermann eine Abhandlung über die Cochenille und schickte sie dem Freund in Mexiko mit einer Widmung, dem Dank für das Paketchen, das den Anlaß zu der Arbeit gegeben. Bald darauf vernahm man, ein Karl Liebermann in Berlin habe die künstliche Cochenille erfunden, die synthetische Herstellung des Alizarin.

Bei diesem Punkt äußerte ich zu der Erzählerin, ihr Großvater müsse wohl sehr stolz darauf gewesen sein, eine solche Erfindung angeregt zu haben.

Stolz? Sein Leben lang wurde er die Angst nicht los, jemand könnte erfahren, daß durch seine Schuld Mexiko eine Wirtschaftskatastrophe von unvorstellbarem Ausmaß erlitt.

Der bedeutendste Ausfuhrartikel war plötzlich außer Kurs gesetzt. Während Deutschland mit dem Alizarin Millionen und aber Millionen erntete und die unbeschränkte Herrschaft auf dem Farbenweltmarkt errang, verfielen in Mexiko die Nopalerias; die Cochenille-Flotte, die den Transport nach Europa besorgt hatte, wurde abgewrackt; angesehene Exporthäuser bankrottierten. Wie hätte ein Mexikaner – und das war der Großvater der Erzählerin inzwischen geworden – wie hätte ein Mexikaner nicht entsetzt sein sollen, dieses nationale Unglück herbeigeführt 37 oder zumindest beschleunigt zu haben! Noch seine Enkelin bat mich, seinen Namen nicht zu nennen.

Einen von den Erben jenes Krachs, einen Nachkommen des größten Exporthauses für Cochenille, habe ich in der Stadt Oaxaca als Beamten des Fremdenverkehrsbüros getroffen. Im Verlauf unserer Bekanntschaft erzählte mir Señor Corres von seinem Vater, der in England studierte, dort seine eigenen Pferde ritt und als Sohn des Cochenille-Königs von Mexiko Ansehen genoß. Bis er eines Tages nach Hause fahren mußte – im Zwischendeck.

Señor Corres, durch Herkunft und Amt dazu berufen, informiert zu sein, konnte meine Frage, ob sich irgendwo der Rest einer Cochenille-Plantage finden ließe, nicht beantworten. Dadurch nicht abgeschreckt, suchte ich das Dorf Cuilapan de Díaz auf, das einst ein Zentrum der Cochenillezucht war und heute ein Weberort ist, dessen Sarapes man nachsagt, sie seien noch immer mit Cochenille gefärbt. Aber ich fand in den Werkstätten nur die Originaltiegel einer nordamerikanischen Farbenfabrik.

 
VIII. Pharmakologie

Für immer ist die Cochenille aus dem Exportgeschäft ausgeschieden, selbst als Heilmittel gegen Fleckfieber und Beulenpest kam sie aus der Mode.

Auf dem internationalen Medikamentenmarkt wird nur noch der Peyote-Kaktus gehandelt, die »Mezcal Buttons«, der Zauberkaktus, über den ich Ihnen ein eigenes Kolleg lesen will. Eine überirdische Funktion wird auch manchen anderen Kakteen zugeschrieben, auf welche Sie bei unserer Exkursion in den Botanischen Garten von Chapultepec der Floricultur Sanchez de la Vega aufmerksam machte.

Die »Cardon«, d. h. Distel, genannte Opuntie hängt man in den Dörfern über Tür und Fenster auf, um zu 38 verhindern, daß die Dämonen eindringen und den Kindern das Blut aussaugen. In den Handtaschen städtischer Jungfrauen finden Sie oft die leichtgewölbte Spitze des Kaktus Lemaire cereus, – ein unfehlbares Amulett gegen das Kinderkriegen. Das Totem des Jagdgottes Mixcoatl war ein topfförmiger, riesiger Igelkaktus, auf den, wie die Kodizes zeigen, die Menschenopfer gelegt wurden, damit sich ihr verströmendes Blut in die Gottheit ergieße: heute legt man in den Küstengegenden diesen Kaktus auf Wunden, die, so klaffend sie auch sein mögen, im Nu vernarben.

Auch in Europa glaubte man an die Heilwirkung der Kakteen. Zum Beweis sei eine Stelle aus Friedrich Hebbel hier angeführt, obwohl ich sie vielleicht hätte dort erwähnen sollen, wo ich von den literaturgeschichtlichen Beziehungen des Kaktus sprach. In seinen Tagebüchern erzählt Hebbel:

»In Hamburg auf dem Stadtdeich kommt eines Morgens zu meinen Wirtsleuten, den alten Zieses, ein Bauernweib mit Gemüse. Sie erblickt auf dem Fenstersims eine Pflanze, eine Art Kaktus, setzt ihren Korb beiseite und kniet nieder. Dann sagt sie: ›Das tu' ich jedesmal, sobald ich diesen Baum sehe, denn ihm verdank' ich's, daß ich wieder gehen und stehen kann; ich war gichtbrüchig wie Lazarus, da riet man mir, den Saft seiner Blätter auszupressen und zu trinken, und davon wurde ich wieder gesund.‹«

 
IX. Ethnographie

Längst leben die Kakteen in der Diaspora, fast alle auf allen Kontinenten, jedoch keineswegs allüberall zu der Menschen Freude. In Australien z. B., wo man die Wälder verbrennt, um den Schafen Weideland zu schaffen, hat sich ein Kaktus eingenistet, der auf deutsch »Feigendistel« und auf englisch »Prickly Pear« heißt, obzwar er weder mit 39 einer Feige noch mit einer Birne nennenswerte Ähnlichkeit hat. Kaum einen Schafzüchter habe ich dort gesprochen, der diese Pflanze nicht mit australischen Flüchen bedacht hätte, weil sie dem Boden das Gras entzieht und mit ihren Dornen die Herden verletzt. »Aber, nur Geduld! Schon haben wir einem englischen Entomologen den Auftrag gegeben, einen Wurm zu züchten, der den bloody Kaktus auffressen wird mit bloody Stumpf und Stiel, mit bloody Haut und Haar.«

In Mexiko hat der Kaktus keine solchen meuchelmörderischen Feinde, wenngleich er auch hier nur ein Unkraut ist, insofern ihn niemand anbaut, und er auch hier den Tieren Harm tut, die ihm zu Leibe rücken. Neben Orchidee und Bougainvilla und Rose steht er als Zierpflanze in Ehren und ist als Nutzpflanze unentbehrlich.

Wie sehr sich des Kaktus und des Menschen Leben wechselseitig bedingen, können Sie auf dem Land beobachten. Sie stehen vor einer Hütte, einer wie hunderttausende, armselig mit armseligem Hof. Der Zaun aber ist prächtiger und sichernder als das Gitterwerk einer Villa. Grün gerippte, meterhohe Orgelkakteen sind aneinandergeschlossen zu einer Phalanx, durch die kein feindlicher Mensch und kein feindliches Tier zu dringen vermag, selbst eine Schlange nicht. Wollte jemand hinüberklimmen, flugs bekäme er Stacheldrähte zu spüren, die aus der Pflanze wachsenden Widerhaken.

Die Hütte hinter dem Zaun ist ebenfalls dem Kaktus entboren, wenn auch nicht dem gleichen, der den Hof umschließt. Als Ziegelsteine und als Schindeln sind die flachen ovalen Glieder der Opuntia robusta verwendet, die auch alles »hölzerne« Material für den Haushalt beisteuert, denn sie wird so hart und unverweslich wie Mahagoni.

Bei isolierten Indiostämmen tut der Kaktus alle Arten von Diensten. Im östlichen Chiapas stricken die Frauen mit Hilfe langer weißer Kaktusstacheln, und auf den Berghängen bei 40 Guaymas dient ein Kaktusglied als Kamm und Bürste zugleich. Weil wir gerade von Haarpflege sprechen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß auf allen Märkten Opuntien als Haarwaschmittel verkauft werden. Sie schützen gegen das Ergrauen, und mag das Gesicht der Indiogreisin noch so fahl sein, ihr glattes und in Zöpfe geflochtenes Haar glänzt schwarz wie in ihrem ersten Lebensjahr.

Lieblingsspiel mexikanischer Kinder ist der Stierkampf. Über Bürgersteig, Fahrbahn oder Spielplatz tobt ein hölzernes Gestell auf Rädern, der Stier. Zwei echte Hörner sind seine Waffe, aber zwischen ihnen und an den Flanken des Steckenstiers sind Kaktusglieder befestigt, in die der kleine Picador die hölzernen Lanzen stößt und schließlich der kleine Torero sein hölzernes Schwert.

 
X. Gastronomie

Alle Gänge eines Mittagessens können aus Kaktus bereitet werden. Sogar das Fleisch wird von einer saftigen Scheibe der Opuntie täuschend vertreten, eine gleiche, wie man sie als Salat anrichtet. Dieses Menu aus Kaktus wird auf einem Herd gekocht, der mit Kaktus geheizt ist.

Kaktusfrüchte wie Pitaya und Tuna sind das billigste Obst, man kann es auf allen Wegen pflücken. An Ständen auf der Straße und in Konfitürengeschäften kauft man es kandiert, als Gefrorenes, als Kompott, als Fruchtsaft, als Dulce de Bisnaga.

In diesem Zusammenhang muß ich wohl oder übel einer Sache Erwähnung tun, die nicht eben ins Gebiet der Gastronomie gehört, jedoch die Unverwüstlichkeit der Kakteen deutlicher dartut als alles andere. Auf der Tiburón-Insel im Kalifornischen Meerbusen (zum Staat Sonora gehörig) nähren sich die wilden, starken Seri-Indianer fast ausschließlich vom Feigenkaktus, Opuntia ficus indica, dessen 41 Früchte sie in der Reifezeit heißhungrig in Unmengen verschlingen. Mit dieser Hemmungslosigkeit kontrastiert die fürsorgliche Maßnahme, die Resultate ihrer Verdauung gut aufzuheben. Das rettet sie, wenn die Saison des Mangels heranbricht, vor dem Hungertod. Denn dann suchen sie aus den inzwischen hart gewordenen Fäces die unverdauten Teile heraus, essen, verdauen und bewahren sie von neuem, um sie in der nächsten Hungerzeit wieder herauszuholen, zu essen und so ad infinitum.

 
XI. Hydrologie

Sie wissen, meine Herren, daß ich gegenwärtig ein Lehrbuch über Mexiko schreibe, und ich habe es mit einer Abhandlung über den Mais begonnen. Denn so wie die Kultur Europas mit dem Anbau von Korn und wie die Kultur Asiens mit dem Anbau von Reis zur Welt kam, fängt diejenige Amerikas mit dem Zeitpunkt an, da der indianische Mensch Mais züchtet und zu diesem Behufe seßhaft wird.

Vorher muß jedoch dieser Mensch dagewesen sein, wenn auch nur als Nomade. Wie war er ins Land eingedrungen, ohne zu verdursten, wer wies ihm die Richtung durch die Wüstenei zum wilden Mais, zum künftigen Bauplatz für Hütte und Dorf? Niemand anderer als der Kaktus. Er war's, der den Menschen hereinführte und eine brache Unendlichkeit zum blühenden Lande machte, und ich frage mich, ob ich ihn nicht doch dem Mais voranstellen sollte.

Noch heute, meine Herren, können Sie längs der Steppenwege Kaktusalleen bemerken, sofern Sie ihnen überhaupt einen Blick schenken. Meist verzichten diese Kakteen auf Blätterwerk und Zierat, sie halten sich gerade, senkrecht fast, um den Pfeilen der Sonne so wenig Fläche als möglich darzubieten. Manche verhüllen sich sogar mit einem Haarbüschel, einem verfilzten Schopf zum Schutz gegen 42 Sonnenstich und Sonnenbrand. Abgehärtet, geradezu gegerbt ist ihre Haut, um keinen durstenden Sonnenstrahl hereinzulassen und kein Tröpfchen Wassers zu verschwitzen. Ihre Rippen haben eine raffinierte Form des Widerstands, die des Wellblechs, so daß der anstürmende Samum ihren Körper wohl biegen, aber nicht brechen kann. Von ihren Waffen gegen animalische Feinde haben wir bereits gesprochen.

Sie sehen, meine Herren, daß die Kaktusalleen im Steppengebiet die ältesten Denkmäler des Landes sind, älter als Gräberfunde oder Knochen vorsintflutlicher Ungeheuer. Niemand hat diese Alleen gepflanzt, sie haben die heutigen Wege umsäumt, bevor es die Wege gab. Entlang der Kakteenzeile liefen die Tiere, entlang dieser Zeile konnten sie nicht verdursten, entlang dieser Zeile folgte ihnen der Jäger.

Der Wanderer aß die erstaunlich saftigen Früchte der Wüstenpflanze und rastete, ich verwende hier Goethes Worte, an jenen »Oasen, die die pflanzenleeren Wüsten so beleben wie die Orchideen den trockenen Stamm der Bananenbäume und die ödesten Felsenritzen.«

Wenn Sie, meine Herren, das Steinplateau von Coahuila durchwandern, kann Ihnen jeder Peón die ewige Methode zeigen, aus dem vegetabilischen Quell einen Trunk zu tun. Er gräbt einen Kaktus aus, spannt ihn zwischen zwei Steine und bohrt in die Mitte eine Öffnung. Dann zündet er die Pflanze an beiden Enden an, das Feuer treibt alle Flüssigkeit dem Loch zu und diese tropft nun in den darunter gehaltenen Flaschenkürbis oder in die hohle Hand. Des dergestalt geschöpften Wassers ist nicht viel und es schmeckt auch bitter, – aber für einen Verdurstenden!

 
XII. Dialektik

Vielleicht geht einer oder der andere von Ihnen, meine Herren, eines Nachmittags vor irgendeinem 43 Provinzstädtchen spazieren, wohl um der Liebe willen. Sie achten nicht des staubigen und recht gewöhnlichen Gewächses auf den Hügelwellen, das weder Ihnen noch sonst jemandem in der Nähe einer Stadt wichtig ist. Sie lassen das Unkraut links liegen.

Aber ein paar Stunden später, in der Abenddämmerung, kehren Sie den gleichen Weg zurück und werden aufgeschreckt aus Ihren Gedanken oder Ihrer Müdigkeit durch Wogen leuchtender Strahlen. Plötzlich ist das staubige Unkraut zur Blüte aufgeschossen.

Sie schämen sich Ihrer Überraschung beim Anblick dieser Pracht, hätten Sie doch, Schüler der dialektischen Lehre, die Entwicklung des Gegensätzlichen erwarten sollen. Sie hätten wissen müssen, daß sich im revolutionären Punkt der evolutionären Entwicklung aus dem Elendesten der Erde die Blume des Schönen entfalten wird. 44

 


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