Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Geschäftsreise

Warst du einem eben angekommenen Amerikaner bei seinen sprachlichen Schwierigkeiten behilflich, oder hast du ihn sonstwie kennengelernt, so schlägt er sich plötzlich auf die Stirn. Ihm ist eine Eingebung gekommen, wie sie vor ihm noch niemand hatte.

Er lädt dich zu einer Reise durchs Land ein, nach Tonalá, nach Tlaquepaque und sonstwelchen Orten, die er aufzählt. Sein Trip geschehe zum Vergnügen, zur Erholung und um etwas zu sehen von der Welt, und er will dich mitnehmen, auf seine Kosten natürlich, weil du ein so netter Kerl bist.

Naiv fragst du, warum er gerade nach Tlaquepaque will und nach Tonalá, das seien doch keine Touristenziele? Well, antwortet er, er könnte bei dieser Gelegenheit einige Geschäfte abschließen, aber das sei nicht so wichtig.

Er hatte sich eingebildet, spanisch zu sprechen, weil er sich das erste Heft eines spanischen Lehrkurses gekauft hat, in Mexiko aber merkte er, daß seine Kenntnisse und ein Taschenwörterbuch nicht genügen, die Geschäfte durchzuführen, die der Zweck seiner puren Vergnügungsreise sind. Wohl könnte ein in Mexiko ansässiger Kommissionär die Einkäufe besorgen, aber der kennt erstens den ganz besonderen Geschmack nicht, den die Kunden der Firma haben, und zweitens würde er Provision verlangen.

Da, als die Kalkulation am höchsten ist, bist du am nächsten, ein Sitz in seinem Auto kostet nichts und ein Hotelzimmer in den kleinen Städten kostet, von der Dollarwährung aus gesehen, fast auch nichts. Gerührt von seiner eigenen Hochherzigkeit stellt er dir die Frage: »Is it allright with you?« 191 Und wenn du nichts Besseres zu tun hast oder gerade in jene Gegenden willst, ist es allright mit dir.

*

Eigentlich gibt es nur drei Staaten in Mexiko, wo man Heimarbeit en gros einkauft: Oaxaca, Michoacán und Jalisco.

Eigentlich gibt es in den drei Staaten nur eine Sorte, um derentwillen der ausländische Einkäufer die mexikanischen Provinzstraßen nicht scheut; diese Sorte führt in der New Yorker Warenkunde die offizielle Bezeichnung: »Tinneff«.

*

Du rollst mit deinem Chef zunächst der Stadt Oaxaca zu. Dort war er schon vor einer Woche und allein. Wie er dir unterwegs erzählt, hat er dort nichts ausgerichtet, aber das war bei Gott nicht seine Schuld. Nicht im Traum konnte ihm einfallen, dort Schwierigkeiten zu finden. Saß doch in Oaxaca sein langjähriger Lieferant Gallardo Gallegos, und der hatte erst vor ein paar Wochen der Firma geraten, einen Einkäufer hinzuschicken.

»Ich komme mit meinem Auto in Oaxaca an und frage im Touristenbüro, wie ich zu Gallardo Gallegos komme? Wissen Sie, was man mir sagt? Man sagt mir, Gallardo Gallegos sei im Gefängnis. Man sagt es mir auf englisch, damit ich meinen Ohren traue. Aber ich traue meinen Ohren nicht, fahre ins Hotel und frage dort, wo ich Gallardo Gallegos treffen könnte. ›Der ist im Gefängnis‹, sagt mir der Hotelier, ›wegen Mord.‹«

Dein Amerikaner hat sich noch nicht von diesem Mißgeschick erholt: »Ich reise schon fünfzehn Jahre in den Staaten, aber das ist mir noch nicht passiert, daß ein Kunde im Gefängnis sitzt. Und wenn, dann sitzt er wegen Konkurs oder irgendeiner Wechselgeschichte, aber nicht wegen Mord.« 192

Er erzählt dir noch eine zweite Episode: »Ich bin hartnäckig, müssen Sie wissen, ganz Amerika kennt mich als stubborn. Also fahre ich nicht gleich weg. Ich denke mir, vielleicht ist die Sache mit Gallardo Gallegos ein Fingerzeig Gottes, daß ich direkt bei den Handwerkern einkaufen soll, da erspare ich den Zwischenhändler. Der Hotelier gibt mir einen Mann mit, und der fährt mich nach einem Töpferdorf, Coyotepec oder Coyoacán heißt es, – hier in diesem Land heißen ja alle Orte gleich, Guadalajara und Guadalupe, und so weiter . . . Wir sind also in diesem Nest Coyotepec oder wie immer es heißt. Wissen Sie, was die Weiber dort machen?«

Ja, du weißt es. Sie machen die Cántaros, die eisengrauen Kugelgefäße, die du so liebst.

»Sie machen dort ganz runde Töpfe, kugelrund, ob Sie's glauben oder nicht. Sogar unsere alte Erdkugel ist oben und unten flach, damit sie der Herrgott im Notfall irgendwo aufstellen kann. Aber diese Töpfe sind nirgends abgeplattet, niemand kann sie hinstellen. Wie soll man so etwas im amerikanischen Haushalt verwenden?«

So wie sie im mexikanischen Haushalt verwendet werden, könntest du antworten. Ein Topf in Kugelform, den man an einem Strick in den Brunnen hinabläßt, füllt sich sofort und richtet sich senkrecht auf, ohne die Hälfte des Wassers zu verlieren. In der Stube hängen die eisenfarbenen Cántaros von der Wand oder von der Decke. Man trinkt daraus beim Essen, ohne sich bücken oder aufstehen zu müssen, den Mescalschnaps und das Wasser, das sich darin besonders kalt hält. Auch können in keiner Vase Blumen so schön wirken, wie in diesen Eisenkugeln aus Ton.

Das alles könntest du antworten, aber du sagst nur, daß es keine Ständer gäbe, auf die man die runden Töpfe stellen kann.

»Das ist Nonsens«, erfährst du. Kein Amerikaner würde eine Kanonenkugel als Vase benutzen, keine Amerikanerin würde ihre Wasserflasche im Wohnzimmer aufhängen, kein 193 Amerikaner trinke aus einem schmutzigen Fußball. »Als man mir das Zeug gezeigt hat, hab' ich mich umgedreht und bin weggefahren.«

*

Jetzt fährt er wieder hin, geheilt von seiner Idee, direkt beim Töpfer einzukaufen. Deine Aufgabe soll es sein, einen neuen Lieferanten zu finden.

»Vielleicht kann uns Gallardo Gallegos einen empfehlen«, sagst du.

Dein Chef schaut dich kopfschüttelnd an. »Wo wollen Sie Gallardo Gallegos finden? Glauben Sie denn, daß er gerade in Oaxaca eingesperrt ist? Und daß man so mir-nichts-dir-nichts hingehen kann? Ich wollte einmal jemanden in Sing-Sing besuchen, da habe ich vorher ein Gesuch machen müssen mit meiner ganzen Lebensgeschichte, mit den Gründen meines Besuchs, – nein, ich möchte nicht wochenlang in Oaxaca bleiben.«

In Oaxaca dirigierst du das Auto direkt zum Gefängnis. Dort ist gerade Hofstunde, und als du einen Wärter fragst, ob etwa ein gewisser Gallardo Gallegos hier in Haft sei? ruft er durchs Fenster: »Don Gallardo Gallegos! Kunden sind da, Gringos!«

Don Gallardo erscheint im Straßenanzug, freut sich, euch zu sehen, fragt, ob er euch ein Frühstück anbieten dürfe und führt euch, von niemandem begleitet, in sein Büro hinauf. Sein Büro ist auf dem Korridor, zwei Tische mit je einer Schreibmaschine; die eine bedient er selbst, die andere ein Häftling, den er in Dienst genommen hat. Dann führt euch Don Gallardo in seine Zelle, die als Warenlager eingerichtet ist, und erklärt euch Novitäten und Preise.

»Wie gehn die Geschäfte, Don Gallardo?« fragst du. »Regular«, antwortet er, »in mancher Beziehung sogar besser als draußen. Man wird hier nicht so abgelenkt.« 194

Im Auftrag deines Chefs fragst du ihn, warum er eingesperrt ist.

»Ach, eine blöde Geschichte, nicht der Rede wert. Ich sitze mit ein paar Freunden im Nachtlokal, und wir trinken ein paar Gläser, wie das schon so ist. Da fängt ein Ranchero Radau an wegen eines Mädels an unserem Tisch, ein widerlicher Bursche, mit dem ich schon oft aneinandergeraten bin. Er zieht den Revolver, wir natürlich auch, und plötzlich fällt er tot um. Man behauptet, ich habe ihn erschossen. Ich war's aber nicht, es war einer meiner Freunde, den ich nicht belasten wollte. So bekam ich fünf Jahre aufgebrummt . . . Man muß mich hier meiner Arbeit nachgehen lassen, sonst würden fast alle Töpfer der Umgegend arbeitslos. Ich habe sogar im Gefängnis eine Töpferwerkstatt eingerichtet und kann Ihnen jetzt prompter liefern als früher, vor allem laufende Ware.«

Die laufendste dieser laufenden Ware ist eine Oaxaca-Vase, die aussieht, als habe jemand an ihrer Öffnung eine Farbentube nach der anderen und neben der anderen ausgedrückt. Da alle Farben des Spektrums beim Hinuntertriefen mitgemacht haben und nachher die Vase auf Hochglanz glasiert wurde, ist sie ein beseligendes Schmücke-dein-Heim für jedermann, und ihrer geschätzten Bestellung ehebaldigst entgegensehend, kauft dein Amerikaner drei Waggons dieser Majolikavasen und einen Waggon ebensolcher Töpfe, Kannen, Teller, Aschenbecher und Nippsachen.

Befriedigt über die Geschäftsgebarung im Zuchthaus fährt er noch am gleichen Tage mit dir nach der Hauptstadt zurück.

*

Das nächstemal fährst du mit deinem Chef nach Uruapan, weil er Lackwaren einkaufen will. Aber es stellt sich heraus, daß die Lackwaren aus der Stadt Uruapan nicht die sind, die er sucht. Er sucht weit buntere und billigere. Die gibt es in den Dörfern der Umgebung, in Paracho und Quiroga. 195

Zweck und Rohmaterial der Waren aus der Stadt Uruapan und der Waren aus ihrer Umgebung sind einander gleich: Holzteller oder Servierbretter, runde und ovale, Charolas und Bateas. Das Holz stammt aus den harztriefenden, terpentinhaltigen Waldungen, die gegenwärtig von der Lava und dem Rauch des Vulkans Paricutín erfüllt sind. Den Lack, schwarz, glänzend und unzerstörbar, liefern wilde Bienen und eine Blattlaus namens Aje. Mit diesem Insektenprodukt, das in Leinöl und animalischen Flüssigkeiten aufgelöst ist, wird der Teller grundiert, getrocknet und mehrmals wiederlackiert. Dann werden in den Lackfond alte mexikanische Motive geschnitten, und auf diesen Ausschnitten verreibt der Arbeiter mit dem Daumen eine Farbe nach der andern in wochenlanger Arbeit. Aber ewig wie der einfarbige Grund bleibt das ihm tief eingefügte Bunt. Froh grüßen die Blumen von den Beeten, ein Zierat sind die auf schwarzen Fond geklöppelten Spitzen.

Jedoch der Masseneinkäufer braucht Massenware, und die kann man aus Quiroga und Paracho weit billiger und greller beziehen. Dort wird der Fond nicht ausgeschnitten, sondern das farbige Sujet, je farbiger desto besser, einfach aufgemalt, häßliche Klatschrosen, hellblaue und knallrote, kitschige Frauenköpfe, stilisierte Agaven. Dein Chef kann sich hier mit jeder Art von beblümter Holzware versorgen: mit Schöpflöffeln und Kakaoquirlen, Gartenstühlen und Salzfässern, Bücherbrettern und Stopfeiern, Spazierstöcken, Leuchtern und was nicht noch.

*

Keineswegs freut sich der Großhändler bei eurem Eintritt. Er fürchtet Vorwürfe, weil er die Bestellung vom 27. September vorvorigen Jahres und die vom 4. Januar vorigen Jahres nicht ausgeführt hat, von nichtbeantworteten Mahnbriefen ganz zu schweigen. Er beginnt mit Ausreden. Die zwei Waggons mit den bestellten Waren seien schon fertiggestellt gewesen, aber 196 drei Gros grüner Kindersparkassen hätten ihm gefehlt, und so habe er das Ganze nicht abgeschickt, er liebe Ordnung. Was die anderen Orders betrifft . . . es sei jetzt so schwer Waggons zu bekommen . . . Und schreiben . . . durch die Kriegszensur sei der Postverkehr so unregelmäßig . . . Und . . .

Man glaube aber nicht, daß der Großhändler seine Ware ungern verkauft. Im Gegenteil, er verkauft sie sehr gern, wenn auch nicht so gern, daß er den Verkauf in Bürokratie oder gar in Arbeit ausarten ließe. Frachtbriefe, Fakturen, Zollvorschriften, Laderaumbeschaffung, Buchführung und Korrespondenz erscheinen ihm seltsamerweise höchst langweilig. Er läßt die Ware von Heimarbeitern herstellen, und es wäre ihm am liebsten, wenn der Detailhändler mit einem Lastauto ankäme, aufladen würde, was er braucht, bezahlen und dorthin fahren würde, wo der Pfeffer wächst, – das heißt, wo der Pfeffer nicht wächst. In Mexiko wächst er.

*

Du hast deinen Amerikaner in den Sattel gesetzt, und er weiß jetzt schon, wie Dutzend und Gros auf spanisch heißt. Er hat sich daran gewöhnt, daß viele Items keine Warenbezeichnung und keine Warennummer haben; deshalb beschreibt er in seinem Bestellbrief jedes Stück mit präzisen Charakterisierungen, wie »highly colorful« oder »most decorated«, und gibt die Größen an, die er mit dem Zollstab genau gemessen hat. Dabei sieht er voraus, daß die Maße bei der Ablieferung ja doch nicht stimmen werden, die verfluchte Handarbeit soll der Teufel holen.

Inzwischen hast du Zeit, dich in den Magazinen der bemalten Gipsfiguren umzusehen, zu lustwandeln in Schreckenskammern des internationalen Kitschs. An Hunderten von pfeilbewehrten Amors mit Psyche vorbei läufst du Spießruten; Hunderte von Napoleons mustern dich unter ihrem Zweispitz; ein muskulöser Barbar raubt vor deinen Augen hundertmal 197 die gleiche Sabinerin; Gretchen erschauert hundertmal beim Anblick Mephistos; dem geilen Pan gelingt es hundertmal das zappelnde Nymphlein zu entführen; hundertmal rennt Don Quijote die Windmühlen an, ohne zu merken, daß sie nicht die Phalanx der Feinde sind; hundert Colleonis reiten finsteren Blicks an dir vorbei und hundert nackte Schlangenbändigerinnen bieten dir ihre Reize dar. Auch der Humor will durch Quantität wirken, aber dir Humorlosem erscheinen hundert kackende Männer nicht witziger als wenn's nur ein einziger wäre.

Die Sujets für den inneren Markt sind nicht minder vom Geschmack der Zeitläufte verdorben, wenigstens jene, die in Massen gehandelt werden. Du willst dich eben von ihnen abwenden, als dir einfällt, daß du hier vielleicht die Themen für ein Mexikobuch finden könntest. So schreitest du denn dein künftiges Inhaltsverzeichnis ab.

Die Marterung Cuauhtémocs durch Cortez. – Der Kalenderstein der Azteken. – Der Adler mit Schlange und Kaktus, das Wappen des Landes. – Die Sage vom Berg Popocatépetl und seiner Geliebten Iztaccíhuatl. – Die China Poblana, die eine chinesische Piratensklavin war und dann geachtet in der Stadt Puebla lebte. – Pater Hidalgo, die Glocke läutend zum Aufruhr gegen die Spanier. – Benito Juárez, das aztekische Indiogesicht. – Porfirio Díaz mit silbernem Schnurrbart und goldenen Orden. – Emiliano Zapata, der Bauernführer, mit dem das Land für die Aufteilung des Landes kämpfte. – Lázaro Cárdenas, der den einheimischen Bauern Boden gab und den fremden Trusts das Petroleum nahm. – Cantinflas, ein Volkskomiker, mexikanischer Chaplin.

Dann anonyme Gestalten aus den autochthonen Arbeitsprozessen: Gondolieros von Xochimilco, dem Gefild schwimmender Gärten. Tlachiqueros, die der Agave mit Hilfe eines Kürbis das Honigwasser entsaugen. Chicleros, die in den Urwäldern Kaugummi fördern. Maultiertreiber. Lastträger, turmhoch bepackt mit Tongefäßen oder Körben. Tortilleras. 198 Mariachi, die Straßenmusikanten. Fröhliche Friedhofsszenen am Totensonntag.

So. Nun brauchst du diese Themen nur auszuführen und dein Buch ist fertig.

*

Von Guadalajara und vom Staat Jalisco, dessen Hauptstadt Guadalajara ist, singen viele Lieder. Sie hämmern auf dich ein und wiegen dich in der Vorstellung, Jalisco sei ein Phäakenland, wo du dich nie aufregst, und in Guadalajara blühe ununterbrochen das Glück. Hast du aber das Unglück, wissen zu wollen, wovon und wie die Massen dieser Stadt, der zweitgrößten des mexikanischen Reiches, leben, so klingen andere Lieder in dein Ohr.

Peripherie und Umgebung leben fast ausschließlich von Heimarbeit, und der Großteil der Produkte geht ins Ausland. Was einst Handwerk war, ist zwar immer noch Handarbeit, aber nicht mehr individuell und unabhängig. Sie wird im Auftrag des lokalen Großhändlers geleistet, der ohne Fabrik und ohne Verpflichtung zu Taglohn und Arbeitsschutz all das erzeugen läßt, was der Auslandsmarkt von ihm verlangt. Dieses Manufakturwesen in der Epoche industrieller Produktionsweise muß mit der industriellen Produktionsweise Schritt halten, sie sogar überbieten.

In der Vorstadt Tlaquepaque wirst du in jedem Haus den gleichen Zustand finden: Arbeitsvolk ohne Raum. Auf der steilen Stiege, im engen Flur, in Küche und Kammer und auf dem winzigen Hof drängt sich eine Belegschaft von Männern, Frauen und Kindern, Mitglieder einer Familie, verstärkt durch die Nachbarschaft.

Die erste der Werkstätten, in die du mit deinem Chef kommst, ist eine Silberwerkstätte. Er kauft alles das, was schon fertiggestellt im Schrank liegt, das, was noch schwarz und heiß der letzten Politur harrt und was noch im ersten 199 Arbeitsgang steckt. Du siehst Acht- und Neunjährige, die mit der Traktolinflamme hantieren, das Silber schmelzen und zu Fäden ziehen, feilen und knüpfen, den Staub einatmen und die Ware putzen, filigranste Filigranarbeit.

Mit Menschen vollgepfropft sind auch die Stuben, in denen Huaraches entstehen, Sandalen geflochten aus Streifen von schlechtgegerbtem und daher stinkendem Leder. In Häusern anderer Straßen knüpft man netzartige Vorhänge oder dicke Wollteppiche. Anderswo werden Matten aus Bast geflochten und wieder anderswo Gartenmöbel mit Ziegenleder bespannt und mit Farbe bestrichen.

Dort, wo Glas verarbeitet wird, sind die Räumlichkeiten nicht so patriarchalisch und angesichts der offenen Feuer und Kessel hast du den Eindruck, in einer Fabrik zu sein. Aber welch eine anachronistische Fabrik! Die Glashütten auf den böhmischen Bergen um Gablonz, wo ein alter Meister mit gleichaltrigen Gesellen den Blasebalg tritt und die Formen schneidet, sind moderne Industrieanlagen gegen die Glasbläsereien hier.

Vasen, Gläser und Karaffen wachsen aus dem Mund des Arbeiters, sein Schoß ist die Drehbank und seine Hände sind die Drehscheibe. Auch in dieser Halle voll Flammen und Gluten arbeiten Kinder! Um dir ihr Können vorzuführen, blasen sie eine Zigarettenspitze, die sie zu einem Knoten schlingen, solange das Glas heiß ist, und überreichen sie dir, eines Gegengeschenks gewärtig.

Dominierend in Tlaquepaque sind die Töpfereien. In dieser Stadt findest du sie in Haus und Hof, die sich voneinander nur dadurch unterscheiden, daß das Haus gedeckt und der Hof ungedeckt ist. Alles ist Lehm, der Arbeitsplatz, das Arbeitsmaterial und das Arbeitsprodukt. Selbst die Hände und das Gesicht des Arbeiters sind triefender Lehm. Von dem aus Lehm gebauten und zum Brennen des geformten Lehms dienenden Trockenofen wird eben Suppe gebracht, – sie sieht aus, als könnte man aus ihr irdene Gefäße kneten. Du gehst 200 durch die Gassen und ununterbrochen begleitet dich das Geräusch von Handflächen, die auf Lehm klatschen, Tlaquepaque, Tlaquepaque.

Stolz zeigt dir der Häuptling eines solchen Töpferstamms seinen Sohn, einen etwa Zwanzigjährigen, der im vorigen Monat sein hunderttausendstes Schweinchen vollendet hat, das heißt die hunderttausendste irdene Sparkasse. Er habe sich vorgenommen, es auf eine Million zu bringen.

»Glauben Sie«, fragst du deinen Amerikaner, »daß dieser ehrgeizige Jüngling den Rekord machen wird? Wird nicht vorher eine Maschine konstruiert werden, die das Quantum seines Lebensziels in ein paar Tagen herstellen kann?«

Machen Sie sich keine Sorgen! Die Maschine wird nicht geboren werden. Denn keine Maschine ist so billig wie diese Leute. 201

 


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