Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Liebe und Lepra

Ein Strauß langstieliger weißer Gladiolen schmückt ihre Brust, zu ihren Seiten brennen Kerzen, zu ihren Füßen halten zwei Frauen die Totenwacht. Nur der Teint unterscheidet die Tote von den Lebenden: das metallische Purpurrot der Leprakranken, im Tode wird es abgestreift. Auf zwei Arten; bringt die Lepra um, sie erwürgt oder sie trifft ins Herz; die Erwürgten werden blau, die anderen blaß. Die typischen Knoten im Gesicht der toten Frau vor dir liegen auf fahlem Fond.

»Sie muß sehr alt gewesen sein«, meinst du zum Arzt.

»Vor einem Jahr hat sie hier ein Kind geboren«, antwortet er.

»Lebt ihr Mann auch hier?«

»Sie war ledig und hat sich mit einem unserer Patienten zusammengetan. Im vorigen Monat haben wir ihn entlassen.«

»War er geheilt?«

»Jedenfalls nicht mehr ansteckend. Lepra tuberosa, ein leichter Fall, geschlossene Wunden. Er war übrigens ein hübscher Mensch.«

Du schaust auf die Tote.

»Was er an ihr fand, wissen wir nicht«, sagt der Arzt. »Vielleicht schrauben sich hier die Ansprüche herab, vielleicht gefällt einem das, was einem ähnlich ist.«

»Ist das Kind tot?«

»Warum tot? Lepra vererbt sich nicht. Selbstverständlich wurde der Säugling der Mutter gleich weggenommen und wie alle Kinder von Leprakranken nach Tlalpan gebracht ins ›Preventorio para hijos de leprosos‹. Vor einigen Tagen kam eine Mitteilung aus Tlalpan, daß es dem Kind gut geht.«

Die Ehe zwischen Leprösen ist vom Gesetz verboten. Aber kein Gesetz kann die Liebe verbieten. Am Rand des 131 staatlichen Lepraheimes von Zoquiapan, innerhalb des eingezäunten Areals, stehen Hütten aus Lehm; sie wirken noch elender gegenüber den offiziellen Pavillons mit den blitzblanken Zementmauern und den wohlgepflegten Gärten. In diesen Pavillons leisten weißgekleidete Pflegerinnen den Kranken Gesellschaft, manche mit einem Tuch über der Nase, aber sichtbaren, geschminkten Lippen, manche mit unverschleiertem und deshalb mehr geschminktem Gesicht. Im Küchenhaus bereiten nichtleprakranke Köche das Essen zu.

Hüben, vor den kahlen Hütten, blüht statt eines Gartens der Abraum, und Myriaden von Fliegen umschwirren ihn. In jeder Hütte sitzt ein Kranker neben einer Frau, die ihm ähnlich sieht, sie bäckt ihm Tortillas und brät ihm Tacos. Drüben in den Pavillons wird den Patienten der Saft der indischen Chaulmoograpflanze injiziert oder in Gelatinekapseln eingegeben. Hüben in den Lehmhütten rauchen die Kranken die Droge des Vergessens, Marihuana.

So primitiv handgemacht die Hütten sind, sie besitzen ein Industrieprodukt, um das sie jeder Hüttenlose beneidet: ein Vorhängeschloß. Wenn die Hütte leer ist, hängt das Schloß draußen, ist sie besetzt, hängt es drinnen. Nachts hängt es immer draußen, denn schlafen müssen alle in den Pavillons, die Frauen extra, die Männer extra, selbst Ehepaare leben nachts getrennt.

Da du in den großen Saal der Bettlägerigen eintrittst, richtet sich im Bett neben der Eingangstür ein Kranker auf und starrt dich an, als fühle er das Beleidigende deines Grausens und wolle sich dafür rächen. Seine Augen sind gegen dich gezückt, es lodert in ihnen Haß, Wut und Verachtung, die sich steigern, während er dich mustert. Alles an dir mißfällt ihm total. Gleich wird er aufspringen und dich tödlich verwunden. Die Waffe hat er zur Hand: seine Hand. Er braucht dich nur zu berühren. Daß du sein Ziel bist, verhehlen seine Augen nicht. 132

»Er ist blind«, bemerkt der Arzt zu dir, »den ganzen Tag starrt er so ins Leere. Viele sind blind, der junge Chinese dort ist auch blind!«

»Diese Chinesen auch?« fragst du, auf zwei deutend, die miteinander von Bett zu Bett Schach spielen.

»Das sind keine Chinesen, sie sind Indios. Die Krankheit verstärkt nur ihren mongolischen Typ, sie zieht die Augenwinkel hoch, läßt die Brauen ausfallen und das Haar und verbreitert die Nase.«

Im Saal der Frauen hockt eine am Bettrand und zupft, da sie dich herankommen sieht, hastig ihr Kleid herunter, das hochgerutscht war. Ihr Gesicht ist das eines Pekineserhündchens, von der Nase sind nur die Nasenlöcher geblieben. Verlegen lächelt sie, ob du nicht doch etwas von ihrem Bein gesehen.

An jedem Bettgestell baumelt ein Rosenkranz, auf jedem Nachttisch steht ein gerahmtes Heiligenbild, an den Wänden hängen viele, immer der gleiche Heilige. »Sankt Lazarus«, erklärt mir ein Kranker, der meinem Blick folgt, »Sankt Lazarus hatte Lepra und wurde vom Tode erweckt.«

Sicherlich glauben das alle ringsumher, und es tröstet sie, daß die Heilung der Lepra möglich ist, nämlich ebenso möglich wie die Erweckung vom Tode. Aber es ist gar nicht der auferstandene Lazarus, der hier hängt, sondern ein anderer Lazarus, ein Leprakranker, dem die Auferstehung verweigert wurde, wie das Evangelium Lukas erzählt.

Auch das Porträt eines Missionars grüßt dich von der Tünche der Wand her. Dieses Porträt kennst du. Es ist dir unvergeßlich aus einem schauerlichen Schaufenster in New York, das die Passanten an ihren Nerven in den Laden zu zerren versucht, in die Geldsammelstelle einer Mission. Die Gesichter und Gliedmaßen, die du hier im Lepraheim in natura vor dir hast, sahst du dort photographiert und vergrößert, und in der Mitte, von einem Heiligenschein aus Neonlicht umrahmt, hing das Bild dieses Missionars, des 133 Paters Damien, genannt Hero-Martyr, der freiwillig das Los der Aussätzigen auf der Sandwichinsel Molokai teilte.

Im Lepraheim bedarf es keiner Missionare. Hier behandeln Ärzte und Krankenschwestern, was zu behandeln ist. Es ist viel zu behandeln, aber nicht viel zu helfen. Was kann man machen mit drei- bis vierhundert Wunden auf einem Körper, der noch dazu nur das Fragment eines Körpers ist, ein eiterndes Skelett. Arzt und Schwester reinigen die Wunden, schmieren etwas Chaulmoograpomade darauf und verbinden mit dünnen Gazestreifen.

Du gehst durch Säle und an Sälen vorbei. Eine Bibelstelle kommt dir in den Sinn: Die Aussätzigen einer belagerten, hungernden Stadt – war es nicht Samaria? – beschließen einen Ausfall. Begründung: »Lassen sie uns am Leben, so bleiben wir am Leben, töten sie uns, nun so sind wir tot.« Du hast dir diese Worte gemerkt, weil sie dir wie ein Inbegriff der Gleichgültigkeit erschienen, eines alttestamentarischen »je m'en fiche«.

Jetzt, angesichts der Leprösen, verstehst du es anders, verstehst, daß das Leben im Aussatz kein großer Einsatz ist und daß die Aussätzigen von Samaria nicht viel getöteter werden konnten als sie schon waren. Aus dem Schutzwall dieser Erwägung brachen sie vor, und das Heer der Belagerer jagte mit gesträubtem Haar davon, als rücke der ganze Heerbann der Ägypter und Hethiter an. So ward Samaria entsetzt durch Entsetzen.

Die Waffenwirkung der Lepra hat auch in der Geschichte Mexikos ihre Rolle gespielt. Wann immer sich das Volk gegen die spanische Herrschaft erhob, schickten die Vizekönige Lepröse und Banditen, leprosos und léperos, gegen die Aufständischen zu Felde. Es gibt noch heute genug Lepröse in Mexiko, wenn sie auch nicht mehr zu solchen Aktionen herangezogen werden. Mindestens 26 000 der Staatsbürger sind leprakrank. In allen Ländern, wo es tropische Feuchtigkeit, Armut und Rückständigkeit gibt, gedeiht diese Krankheit, 134 auf dem Balkan, in Lateinamerika, vor allem in Asien und Afrika. Vier bis fünf Millionen menschlicher Wesen behaften unseren Erdball mit Lepra.

Im Schatten einer Hütte sitzt ein Liebespaar. Es scheint ihnen peinlich zu sein, daß du sie überraschst, aber sie lösen die ineinander verschlungenen Hände nicht, welche die Fluiden ihrer Liebe zur Einheit schließen.

»Ja«, sagt der Arzt, der deinen Blick auf die liebenden Hände mißversteht, »ja, diese Finger sind typisch für Lepra anaesthetica: verkrümmte Muskeln, Verknotungen an den Gelenken, blechglänzende Haut. Vollkommen abgestorben, ohne jedes Gefühl.«

Und voll Gefühl streicheln und küssen einander die Finger der beiden Liebenden.

Die langgestreckten Gebäude, auf denen die Aufschrift »Ambulantes« steht, sind nicht Ambulanzen, sondern enthalten die Wohnräume derer, die sich frei bewegen können. Im Garten tragen die Kranken schwarze Sonnenbrillen, die ihrem Antlitz noch das letzte nehmen, was an Menschenantlitz erinnert.

Die Ärzte bedauern, daß die Patienten nicht beschäftigt werden; eine industrielle oder landwirtschaftliche Arbeit auf dem weiten Terrain der Anstalt, das sich fast bis zu den Vulkanen und Schwefelquellen der Puebla-Berge hinzieht, würde Verdienst und Lebensinhalt geben. Freilich, Betriebskapital wäre vonnöten. »Das Lepraheim der Vereinigten Staaten verfügt über ein Budget von tausend Dollar pro Tag«, sagt der Arzt, »ein solcher Betrag muß bei uns für Wochen reichen. Dabei ist das amerikanische Institut – es liegt in Carville, Louisiana – nicht größer als unseres.«

Größer, das größte Leprahospital der Welt ist Culion auf den Philippinen. Es beherbergt fünf- bis sechstausend Kranke aller Nationalitäten. Auch das wird von den USA. erhalten. Hier in Mexiko sind nur ebensoviel Hundert 135 interniert, zwei Drittel Frauen, ein Drittel Männer sowie einige Kinder, für die eine Schule da ist.

Ein Indiomädchen, das neben anderen Frauen auf einer Treppenstufe strickt, ruft herüber: »Doktorchen, was ist mit meiner Entlassung? Ich soll doch im Mai heiraten! Mein Bräutigam drängt auf Hochzeit.«

»Weiß er, daß du hier bist?«

»Wie denn nicht! Er schreibt mir ganz ungeduldig aus Mazatlán. Wann wird meine Hochzeit sein, Doktorchen?«

Vor dem Kinderpavillon spielen Kinder mit einem Hund. Ein Knabe wickelt sich die Binde vom verschwärten Bein.

»Läuft der Hund nicht manchmal aus der Anstalt?«

»Er gehört gar nicht zur Anstalt«, antwortet der Arzt, »aber er kann niemanden anstecken. Auf kein Tier lassen sich Leprabazillen übertragen, nicht einmal auf Menschenaffen. Man sagt, daß Teppiche Bazillenträger sind, aber das ist niemals bewiesen worden. Unsere Kranken haben oft Urlaub, um nach Hause zu gehen. Auch Tuberkulöse und Syphilitiker sind ansteckend und verkehren doch, wo sie wollen.«

Der Hund, abgeneigt, sich zum Sprung über eine aufgespannte Binde zwingen zu lassen, versucht seine Künste an dir, er springt an dir hoch. Vielleicht hat er Hunger.

»Sie brauchen keine Angst zu haben, selbst wenn er beißt. Nicht einmal von Mensch zu Mensch läßt sich Lepra so einfach injizieren. Kennen Sie den Fall Arning?«

Auf Wunsch des skandinavischen Gelehrten Arning hatte ein zum Tode Verurteilter die Einwilligung gegeben, sich Leprabazillen einimpfen zu lassen, falls er begnadigt werde. Alsbald zeigten sich in der Umgebung der Impfstelle typische Lepraknoten. Ein Kollege Arnings, Dr. Danielsen, hatte sich selbst jahrelang Lepragewebe implantiert, ohne daß sich ein Symptom zeigte. Nun hätte Arnings Experiment das Gegenteil, die künstliche Übertragungsmöglichkeit, bewiesen, – wenn sich nicht nach Publizierung dieses 136 Resultats herausgestellt hätte, daß zwei Geschwister und ein Onkel des Versuchspatienten an Lepra litten.

»Einer meiner Kollegen, heute schon ein alter Herr«, erzählt der Arzt weiter, »erreichte gleichfalls die Begnadigung eines Verbrechers, der sich zu Lepraexperimenten bereit erklärte. Der Mann hatte einen Doppelraubmord verübt, und weder die Tat noch der Täter wären je entdeckt worden, wenn sich die Geliebte des Mörders nicht anderweitig verliebt hätte. Sie zeigte ihn an und sagte bei der Gerichtsverhandlung gegen ihn aus. Mein Kollege nahm monatelang im Zuchthaus Experimente an dem Mann vor. Plötzlich entsprang er, und man hörte erst wieder von ihm, als er seine frühere Geliebte und ihren jetzigen Mann ermordete. Nur um diesen Racheplan auszuführen, hatte er die Lepraversuche der Hinrichtung vorgezogen.

»Toll!«

»Es kommt noch toller. Eines Abends wurde mein Kollege im Flur seines Hauses von dem Entsprungenen angesprochen. Er sei bereit, sein Wort zu halten. Falls ihn der Arzt zu weiteren Experimenten brauche, würde er sich der Behörde stellen.«

Während dir diese Geschichte erzählt wird, kommst du an Gebäuden und Nebengebäuden vorbei, siehst dir die Laboratorien an und die Mikroskopieranstalt und die Pharmazie und die zahnärztliche Abteilung.

In einem Zimmerchen des Pavillons de los Ambulantes liegt ein Mann angekleidet auf dem Bett und liest. Dem eintretenden Arzt winkt er mit einer Handbewegung zu, wie man einen Freund begrüßt. Als aber du hinter dem Doktor hereinkommst, springt der Mann auf, nötigt dich Platz zu nehmen, bietet dir Zigaretten an. Er ist schlank und groß, leicht angegraut, ein gutaussehender Mann, obwohl seine Züge zu einem Löwengesicht in pathologischem Sinn verbreitert sind: plattgequetschte Nase, verdickte Stirnhaut, wulstige Augenbrauen und wulstige Lippen. 137

Die Wände der Kammer sind bis an die Decke hinauf mit Büchern verkleidet, auf den Regalen stehen Kunstgegenstände. Dein Blick schweift die Büchertitel entlang, bleibt an einem haften: »Le Roi Lépreux«. Der Hausherr sagt: »Das Buch hat nichts mit meiner Krankheit zu tun, der Titel ist metaphorisch. Übrigens ist es nur ein Unterhaltungsroman.«

»Ich kenne Pierre Benoit.«

Von da an spricht er französisch. Das Gespräch wendet sich einem holzgemalten Wappenschild zu. Unter dem Emblem ist ein von Philipp III. unterfertigter Adelsbrief in altkastilischer Sprache, der dem Adressaten die Titel eines Marques de San Diego und Duque de Valladolid verleiht.

»Das ist auch kein Kunstwerk, nur ein Erbstück«, entschuldigt er sich.

»Sind Sie ein Herzog von Valladolid?«

»Um Gottes willen, nein. Meine Ahnen haben die Titel schon vor hundertdreißig Jahren abgelegt. Unsere Familientradition ist republikanisch, für die mexikanische Unabhängigkeit. Sehen Sie, hier ist etwas, worauf ich wirklich stolz bin.« Er holt ein verblaßtes Tableau hervor, ein Photo von Benito Juárez, umgeben von Photos seiner Minister. »Dieser da ist mein Großvater, er war Innenminister unter Juárez, kämpfte gegen Maximilian.«

Du fragst ihn über sein Leben. Er wendet sich an den Arzt: »Weiß der Herr, wer ich bin?«

»Ich habe ihm erzählt, daß Sie der berühmteste Schauspieler Lateinamerikas sind, aber Ihren Namen habe ich nicht genannt.«

»Nicht der berühmteste Schauspieler, nur ein ziemlich bekannter, und auch das ist gewesen.« Er sagt das lächelnd, ganz ohne Resignation und fügt deutsch hinzu: »Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze.«

»Nun, vorläufig brauchen Sie keine Kränze der Nachwelt, noch ist die Mitwelt da.« 138

»Wo? Hier etwa? Verehrter Freund, ich bin gestorben und bin's zufrieden, es ist ein ganz angenehmes Totsein hier. Deshalb möchte ich Sie bitten, wenn Sie etwas über Ihren Besuch hier schreiben sollten, nennen Sie mich Rodrigo Rodriguez oder sonstwie. Zwei Tage nach meiner Entlassung von hier können Sie über mich schreiben, was Sie wollen.«

»Warum nicht am ersten Tage nach der Entlassung, Don Rodrigo?«

Er lacht: »Ich möchte auch nicht, daß am Tag nach meinem Tod Besucher zu mir kommen. Ich habe zu Lebzeiten genug Kränze gehabt.«

Auf deinen Wunsch zeigt er dir ein paar seiner Bühnenbilder. Orest, Romeo . . . Auf einem Photo ist er als Adlerritter Cuauhtli, Prinz von Texcoco dargestellt, in indianischer Tracht mit Lanze und Federschmuck.

»Das ist eines von den wenigen guten Dramen aus der mexikanischen Geschichte. ›Der Sonnenpfeil‹ heißt es und ist von Mediz Bolio.«

»Don Rodrigo«, sagst du und schaust auf ein Jugendbildnis des Schauspielers mit dem reinen Gesicht und der schmalen Nase, »darf ich etwas fragen . . .«

»Ich weiß«, unterbricht dich der Schauspieler mit dem unklaren, verunstalteten Gesicht und der plattgedrückten Nase, »ich weiß, was Sie fragen wollen. Aber da ist nichts weiter zu antworten, als daß es von einer Frau war. Das habe ich bei meiner Übersiedlung hierher angegeben, und mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.«

»Wußten Sie, daß sie krank war?«

»Ich liebte sie, das ist alles.«

»Und wußten, daß sie Lepra hatte?«

»Als ich sie zu lieben begann, wußte ich das nicht.«

»Sie haben es also erst später erfahren?«

»Ich hatte um sie geworben und sie hatte mich zurückgewiesen, was einem Schauspieler selten widerfährt, 139 insbesondere einem, dessen Rollenfach jugendliche Liebhaber sind. Einmal kam ich zu ihr und fand sie ganz verstört. Der Arzt hatte bei ihr Lepra konstatiert, in ihrer Familie war diese Krankheit wiederholt vorgekommen. Sie schluchzte, jetzt konnte sie nicht mehr mein sein, selbst wenn sie wollte. Von diesem Tag an lebten wir zusammen. Ich war noch sehr jung damals.«

»Lebt sie noch?«

Er schweigt. Etwas scheint ihn mehr zu bewegen als der Preis, den er für jene Liebe noch heute abzahlt. »Eines Tages ließ mich der Direktor des Theaters rufen und riet mir, mich von meiner Freundin zu trennen, sie schade mir, betrüge mich in schlechter Manier, mache mich zum Gespött der Stadt. Ohne Abschied zu nehmen, fuhr ich nach Buenos Aires, von wo ich seit langem Engagementsangebote hatte. Meine Freundin und ich haben einander nie geschrieben. Als ich zwei Jahre später nach Mexiko zurückkam, erfuhr ich, daß sie gestorben war.«

»Und Sie selbst fühlten sich krank?«

»Nicht im geringsten. Ich dachte längst nicht mehr daran, daß meine Freundin jemals geglaubt hatte, Lepra zu haben. Zehn Jahre lang spielte ich hier in Mexiko. Auf einmal begann ich an Mattigkeit zu leiden, an Empfindungslosigkeit der Muskeln und Gliedmaßen, und bekam Flecken auf der Haut. Der Arzt verschrieb mir eine Diät und empfahl Luftveränderung. Als ich von ihm fortging, überquerte ich den Paseo de la Reforma, und mitten auf der Fahrbahn begegnete ich einem einstigen Mitschüler, der Arzt geworden war. Er blieb so starr stehen, daß er fast überfahren worden wäre. »Du bist krank«, sagte er zu mir. Ich erschrak über den Ton, und er tat nichts, meine Unruhe zu zerstreuen, wollte aber nicht auf meine Frage antworten, was meine Krankheit sei. Er riet mir dringend, nach San Antonio, Texas, zu fahren, dort werde mir Dr. Enrique González die Diagnose genau stellen. 140

Ich hatte am nächsten Abend Vorstellung, aber ich war so erregt, daß ich sofort nach Texas fuhr. Dr. González, wie ich bald erfuhr, der größte Lepraspezialist, sagte mir, als ich bei ihm eintrat, daß ich Lepra habe.

Nach Mexiko zurückgekehrt, kündigte ich mein Engagement, packte meine Lieblingsbücher und ein paar Andenken und zog hier ein. Niemand weiß, wo ich bin, niemand kommt zu mir und ich wünsche auch keine Besuche. Ich fühle mich nicht im mindesten bedauernswert und will auch nicht bedauert sein.«

Obwohl er sagt, daß er keine Besuche wünsche, läßt er dich nicht fortgehen, findet immer wieder ein neues Gesprächsthema. Du hast dich schon wiederholt verabschiedet, wobei er die Hand hinter den Rücken legte, um dich nicht in Versuchung zu bringen, sie zu ergreifen. Endlich stehst du mit ihm auf dem Korridor, und er lädt dich ein, zur Aufführung eines Stücks »La mujer alegría« zu kommen, das er mit den Kranken einstudiert hat. Du fragst nach dem Namen des Autors, er kann sich nicht erinnern, und der Arzt, mit dem er wohl einmal über den spanischen Nobelpreisträger Benevente gesprochen haben mag, bemerkt: »Ist es nicht von Benevente?«

»Um Gottes willen, Doktor! Jacinto Benevente ist doch ein Dichter, der wunderbarste Dramatiker spanischer Sprache, aber ›La mujer alegría‹ ist ein billiges Unterhaltungsstück von irgendwem. Bitte, kommen Sie noch für einen Augenblick in mein Zimmer.«

Drinnen zieht er ein Bühnenstück Beneventes aus dem Regal, »Nicht alle Kinder Evas sind Kinder Adams«, und liest einige Stellen daraus vor.

»Sie müssen mir versprechen, es zu lesen.« Er streckt dir die Hand entgegen, auf daß du ihm deine Zusage bekräftigst.

»O, entschuldigen Sie, daß ich Ihre Hand gedrückt habe. Aber wenn ich von meinem alten Beruf spreche . . .« 141

 


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