George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

35. Kapitel.

»Kennan, o Kennan! Stehen Sie auf! Es ist Tag.« Ein schläfriges Stöhnen und ein noch schlaftrunkeneres »So?« von einem Bündel Pelze auf dem Boden, verrieten gerade kein lebhaftes Interesse seitens der ausgestreckten Gestalt an der gemeldeten Thatsache, während die tiefen, langen Atemzüge, welche auf diese momentane Unterbrechung folgten, bewiesen, daß energischere Maßregeln ergriffen werden müßten, um dieselbe dem Traumlande zu entreißen. »Kennan! Wachen Sie doch auf, das Frühstück ist seit einer halben Stunde bereit.« Das magische Wort Frühstück appellierte an ein noch stärkeres Gefühl als die Schlaftrunkenheit, und indem ich den Kopf aus seiner Pelzhülle hervorzog, öffnete ich widerstrebend die Augen, betrachtete mir die Situation und versuchte mich zu besinnen, wo ich war, und wie ich hierher gekommen. Ein helles, knisterndes Feuer von harzigen Kieferzweigen brannte in der Mitte der Hütte und strahlte in die entferntesten Winkel eine gewaltige Hitze aus, so daß auf den moderigen Holzstämmen der Wände und den rohen Brettern der Decke dicke Wassertropfen standen. Der Rauch stieg langsam durch das viereckige Loch im Dache gegen die weißen Sterne empor, die uns durch die dunkeln, überhängenden Lärchenzweige feierlich entgegenfunkelten. Herr Leet beugte sich über mich mit einem Messer, auf das ein 340 Stück Speck gespießt, in der einen und einem Schüreisen in der andern Hand, welche Amtsabzeichen er wütend hin- und herschwang, um mich zum Aufstehen zu veranlassen. Seine tollen Bewegungen hatten den gewünschten Erfolg. Mit dem unbestimmten Eindruck, daß ich an einer Insel von Menschenfressern gestrandet, und den Schutzgöttern geopfert werden sollte, sprang ich auf und rieb mir die Augen, um Herr meiner Sinne zu werden. Herr Leet war in ausgelassenster Stimmung. Unser Reisegefährte, der »Postillion«, hatte seit mehreren Tagen eine große Neigung bezeigt, Arbeit zu vermeiden und uns das Bahnbrechen überlassen, während er behaglich auf unserer Spur dahinfuhr; dieses Manöver hatte ihm Herrn Leets unversöhnlichen Haß zugezogen. Dieser hatte deshalb den armen Menschen geweckt, als er kaum fünf Stunden geschlafen, und ihm weisgemacht, das Nordlicht sei der erste Tagesschimmer. So war derselbe um Mitternacht aufgebrochen und bahnte den steilen Berg hinauf den Weg durch drei Fuß tiefen weichen Schnee, im Glauben, daß wir vor Sonnenaufgang ihm folgen würden. Um fünf Uhr, als ich mich erhob, konnte man die Stimmen von den Leuten des Postillions noch vernehmen, die auf dem Berge ihre erschöpften Hunde ermutigten. Wir frühstückten alle mit Muße, um ihnen reichlich Zeit zum Brechen der Bahn zu lassen, und fuhren erst nach sechs Uhr ab.

Es war ein herrlich klarer Morgen, als wir den Berg oberhalb unserer Jurte überschritten und durch kahle, offene Thäler zwischen hohen Hügeln in der Richtung der Seeküste dahinfuhren. Die Sonne war über den östlichen Hügelspitzen aufgegangen; der Schnee glitzerte, als sei er mit Tausenden von Diamanten bestreut, während die fernen Gipfel der Wiligaberge, in zartem Purpur gebadet, sich in ihrem Schneegewande so ruhig und majestätisch abhoben, als ob der übele Ruf, den sie genossen, eitel Verleumdung sei. Die Luft war zwar intensiv kalt, aber klar und belebend; die Hunde jagten im Galopp über die harte Straße, und es war eine Freude, so im Schlitten dahinzufliegen.

341 Gegen Mittag kamen wir aus den Bergen an die Küste und holten den Postillion ein, der Halt gemacht hatte, um seinen ermüdeten Hunden Ruhe zu gönnen. Da die unsrigen noch frisch waren, fuhren wir wieder voraus und näherten uns schnell dem Wiligathale.

Ich gratulierte mir gerade im stillen zu dem Glück, heim Passieren dieses gefürchteten Punktes schönes Wetter zu haben, als eine merkwürdige, weiße Wolke, die sich von der Mündung der Wiligaschlucht bis weit über das schwarze, offene Wasser des ochotskischen Meeres erstreckte, meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Was war das? Ich zeigte es unserem Führer und fragte ihn, ob es Nebel sei. Seine Züge drückten Besorgnis aus, als er hinblickte und lakonisch erwiderte: »Wiliga durit« – die Berge machen Spaß. Diese orakelhafte Antwort machte mich nicht klüger, und ich bat um Erklärung. Zu meinem Erstaunen und Schrecken erfuhr ich denn, daß der merkwürdige, weiße Nebel eine dichte Schneewolke sei, die der Sturm, der vermutlich gerade in den oberen Schluchten der Stanowoikette begonnen, aus der Mündung des Thales herausschleudere. Der Führer erklärte, es sei gefährlich, ja geradezu unmöglich, das Thal zu passieren, ehe sich der Orkan gelegt habe. Ich wollte von Gefahr und Unmöglichkeit nichts hören, und da sich jenseits der Schlucht eine Jurte oder Schutzhütte befand, beschloß ich, vorzudringen und wenigstens einen Versuch zu machen. Wo wir uns befanden, war das Wetter schön und windstill; ein Licht hätte im Freien brennen können, ohne zu flackern; ich konnte mir von der furchtbaren Gewalt des Orkans, der eine Meile entfernt den Schnee aus der Mündung der Schlucht und vier Meilen weit ins Meer hinausfegte, keinen Begriff machen. Da unser Führer sah, daß Leet und ich entschlossen waren, in das Thal vorzudringen, zuckte er die Achseln, als wenn er sagen wollte: »Ihr werdet es bald genug bereuen«, und wir fuhren weiter.

Indem wir uns allmählich dem weißen Nebelvorhang näherten, empfanden wir dann und wann scharfe Windstöße und kleine Schneewirbel, die immer häufiger und 342 heftiger wurden, je näher wir der Mündung der Schlucht kamen. Unser Führer warnte uns nochmals vor der Thorheit, uns einem solchen Sturme auszusetzen, aber Leet lachte ihn aus und erklärte in gebrochenem Russisch, er habe in der Sierra Nevada ganz andere Orkane erlebt. In Zeit von fünf Minuten mußte er jedoch zugeben, daß dieser Wiligasturm den Vergleich mit den Stürmen Californiens aushalten könne.

Als wir um das Ende einer schützenden Anhöhe am Rande der Schlucht bogen, tobte uns die Windsbraut mit voller Gewalt entgegen; dichte Wolken von Treibschnee machten uns blind und nahmen uns den Atem; die Sonne und der blaue Himmel verschwanden, und wir waren in Finsternis gehüllt. Die Plötzlichkeit des Wechsels von hellem Sonnenschein und völliger Windstille zu diesem tobenden Orkane war fast übernatürlich; ich fing selbst an, die Ausführbarkeit unseres Vorhabens zu bezweifeln. Unser Führer warf mir einen verzweifelten Blick zu, als ob er mir meinen Eigensinn vorwerfen wollte, und trieb dann mit Zuruf und Schlägen seine mutlosen Hunde an. Die Augenhöhlen der armen Tiere waren ganz mit Schnee erfüllt, und aus vielen quollen Blutstropfen hervor; aber obgleich blind, kämpften sie doch weiter, stießen aber in kurzen Zwischenräumen klägliche Töne aus, die mich mehr erschreckten, als alles Heulen des Sturmes. In einem Augenblicke waren wir auf der Thalsohle, und ehe wir die Geschwindigkeit unserer Fahrzeuge hemmen konnten, befanden wir uns auf der glatten Eisfläche des »Propadschina«, des Flusses der Verlorenen, und rasten abwärts, dem offenen Wasser des ochotskischen Meeres zu, das nur hundert Meter entfernt war. Anfangs scheiterten alle Versuche, unsere Schlitten zurückzuhalten, an der Gewalt des Windes, und ich fing an, zu begreifen, welcher Art die Gefahr war, auf die unser Führer angespielt hatte. Wenn es uns nicht gelang, unsere Schlitten zu hemmen, ehe wir an der Flußmündung ankamen, mußten wir vom Eise in achtzehn bis zwanzig Fuß tiefes Wasser geschleudert werden. Eine derartige Katastrophe hatte dem Fluß seinen 343 unheimlichen Namen verschafft. Leet und der Kosak Paderin, die jeder allein auf einem Schlitten saßen, und die von Anfang an nicht so weit vom Ufer weggetragen worden, gelang es, mit Hilfe ihrer eisenbeschlagenen Stöcke sich ans Land zu schaffen; aber der alte Führer und ich saßen zusammen auf einem Schlitten, und unsere umfangreichen Pelzkleider fingen soviel Wind, daß unsere Oerstels unsern Schlitten nicht zurückhielten und unsere Hunde sich nicht auf ihren Füßen behaupten konnten. Da ich glaubte, der Schlitten würde sicher ins Meer geweht werden, wenn wir uns beide an denselben klammerten, ließ ich schließlich los und suchte mich dadurch zu retten, daß ich mich erst auf das Eis setzte, dann platt auf dasselbe legte; aber alles half nichts, wegen meiner glatten Pelze flog ich auf der verräterischen Fläche sogar noch rascher dahin, als vorher. Meiner Pelzhandschuhe hatte ich mich schon früher entledigt, und als ich über eine unebene Stelle im Eise glitt, gelang es mir, mittelst meiner Fingernägel an den Unebenheiten Halt zu finden und meiner gefährlichen Rutschpartie ein Ende zu machen; aber ich wagte kaum zu atmen, aus Angst loszulassen. Leet, der meine verzweifelte Lage sah, schob mir ein »Oerstel« mit scharfer, eiserner Spitze zu, mit dem ich mich mühsam über das Eis ans Ufer arbeitete, ein wenig oberhalb der offnen Flußmündung, in die meine Handschuhe schon geweht waren. Unser Führer, der mit dem Schlitten noch weiter flußabwärts geglitten war, wurde von Paderin gerettet. Ich hatte genug vom Sturme und wäre gern umgekehrt, aber unser Führer war jetzt eigensinnig, bestand darauf, die Reise fortzusetzen, und wenn wir alle unsere Schlitten im Meere verlören. Er hätte uns vor der Gefahr gewarnt, wir hätten darauf bestanden, dem Sturme zu trotzen, nun sollten wir auch die Folgen tragen.

Da es klar war, daß wir an diesem Punkte den Fluß nicht überschreiten konnten, kämpften wir uns gegen den Sturm auf dem linken Ufer eine halbe Meile flußaufwärts, bis wir an eine Biegung kamen, so daß zwischen uns und dem offenen Wasser ein Stück Land lag. 344 Hier machten wir einen zweiten und zwar erfolgreichen Versuch. Nachdem wir einen niedrigen Bergrücken westlich von dem »Propadschina« überschritten, kamen wir an ein anderes Flüßchen, das als Wiliga bekannt ist, am Fuß der Wiligaberge. Am Ufer desselben zog sich ein schmaler Streifen dichten Waldes hin, und in demselben stand die Jurte, die wir suchten. Unser Führer schien den Weg durch eine Art Instinkt zu finden, denn die Schneewehen ließen uns selbst unsere Leithunde aus den Augen verlieren, und alles, was wir von der Umgebung sehen konnten, war der Boden, auf dem wir standen. Ungefähr eine Stunde vor einbrechender Dunkelheit hielten wir müde und kalt bis ins Mark vor einer kleinen Holzhütte, welche nach unseres Führers Aussage die Wiligajurte war. Die letzten Reisenden, welche dieselbe benutzt, hatten die Kaminöffnung offen gelassen, und die Jurte war fast ganz mit Schnee angefüllt; aber wir reinigten sie so gut es ging, machten in der Mitte derselben ein Feuer an und kauerten trotz des Rauches um dasselbe, um Thee zu trinken. Seit Mittag hatten wir von dem Postillion nichts erblickt und hielten es kaum für möglich, daß er bei der Jurte eintreffen könne; aber gerade als es anfing, dunkel zu werden, hörten wir das Geheul seiner Hunde im Walde, und einige Augenblicke später erschien er. Wir waren nun unser neune; zwei Amerikaner, drei Russen und vier Korjäken – und eine wild aussehende Gesellschaft war es, die in der verräucherten, niedrigen Hütte ums Feuer lagerte, Thee trank und dem Heulen des Windes lauschte. Da nicht Raum für alle zum Schlafen vorhanden, kampierten die Korjäken außerhalb auf dem Schnee und waren vor dem anderen Morgen halb verweht.

Der Sturm dauerte die ganze Nacht fort, und auch bei Tagesanbruch hatte er noch nichts von seiner Gewalt eingebüßt. Wir wußten, daß derselbe möglicherweise vierzehn Tage lang ohne Unterbrechung in der Schlucht wüten konnte, und besaßen nur noch für vier Tage Hundefutter und Vorräte. Etwas mußte geschehen. Über die Wiligaberge, welche die Straße nach Jamsk 345 versperrten, führten drei Pässe, die alle in das Thal einmündeten und bei klarem Wetter leicht aufgefunden und überschritten werden konnten. In einem solchen Sturme aber, wie der, welcher tobte, nützten hundert Pässe nichts, denn die Schneewehen verhüllten alles auf dreißig Fuß Entfernung. – – – – – – – – – – –

Wir kamen ziemlich gut vorwärts, als wir uns plötzlich einem ganz unerwarteten und scheinbar unüberwindlichen Hindernis gegenüber sahen. Die Küste war, so weit wir in westlicher Richtung sehen konnten, vom Rande des Wassers an bis zu einer Höhe von fünfundsiebzig bis hundert Fuß von ungeheuren Schneemassen bedeckt, welche sich im Laufe des Winters allmählich hier angesammelt und nun die ganze Vorderseite des Abgrundes verdeckten und zwischen demselben und dem Meere keinen Durchgang frei ließen. Diese Schneemassen waren durch häufigen Witterungswechsel so hart und schlüpfrig wie Eis geworden, und da sie sich aufwärts zu den Spitzen der Klippen in einem Winkel von 75 bis 80° abdachten, war es unmöglich, Fuß auf denselben zu fassen, ehe man mit einer Axt Stufen gehauen. Auf dieser glatten Schneeböschung, welche unmittelbar aus zwölf bis achtzehn Fuß tiefem Wasser aufstieg, zog sich der einzige Weg nach Jamsk hin. Die Aussicht, dieses Hindernis ohne Unfall zu überwinden, schien sehr gering, denn sobald der Schnee nachgab, mußten wir alle ins Meer stürzen; da wir aber keine andere Wahl hatten, befestigten wir unsere Hunde an Eisstücke, verteilten die Äxte, zogen unsere Pelze aus und fingen an, eine Straße zu hauen.

Den ganzen Tag arbeiteten wir, und gegen sechs Uhr abends hatten wir bis an einen Punkt, eine und eine Viertelmeile westlich von der Wiligamündung, einen tiefen, drei Fuß breiten Graben in den Schnee gehauen. Da trat uns eine Schwierigkeit entgegen, die schlimmer war, als alles, war wir noch erlebt. Die Küste, welche sich bis jetzt in ununterbrochener Linie am Fuß der Klippen hingezogen hatte, verschwand plötzlich, und die Schneemasse, durch die wir eine Straße hergestellt, 346 fand einen jähen Abschluß. Ohne Stütze von unten, war die ganze Böschung ins Meer versunken, und wir standen vor einer fünfunddreißig Fuß breiten Spalte, in deren Tiefe uns offenes Wasser entgegengähnte, aus welchem die schwarze Wand der Küste senkrecht aufstieg. Ohne eine Schiffbrücke war nicht hinüberzukommen. Entmutigt und müde mußten wir die Nacht auf dem Abhange der Böschung verbringen, ohne Aussicht, am folgenden Morgen etwas anderes thun zu können, wie in Eile nach der Wiligaschlucht zurückzukehren und den Gedanken, nach Jamsk zu gelangen, vollständig aufzugeben.

Einen schauerlicheren und gefährlicheren Punkt für ein Lager hätte man kaum in ganz Sibirien finden können, und ich beobachtete mit dem größten Unbehagen das Wetter, als es anfing, dunkel zu werden. Die große Schneeböschung, auf welcher wir standen, erhob sich unmittelbar aus dem Wasser, und wer konnte wissen, ob ihre ganze Grundlage aus mehr als einem schmalen Streifen Eis bestand. Wenn dies der Fall war, so konnte eine Briese aus irgend welcher Richtung, außer von Norden, Wellen aufwerfen, die stark genug waren, um die ganze Böschung zu unterminieren, und uns entweder mit einer Lawine ins Meer stürzen oder uns fünfundsiebzig Fuß über demselben auf der nackten Fläche des Abgrundes wie Entenmuscheln kleben lassen. Beides waren unangenehme Aussichten, und ich beschloß, wenn möglich, einen Ort aufzusuchen, der größere Sicherheit bot. Leet grub sich mit seiner gewohnten Sorglosigkeit ungefähr fünfzig Fuß über dem Wasser ein »Schlafzimmer«, wie er es nannte, in den Schnee und versprach mir eine »gute Nachtruhe«, wenn ich seine Gastfreundschaft annehmen und seine Grube teilen wollte; aber in Anbetracht der Umstände hielt ich es für besser, sein Anerbieten abzuschlagen. Sein »Schlafzimmer«, Bett nebst Bettzeug, alles konnte vor dem Morgen ins Meer versinken, und seine »gute Nachtruhe« in alle Ewigkeit verlängert werden. Indem ich eine kurze Strecke in der Richtung der Wiliga zurückging, entdeckte ich eine Stelle, wo früher ein kleiner Fluß über die Höhe der 347 Klippe herabgefallen und eine steile, enge Rinne in derselben zurückgelassen hatte. In diesem felsigen, unebenen Bette streckten die Eingeborenen und ich uns zur Nachtruhe aus, – unsere Körper in einem Winkel von 45° geneigt, unsere Köpfe natürlich nach oben.

Der Leser versetze sich in Gedanken auf das steil abfallende Dach einer großen Kathedrale, mit einer hundert Fuß hohen, steilen Felswand über seinem Kopfe und achtzehn bis zwanzig Fuß tiefes Wasser zu seinen Füßen, und er wird einen Begriff von unserem Lager in jener denkwürdigen Nacht erhalten.

Beim ersten Dämmerschein waren wir auf den Beinen. Während wir mißmutig unsere Vorbereitungen trafen, an die Wiliga zurückzukehren, kam ein Korjäke, der nochmals an die Spalte gelaufen war, um sich das offene Wasser zu betrachten, eiligst zurück, indem er freudig rief: »Mozhno perryckat! mozhno perryckat!« – Wir können hinüber! Die Flut, welche während der Nacht eingetreten war, hatte die Öffnung mit Eis gefüllt, welches eine kunstlose Brücke bildete. Da wir aber fürchteten, dieselbe könne kein schweres Gewicht tragen, luden wir alle unsere Schlitten ab, trugen Lasten, Schlitten und Hunde nacheinander hinüber, luden auf der anderen Seite wieder auf und setzten die Reise fort. Das Schlimmste war überstanden. Zwar hatten wir noch öfters durch zusammengewehte Schneemassen einen Weg zu bahnen; aber je weiter wir westlich kamen, desto breiter und höher wurde die Küste, wie es die Korjäken vorausgesagt; das Eis verschwand, und abends waren wir unserem Ziele um dreißig Werst näher gerückt. Wir befanden uns zwar noch immer zwischen dem Meere und den Klippen, aber am folgenden Tage änderte sich dies, indem wir durch das Thal des Kananagaflusses fuhren.

Am zwölften Tage unserer Reise waren wir auf einer großen Steppe, »Malcachan« genannt, nur dreißig Meilen von Jamsk; unser Hundefutter und unsere Vorräte waren erschöpft, und wir hofften, die Niederlassung in der Nacht zu erreichen. Mit einbrechender 348 Dunkelheit stellte sich jedoch ein neuer Schneesturm ein, sodaß wir uns verirrten, und da wir fürchteten, über den Rand des Abhanges, welcher die Steppe im Osten begrenzte, ins Meer zu stürzen, waren wir gezwungen, Halt zu machen. Holz war nicht aufzutreiben; aber selbst wenn es uns gelungen wäre, Feuer anzuzünden, so hätten die Schneewolken, welche der Orkan über die Ebene trieb, dasselbe ausgelöscht. Wir breiteten deshalb unser Zelttuch auf den Boden, beschwerten es mit einem Hundeschlitten, den wir umstürzten, und krochen darunter, um vor dem Schnee geschützt zu sein. Die Gesichter nach dem Boden gekehrt, während das Zelttuch uns auf den Rücken schlug, schabten wir unsere Brotsäcke aus, um noch einiger gefrorener Krumen habhaft zu werden, und aßen etwas rohes Fleisch, das Herr Leet noch in einem der Schlitten entdeckt hatte. Nach fünfzehn bis zwanzig Minuten bemerkten wir, daß die Bewegungen des Zelttuches immer kürzer wurden, daß es sich um unsere Körper zu legen schien, und als wir herauszukommen versuchten, fühlten wir, daß wir niedergehalten wurden. Der Schnee war in solchen Massen auf das Zelttuch geweht, daß wir es nicht heben konnten, und nach einigen vergeblichen Versuchen beschlossen wir, uns still zu verhalten. So lange der Schnee uns nicht ganz und gar begrub, waren wir unter dem Zelte besser daran, als anderswo, weil wir wenigstens vor dem Winde beschützt wurden. In Zeit von einer halben Stunde war aber so viel Schnee auf uns geweht, daß wir uns nicht mehr umzudrehen vermochten und jeder Luftzutritt vollständig abgeschnitten war. Jetzt handelte es sich darum, herauszukommen oder zu ersticken. In Erwartung dieser Krisis hielt ich schon seit fünfzehn Minuten mein Taschenmesser bereit, und da das Atmen immer schwieriger wurde, machte ich einen langen Schnitt in das Zelttuch über meinem Kopfe, und wir krochen hinaus. Augenblicklich waren unsere Augen und Nasenlöcher vollständig mit Schnee überzogen, und wir schnappten nach Atem, als ob uns der Schlauch einer Feuerspritze aufs Gesicht gehalten worden wäre. Unsere 349 Köpfe und Arme zogen wir in unsere Pelzröcke und kauerten auf dem Schnee nieder, um den Anbruch des Tages zu erwarten. Herr Leet rief in den Halsausschnitt meines Pelzrockes hinein: »Was würden unsere Mütter sagen, wenn sie uns in dieser Lage sähen?« Ich wollte ihn fragen, ob der Schneesturm den Vergleich mit den Stürmen in seiner viel gerühmten Sierra Nevada aushalten könne, aber ehe ich meinen Kopf frei machen konnte, war er verschwunden, und ich hörte die ganze Nacht nichts mehr von ihm. Länger als zehn Stunden saßen wir auf jener trostlosen, vom Sturm gepeitschten Ebene, ohne Feuer, Nahrung oder Schlaf; Kälte und Hunger wurden immer empfindlicher, und der Tag schien nie anbrechen zu wollen.

Endlich graute der Morgen durch die fliegenden Schneewolken; wir erhoben uns mit steifen Gliedern und versuchten, unsere im Schnee begrabenen Schlitten herauszuschaffen. Ohne die unermüdlichen Anstrengungen des Herrn Leet wären wir nie damit zustande gekommen; denn meine Hände und Arme waren so von Kälte erstarrt, daß ich weder Axt noch Schaufel halten konnte, und unsere erschreckten und mutlosen Begleiter schienen zu allem unfähig. Dank der persönlichen Bemühungen des Herrn Leet wurden die Schlitten frei, und wir fuhren weiter. Dieser Kraftaufwand war der letzte Sieg eines starken Willens über einen erschöpften Körper; eine halbe Stunde später ersuchte er uns, ihn an seinen Schlitten festzubinden. Wir schnallten ihn von Kopf bis zu Fuß mit Riemen aus Seehundshaut fest und bedeckten ihn mit Bärenfellen. Nach einer Stunde kam Paderin, sein Kutscher, mit von Schrecken entstellten Zügen zu mir und sagte, Herr Leet sei tot; er habe ihn geschüttelt und ihn gerufen, aber keine Antwort erhalten. Entsetzt sprang ich von meinem Schlitten, lief zu ihm, rief ihm zu, schüttelte ihn und versuchte, seinen Kopf frei zu machen, den er in seinen Pelzrock hineingezogen hatte. Einen Augenblick später vernahm ich zu meiner großen Erleichterung seine Stimme. Er versicherte, er sei wohl und könne, wenn nötig, bis zur Nacht aushalten; er habe 350 Paderin nicht geantwortet, weil es zu mühsam sei, aber ich brauche mich nicht seinetwegen zu beunruhigen, und dann glaubte ich, noch etwas über Sierra Nevada-Stürme zu hören, was mich überzeugte, daß es noch nicht mit ihm zu Ende gehe. So lange er noch die Stürme Californiens hervorheben konnte, war sicherlich noch Hoffnung für ihn.

Nachmittags kamen wir an den Jama, und nachdem wir über eine Stunde im Walde umhergewandert, zu einer der Abteilungen von Jakutenarbeitern, die unter Lieutenant Arnolds Aufsicht standen. Diese führten uns in ihr einige Meilen von der Niederlassung befindliches Lager, wo wir uns mit etwas Roggenbrot und heißem Thee stärkten, unsere erstarrten Glieder erwärmten und den Schnee teilweise aus unseren Kleidern entfernten. Als ich Herrn Leet entkleidet sah, mußte ich mich wundern, daß er nicht gestorben war. Während er in der Nacht im Sturme auf dem Boden gekauert, war ihm eine große Masse Schnee am Nacken hinuntergeweht, und nachdem derselbe durch die Körperwärme teilweise geschmolzen, längs des Rückgrates wieder zu Eis gefroren; in diesem Zustande war der Ärmste zwanzig Werst weit gefahren. Nur ein starker Wille und die intensivste Lebenskraft hatten ihn die sechs letzten, schlimmen Stunden überdauern lassen. Als wir uns im Lager der Jakuten erwärmt, ausgeruht und getrocknet hatten, setzten wir unsere Reise fort und gelangten gegen Abend, nach einer dreizehntägigen Reise voller Mühsal und Beschwerden, wie sie gar häufig das Los sibirischer Reisenden sind, in die Niederlassung Jamsk. Herr Leet erholte sich so rasch, daß er schon drei Tage später nach Ochotsk abreisen konnte, wo er auf des Majors Wunsch eine Abteilung jakutischer Arbeiter beaufsichtigen sollte. Die letzten Worte, die ich mir von ihm erinnere, waren die, welche er mir in Sturm und Finsternis in jener schauderhaften Nacht auf der Malcachansteppe zurief: »Was würden unsere Mütter sagen, wenn sie uns hier sehen könnten!?« Der arme Bursche wurde später infolge von Aufregungen und Beschwerden, wie ich sie hier geschildert, 351 wahnsinnig, und gerade diese Expedition gab wahrscheinlich den Anstoß zu seiner Geisteszerrüttung.

Er erschoß sich schließlich in einer der einsamen sibirischen Niederlassungen an der Küste des ochotskischen Meeres.

Ich habe diese Reise nach Jamsk so ausführlich geschildert, weil sie die düsterste Seite sibirischen Lebens und Reisens veranschaulicht. Man wird zwar nicht häufig so viele Unannehmlichkeiten und Beschwerden auf einer einzigen Reise zu ertragen haben, aber in einem so wilden und spärlich bevölkerten Lande wie Sibirien sind Winterreisen notwendigerweise immer mit größeren oder geringeren Leiden und Entbehrungen verbunden. 352

 


 << zurück weiter >>