George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

28. Kapitel.

Ich werde den Leser mit dem ersten Teil unserer Reise von Anadyrsk an den stillen Ozean nicht lange aufhalten, da sie nur eine neue und verbesserte Auflage unserer früher in Sibirien gemachten Erfahrungen war. Am Tage fuhren wir auf dem Eise des Flusses oder über unfruchtbare Steppen, des Nachts kampierten wir bei gutem und schlechtem Wetter auf dem Schnee. Das, was diese traurige Eintönigkeit unseres Lebens einigermaßen erträglich machte, war die Hoffnung auf ein frohes Wiedersehen mit unsern verbannten Freunden und das befriedigende Bewußtsein, daß wir in ein Land vordrangen, das noch nie der Fuß eines civilisierten Menschen betreten hatte. Die aus Erlengebüsch bestehende Einfassung des Flußufers wurde täglich niedriger und dürftiger, und je mehr der verbreiterte Fluß sich dem Meere näherte, desto weißer und unfruchtbarer wurden die großen Steppen an seinen Ufern. Schließlich war jegliche Spur von Vegetation verschwunden, und wir traten unsere zehnte Tagereise an einem Flusse an, der eine Meile breit geworden und auf einer trostlosen Ebene, die alles Lebens bar und sich, so weit man sehen konnte, in ununterbrochen weißer Fläche bis an den Horizont erstreckte. Nicht ohne Unbehagen dachte ich an die Möglichkeit, in dieser Einöde von einem andauernden Sturm überrascht zu werden. Wir hatten, 257 soweit es sich annähernd bestimmen ließ, seit Anadyrsk ungefähr zweihundert Werst zurückgelegt, besaßen aber keine Mittel, um festzustellen, ob wir der Seeküste nahe seien. Das Wetter war seit fast einer Woche im allgemeinen klar und nicht sehr kalt gewesen; aber in der Nacht des 1. Februar sank das Thermometer auf -35°, und wir konnten nur gerade soviel grünes Gestrüpp zusammenlesen, um unser Theewasser zu kochen. Wir gruben überall im Schnee nach Holz, fanden aber nichts wie Moos und einige kleine Preiselbeersträucher, die nicht brennen wollten. Von der langen Tagereise und dem erfolglosen Suchen nach Holz ermüdet, kehrten Dodd und ich ins Lager zurück und warfen uns auf unsere Bärenfelle, um Thee zu trinken. Kaum hatte Dodd seine Tasse an die Lippen geführt, als seine Züge einen bestürzten Ausdruck annahmen, als ob sein Thee einen besonderen, außergewöhnlichen Geschmack habe. Ich wollte ihn gerade darüber fragen, als er freudig überrascht ausrief: »Brackwasser! der Thee schmeckt salzig!« Da vielleicht zufällig etwas Salz in den Thee gefallen sein konnte, schickte ich Leute an den Fluß, um ein frisches Stück Eis zu holen, das wir sorgfältig schmelzen ließen. Es war wirklich salzig. Wir waren an dem Punkte angelangt, bis wohin die Flut des stillen Ozeans sich erstreckte, und konnten folglich vom Meere nicht mehr allzu ferne sein. Eine weitere Tagereise mußte uns sicherlich an die Behausung der Amerikaner oder an die Flußmündung bringen. Allem Anscheine nach würden wir kein Holz mehr finden; wir wollten deshalb das klare Wetter so gut wie möglich benutzen, schliefen nur ungefähr sechs Stunden und setzten um Mitternacht bei hellem Mondschein unsere Reise fort.

Am elften Tage nach unserer Abreise von Anadyrsk gegen Ende des langen Zwielichts, das auf einen arktischen Tag folgt, näherte sich unser kleiner Zug von elf Schlitten dem Orte, wo wir nach dem Bericht der Tschutschken unsere verbannten Amerikaner zu finden hofften. Die Nacht war still, klar und außerordentlich kalt; bei Sonnenuntergang zeigte das Thermometer 258 44° unter Null und sank, während der rosige Schimmer im Westen immer schwächer wurde, und die Nacht sich auf die weite Steppe lagerte, auf -50°. Gar manches Mal hatte ich in Sibirien und Kamtschatka die Natur in ihrem Wintergewand und von recht schlimmer Seite kennen gelernt, aber noch nie hatten sich Kälte, Unfruchtbarkeit und Einöde zu einem so traurigen Bilde vereinigt, wie in jener Nacht. So weit das Auge die hereinbrechende Dunkelheit zu durchdringen vermochte, dehnte sich in jeder Richtung die trostlose Steppe wie ein schrankenloses Schneemeer, in dem frühere Stürme wellenartige Erhöhungen aufgetürmt hatten. Kein Baum, kein Busch, kein Zeichen tierischen oder vegetabilischen Lebens, um uns zu beweisen, daß wir uns nicht auf einem erstarrten Ozean befänden. Ringsum Schweigen und Tod. Das Land schien von Gott und den Menschen dem arktischen Geiste überlassen zu sein, dessen flatterndes Banner als Zeichen der Eroberung und Herrschaft im Norden aufzuckte. Gegen acht Uhr ging der Vollmond groß und rot im Osten auf und warf einen düstern Schein auf das unermeßliche Schneegefilde; aber als ob auch er unter dem Banne des arktischen Geistes stände, nahm er beständig die phantastischsten, mannigfaltigsten Formen an. Bald dehnte er sich seitwärts in eine lange Ellipse, bald zog er sich in die Höhe, wie eine riesige rote Urne, verlängerte sich in eine senkrechte Stange mit abgerundeten Enden und wurde schließlich dreieckig. Man kann sich kaum vorstellen, in welchem Grade dieser blutrote, verzerrte Mond das Ungewöhnliche und Schauerliche der Scenerie noch erhöhte. Wir kamen uns vor wie in einer erstarrten, verlassenen Welt, in der alle Naturgesetze und Naturerscheinungen aufgehoben, alles tierische und vegetabilische Leben erloschen, und der selbst die Gnade des Schöpfers entzogen worden. Die furchtbare Kälte, die Einsamkeit, das bedrückende Schweigen, das rote, unheimliche Mondlicht, wie der Schein einer fernen großartigen Feuersbrunst, alles verband sich, um den Geist mit einem Gefühl der Bangigkeit zu erfüllen, das vielleicht noch durch 259 das Bewußtsein verstärkt ward, daß noch kein menschliches Wesen, außer einigen nomadischen Tschutschken, sich im Winter in dieses Gebiet des Eiskönigs gewagt hatte. Niemand sang oder scherzte, wie dies unsere Leute sonst bei nächtlichen Fahrten zu thun pflegten. Wie schwerfällig und unempfindlich sie auch sein mochten, es war etwas in dieser Umgebung, das auch sie fühlten, und das sie schweigsam machte. Stunde auf Stunde schlich langsam dahin bis Mitternacht. Wir hatten den Punkt am Fluß, wo die Amerikaner sein sollten, schon mehr als zwanzig Meilen hinter uns, aber von der unterirdischen Hütte, von dem Ofenrohr war keine Spur entdeckt worden, und die große Steppe lag so weiß, so geisterhaft, so unermeßlich vor uns, wie nur je. Seit vierundzwanzig Stunden, Nacht und Tag waren wir gefahren, ohne Aufenthalt, außer gerade vor Sonnenaufgang, um unsere müden Hunde ausruhen zu lassen, und die strenge Kälte, die Ermüdung, die Sorge, der Mangel warmer Nahrung machten sich bei unsern Leuten fühlbar, obgleich sie ohne Murren alles ertrugen. Zum erstenmal wurde uns klar, auf welch abenteuerliches Wagnis wir uns eingelassen hatten, und wie aussichtslos der Erfolg unseres Unternehmens war. Wie konnten wir hoffen, in der Nacht in dieser endlosen Schneewüste eine kleine vergrabene Hütte zu finden, deren Lage wir nicht einmal auf fünfzig Meilen annähernd bestimmen konnten. Wer wußte, ob diese Amerikaner nicht schon vor zwei Monaten ihre unterirdische Wohnung verlassen und mit Eingeborenen einen geschützteren, behaglicheren Aufenthaltsort gesucht hatten. Unsere letzten Nachrichten über sie waren vom 1. Dezember, und jetzt war es Februar. Sie konnten, um eine Niederlassung aufzusuchen, in der Zeit hundert Meilen südlicher der Küste entlang gezogen oder mit Renntier-Tschutschken weit ins Innere gewandert sein. Es war nicht wahrscheinlich, daß sie in dieser öden, traurigen Region vier Monate, ohne einen Versuch, derselben zu entrinnen, verbracht hatten. Und selbst wenn sie noch in ihrem alten Lager ausharrten, wie sollten wir sie finden? Vielleicht waren wir vor Stunden 260 an ihrer unterirdischen Hütte vorübergekommen, ohne dieselbe zu bemerken, und entfernten uns weiter und weiter von derselben, von Holz und von Obdach. Zu Anadyrsk schien es so leicht, einfach flußabwärts zu reisen, bis wir an ein Haus am Ufer kämen oder ein Ofenrohr aus dem Schnee emporragen sähen; aber nun, zweihundertundfünfzig oder dreihundert Meilen von der Niederlassung entfernt, bei einer Temperatur von 50° unter Null, wenn vielleicht unser Leben davon abhing, diese kleine, begrabene Hütte aufzufinden, drängte sich uns die Überzeugung auf, daß wir voreilig gehandelt, und daß unsere Aussichten auf Erfolg sehr gering waren. Mehr als fünfzig Meilen hinter uns hatten wir das letzte Holz gefunden, und durchgefroren und erschöpft, wie wir waren, durften wir an Kampieren ohne Feuer nicht denken. Vorwärts oder rückwärts mußte unsere Losung sein; es handelte sich darum, entweder innerhalb vier Stunden die Hütte zu entdecken, oder auf ihre Auffindung zu verzichten und so schnell wie möglich an die Stelle zurückzukehren, wo wir uns Holz verschaffen konnten. Unsere Hunde fingen schon an, untrügliche Spuren von Erschöpfung zu zeigen; ihre von der langen Reise geschwollenen Füße waren zwischen den Zehen aufgesprungen und färbten bei jedem Schritt den Schnee mit ihrem Blute rot. Es widerstrebte uns, so lange nur ein Schimmer von Hoffnung blieb, unser Vorhaben aufzugeben, und so eilten wir noch immer ostwärts, dem hohen, kahlen Ufer des Flusses entlang, in großer Entfernung von einander, um unsere spähenden Blicke auf einen möglichst großen Raum ausdehnen zu können. Der volle Mond, der jetzt hoch am Himmel stand, beleuchtete die weite, einsame Ebene auf dem nördlichen Flußufer, taghell, aber ihre Weiße wurde von keinem dunkeln Gegenstande unterbrochen, außer von einigen mit Moos oder Sumpfgras bewachsenen kleinen Erhöhungen, von denen der wütende Sturm den Schnee weggefegt hatte.

Wir litten alle schrecklich von der Kälte, und unsere Pelzmützen und die Brust unserer Pelzröcke waren mit einer weißen Eisdecke, die von unserem Atem 261 herrührte, bedeckt. Ich hatte zwei schwere Kukhlánkas von Renntierfellen angezogen, die ungefähr dreißig Pfund wogen, sie mit einer Schärpe fest um den Leib gebunden, die dicken Kaputzen derselben über meinen Kopf gezogen und mein Gesicht hinter einer Maske von Eichhornfell in Sicherheit gebracht; aber trotz allem konnte ich nur dem Tode durch Erfrieren entgehen, indem ich neben meinem Schlitten herlief. Dodd sprach kein Wort, er war offenbar entmutigt und halb erstarrt, und die Eingeborenen saßen schweigend auf ihren Schlitten, als ob sie nichts mehr erwarteten und auf nichts mehr hofften. Nur Gregorie und ein alter Tschutschke, den wir als Führer mitgenommen, besaßen noch Energie und schienen das Vertrauen in den endlichen Erfolg unserer Expedition nicht verloren zu haben. Sie gingen voraus, gruben überall im Schnee nach Holz, untersuchten sorgfältig die Flußufer und schweiften gelegentlich auf der Schneeebene in nördlicher Richtung ab. Dodd übergab, ohne mir etwas zu sagen, sein »Oerstel« einem Eingeborenen, versteckte Kopf und Arme in seinen Pelzrock und streckte sich, trotz meiner Warnungen und ohne meine Fragen zu beantworten, auf seinem Schlitten zum Schlafe aus. Die todbringende Kälte, welche von den Extremitäten in tückischer Weise immer mehr zum Sitz des Lebens vordrang, hatte ihn offenbar schon der Besinnung beraubt. Wenn es nicht gelang, ihn aufzurütteln, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach die Nacht nicht überleben und konnte schon in zwei Stunden tot sein. Durch unsere scheinbar hoffnungslose Lage verstimmt und von der beständigen Anstrengung, warm zu bleiben, erschöpft, verlor ich schließlich allen Mut und beschloß, weitere Nachforschungen einzustellen und ein Lager zu errichten. Wenn wir blieben, wo wir waren, einen unserer Schlitten als Brennholz opferten, um Thee zu bereiten, konnte Dodd gerettet werden, während es unser aller Leben aufs Spiel setzen hieß, wenn wir ohne Aussicht auf Erfolg oder Brennholz noch weiter in östlicher Richtung vorgingen. Ich hatte gerade den Eingeborenen in meiner nächsten Nähe den Befehl 262 zum Kampieren erteilt, als ich in der Ferne ein schwaches Hallo zu vernehmen wähnte. Alles Blut strömte mir mit einemmal zum Herzen, als ich meine Kaputzen vom Kopfe zog und lauschte. Wieder ertönte durch die lautlose Atmosphäre ein schwacher, langgezogener Ruf aus drei vorausgeeilten Schlitten. Meine Hunde spitzten bei dem überraschenden Klang die Ohren und eilten vorwärts, und einen Augenblick später hatte ich mehrere unserer Führer eingeholt, die am Flußufer um ein halb im Schnee verborgenes, umgestürztes Walfischboot herum standen. Was die Spur im Sande für Robinson Crusoe, das war für uns dieses verwitterte, verlassene Boot, denn es bewies, daß irgendwo in der Nachbarschaft Obdach und Leben zu finden sein müßten. Einer der Leute war einige Augenblicke vorher über einen dunkeln, harten Gegenstand gefahren, den er für Treibholz gehalten, und der sich bei näherer Besichtigung als ein amerikanisches Walfischboot erwies. Wenn wir je Gott aus Herzensgrund Dank gezollt, so war es damals. Ich entfernte mit meinem Fausthandschuh die langen Reiffransen an meinen Augenlidern und spähte umher; aber Gregorie war flinker gewesen als ich; ein Freudenschrei von einem etwas entfernteren Punkte flußabwärts verkündete eine neue Entdeckung. Ich überließ meine Hunde sich selbst, warf mein »Oerstel« von mir und lief, so schnell mich meine Beine tragen konnten, in der Richtung des Schalles. Gregorie und der alte Tschutschke standen vor einem niedrigen Schneehügel und untersuchten einen daraus hervorragenden, schwarzen Gegenstand. Es war das viel besprochene, lang ersehnte Ofenrohr! Die Anadyrabteilung war gefunden!

Die unerwartete Auffindung unserer Landsleute in später Nacht, da wir gerade alle Hoffnung auf Obdach, ja fast auf Verlängerung unseres Lebens aufgegeben, erschien unsern entmutigten Herzen als eine Schickung Gottes; ich wußte in meiner Aufregung kaum, was ich that. Ich erinnere mich, daß ich vor dem Schneehügel auf und ab lief und bei jedem Schritt flüsterte: »Gott sei Dank! Gott sei Dank!« Ich war mir nur des einen 263 bewußt, daß wir wirklich gerettet waren. Dodd, den die große Aufregung über die Entdeckung aus seiner Lethargie aufgerüttelt, machte den Vorschlag, den Eingang des Hauses so schnell wie möglich ausfindig zu machen, denn er sei vor Kälte und Erschöpfung dem Tode nahe. Wir konnten an dem Schneehügel kein Lebenszeichen entdecken; wenn derselbe wirklich Bewohner hatte, mußten sie schlafen. Eine Thür war nicht aufzufinden; ich bestieg den Hügel und schrie, so laut ich vermochte, durch das Ofenrohr: »Hallo! das Haus!« Eine erschreckte Stimme unter meinen Füßen fragte: »Wer ist da?«

»Kommen Sie heraus! Wo ist die Thüre?«

Meine Stimme schien den entsetzten Amerikanern aus dem Ofen zu kommen – ein Phänomen, das ihnen völlig neu war; aber sie zogen den ganz richtigen Schluß, daß einem Ofen, der mitten in der Nacht in gutem Englisch nach der Thür fragen könne, das unzweifelhafte Recht zukomme, Antwort zu erhalten, und sie erwiderten, wenn auch etwas zögernd, die Thür befinde sich auf der südöstlichen Ecke. Nun waren wir gerade so klug wie vorher. Erstens wußten wir gar nicht, wo Südosten war, und zweitens konnte man nicht behaupten, daß der Schneehügel eine Ecke habe. Ich beschrieb also einen Kreis um das Ofenrohr, in der Hoffnung, irgend eine Art von Eingang zu entdecken. – Die Insassen hatten als Thorweg einen tiefen, ungefähr dreißig Fuß langen Gang gegraben und denselben mit Stangen und Renntierfellen bedeckt, um das Einschneien zu vermeiden. Auf dieses schwache Dach trat ich unvorsichtigerweise und fiel durch dasselbe in dem nämlichen Augenblicke, da einer der erschreckten Männer in leichter Bekleidung mit einem Lichte aus dem Zimmer kam, um zu sehen, wer in dem dunkeln Tunnel auftauchen würde. Eine Erscheinung, wie die meinige, durch das Dach herabkommen zu sehen, war gerade nicht geeignet, erregte Nerven zu beruhigen. Mit zwei schweren »Kukhlánkas« bekleidet, hatte meine Gestalt eine gigantische Dimension angenommen; über meinen 264 Kopf waren zwei dicke Kaputzen aus Renntierfellen mit schwarzen, bereiften Fransen aus Bärenfell gezogen; mein Gesicht bedeckte eine Eichhornfellmaske, die mit einer dicken Eisschicht versehen war; nur die durch die wirren bereiften Haarmassen blickenden Augen bewiesen, daß in den Pelzen ein menschliches Wesen steckte. Der Mann taumelte einige Schritte zurück und ließ beinahe sein Licht fallen. Ich kam in so fragwürdiger Gestalt, daß er wohl Zweifel über meine Absichten hegen konnte. Als ich ihn jedoch abermals in englischer Sprache anredete, blieb er stehen; ich riß meine Maske ab und nannte meinen Namen. Die Freude in dem kleinen, unterirdischen Keller läßt sich nicht beschreiben, als ich in den beiden Verbannten meine alten Kameraden und Freunde erkannte, von denen ich mich vor acht Monaten, als die Olga aus dem goldenen Thor von San Franzisco segelte, verabschiedet hatte. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich Harder und Robinson das nächste Mal mitten in der Nacht in einem kleinen, schneebedeckten Keller auf den großen, einsamen Steppen des unteren Anadyr wiedersehen würde. Sobald wir uns unserer schweren Pelze entledigt und ans Feuer gesetzt hatten, empfanden wir die Reaktion, welche nach den letzten vierundzwanzig, in Gefahr, Leiden und Sorgen verbrachten Stunden, nicht ausbleiben konnte. Unsere überreizten Nerven gaben nach, und in Zeit von zehn Minuten war ich außer stande, eine Tasse Kaffee an meine Lippen zu führen. Beschämt über diese weibische Schwäche, suchte ich dieselbe vor den Amerikanern zu verbergen, und ich glaube, sie ahnen heute noch nicht, daß Dodd und ich in den ersten zwanzig Minuten einigemal nahe daran waren, das Bewußtsein zu verlieren infolge des plötzlichen Wechsels von 50° unter auf 70° über Null und der durch Mangel an Schlaf und Sorgen erzeugten nervösen Erschöpfung. Wir hatten ein unwiderstehliches Verlangen nach einem starken Reizmittel, und baten um Branntwein, aber es war nichts Derartiges vorhanden. Diese Schwäche ging jedoch bald vorüber, und wir erzählten uns gegenseitig unsere Erlebnisse und Abenteuer, 265 während unsere Begleiter sich in einer Ecke der Hütte zusammendrängten und an Thee gütlich thaten.

Die Amerikaner, die wir mehr als dreihundert Werst von Anadyrsk so im Schnee vergraben aufgefunden hatten, waren im September von einem der Schiffe der Telegraphengesellschaft ans Land gesetzt worden. Sie hatten beabsichtigt, in einem Walfischboote bis an eine Niederlassung stromaufwärts zu fahren und von da aus Fühlung mit uns zu suchen; aber der Winter war so plötzlich eingetreten, und der Fluß so unerwartet schnell zugefroren, daß der Plan nicht ausgeführt werden konnte. Da sie außer dem Boote über keinerlei Transportmittel verfügten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ein Haus zu bauen und Winterquartiere zu beziehen in der schwachen Hoffnung, Major Abaza würde ihnen vor dem Frühling Entsatzmannschaft schicken. Aus Gebüsch, Treibholz und einigen mitgebrachten Brettern hatten sie eine Art unterirdische Höhle errichtet und darin seit fünf Monaten bei Lampenlicht gehaust, ohne ein civilisiertes menschliches Wesen zu erblicken. Die nomadischen Tschutschken hatten sie entdeckt und ihnen auf Renntierschlitten Besuche abgestattet, sie auch mit frischem Fleisch und Thran versehen, den sie als Lampenöl benutzten. Aber infolge des von mir erwähnten Aberglaubens war es ihnen unmöglich, sich von den Eingeborenen lebendige Renntiere zum Transport zu verschaffen. Die Abteilung hatte ursprünglich aus fünf Männern bestanden – Macrae, Arnold, Robinson, Harder und Smith; ungefähr drei Wochen vor unserer Ankunft waren Macrae und Arnold mit wandernden Tschutschken auf der Suche nach einer russischen Niederlassung fortgezogen. Seitdem hatten sie kein Lebenszeichen von sich gegeben, und Robinson, Harder und Smith waren sich allein überlassen gewesen.

Dies war die Lage, als wir die Gesellschaft entdeckten. Es blieb natürlich nichts anderes übrig, als diese drei Männer samt ihren Vorräten nach Anadyrsk zu verbringen, wo vermutlich Macrae und Arnold schon unserer Ankunft harrten. Die Tschutschken kamen, wie 266 mir bekannt, jeden Winter zu Handelszwecken nach Anadyrsk und würden vermutlich die beiden Amerikaner mitbringen.

Nach drei Tagen, die wir der Ruhe, dem Ausbessern von Schäden und dem Einpacken gewidmet, traten wir die Rückreise an und gelangten am 6. Februar wohlbehalten nach Anadyrsk. 267

 


 << zurück weiter >>