George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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15. Kapitel.

Samstagmorgen in der Frühe machten wir uns nach der Mündung des Thales auf, stellten unser Zelt so, daß wir den Ausfluß des Samanka im Auge hatten, beschwerten dasselbe mit Steinen, damit der Wind es nicht umwehe, und trafen Vorbereitungen, zwei Tage, wie verabredet, auf das Erscheinen des Walfischbootes zu warten. Der Sturm tobte unausgesetzt, und das aufgeregte Meer, das den ganzen Tag ungestüm gegen die schwarzen Felsen unter unserem Zelte schlug, überzeugte mich, daß wir die andere Abteilung vergeblich erwarteten; ich hoffte nur, daß es ihnen gelungen sei, vor Ausbruch des Sturmes irgendwo in Sicherheit zu landen. Wenn ein Windstoß das Boot an dieser düsteren, sich meilenweit hinziehenden Felsenwand packte, mußte es entweder sinken oder an den Klippen zerschmettert werden. Keine Seele konnte entkommen, um von dem Vorfall Kunde zu bringen.

An dem Abend machte mir Wuschin die entmutigende Mitteilung, daß wir unsere letzten Vorräte verzehrten. Fleisch war nicht mehr vorhanden, und von Brot blieb nur noch eine Handvoll verweichter Krumen. In der festen Überzeugung, die er mit allen Kamtschadalen geteilt, daß wir das Boot an der Samankamündung finden würden, hatte er sich nur für drei Tage mit Proviant versehen, und da er gehofft, daß das Boot noch 122 ankommen oder irgend etwas Unvorhergesehenes sich ereignen würde, hatte er mir die Thatsache, die sich nun nicht mehr länger geheim halten ließ, verschwiegen. Wir waren drei Tagereisen von jeglicher Niederlassung entfernt und ohne Nahrung. Wie sollten wir nach Ljesnowsk zurückkehren, da die Berge nach dem starken Schneefall ganz unpassierbar sein mußten, und der Sturm alle etwaige Hoffnung auf das Boot vernichtete. Es blieb eben keine andere Wahl, als unser Heil nochmals und zwar ohne Aufschub in den Bergen zu versuchen, so sehr ich mich auch vor der Expedition fürchtete. Mein Befehl lautete zwar, zwei Tage an der Flußmündung zu warten, aber die Umstände mußten meinen Ungehorsam rechtfertigen, und ich befahl den Kamtschadalen, am andern Morgen früh zum Aufbruch nach Ljesnowsk bereit zu sein. Ich schrieb einige Zeilen an den Major, verwahrte sie in einem Zinngefäß, um sie auf unserem Lagerplatz zurück zu lassen, und kroch in meinen Pelzsack, um durch Schlaf meine Kräfte zum Kampf mit den Bergen zu sammeln.

Der folgende Morgen war kalt und stürmisch; im Thal regnete es noch immer, und in den Bergen fiel Schnee. Bei Tagesanbruch brachen wir das Zelt ab, sattelten unsere Pferde, verteilten so gleichmäßig wie möglich, was wir von Gepäck bei uns führten, und richteten uns auf tiefen Schnee und anstrengendes Klettern ein.

Nach kurzer Rücksprache mit seinen Kameraden kam unser Führer zu mir und machte den Vorschlag, die unausführbare Absicht, über die Berge zurückzukehren, aufzugeben und den schmalen Pfad, welchen die Ebbe am Fuß der Klippen frei ließ, zu benutzen. Er behauptete, der Weg sei weniger gefährlich als der Ritt über die Berge und biete mehr Aussicht auf Erfolg, da es nur wenig Punkte gebe, die bei niedrigem Wasserstand ein Pferd nicht trockenen Fußes passieren könne. Es wären nur dreißig Meilen bis zu einer Schlucht am Südende der Bergkette, wo wir die Küste verlassen und auf unserem alten Pfad in einem Tage zu Pferd 123 nach Ljesnowsk gelangen könnten. Freilich dürfte uns die Flut nicht überraschen, ehe wir die Schlucht erreicht, aber selbst dann bliebe uns die Möglichkeit, uns durch Klettern auf die Felsen zu retten und unsere Pferde ihrem Schicksale zu überlassen. Das wäre nicht schlimmer, als wenn sie in den Bergen vor Kälte und Hunger umkämen. Seines Wortreichtums entkleidet, war der Vorschlag nichts Geringeres als ein dreißig Meilen weites Wettrennen mit der Flut auf einem schmalen Küstenpfad, der sich an steilen, hundert bis zweihundert Fuß hohen Klippen entlang zog. Wenn wir die Schlucht zeitig erreichten, war alles gut, wenn nicht, würde unser Pfad zehn Fuß hoch mit Wasser bedeckt sein, und unsere Pferde und auch wir selbst konnten kaum dem Tode durch Ertrinken entgehen. Der Vorschlag hatte allerdings im Vergleich zu dem beschwerlichen Ritt über die Berge im tiefen Schnee mit gefrorenen Kleidern und hungrigem Magen etwas sehr Verlockendes; es lag mehr Mut und Entschlossenheit darin, als ich einem Kamtschadalen zugetraut hätte. Die Ebbe war gerade eingetreten, und wir mußten noch drei bis vier Stunden warten, bis das Wasser so niedrig war, daß es unseren Pfad bloß legte. Diese Zeit benutzten die Kamtschadalen, um einen der Hunde zu fangen, die uns von Ljesnowsk gefolgt waren; sie töteten ihn kaltblütig mit ihren langen Messern und brachten ihn dem bösen Geiste, zu dessen Bereich diese tückischen Berge gehörten, als Opfer dar. Das arme Tier wurde aufgeschlitzt, seine Eingeweide in die vier Winde zerstreut und sein Körper bei den Hinterbeinen an einem langen, in die Erde gesteckten Pfahl aufgehängt. Der Ingrimm des bösen Geistes schien jedoch unversöhnlich zu sein, denn der Sturm wütete nach dem Sühnopfer noch ärger als vorher, was übrigens den Glauben der Kamtschadalen an die Wirksamkeit desselben durchaus nicht erschütterte. Wenn der Sturm nicht nachließ, war dies die Schuld des ungläubigen Amerikaners mit seiner diabolischen Messingbüchse, Kompaß genannt, der dem Berggeiste und seinen Warnungen zum Trotz darauf bestanden hatte, das 124 Gebirge zu überschreiten. Ein toter Hund war nicht Sühne genug für die frevelhafte Verletzung der so klar ausgesprochenen Wünsche des bösen Geistes! Das Opfer schien indessen die Eingeborenen in Bezug auf ihre eigene Sicherheit zu beruhigen, und wie sehr mich auch der arme gemordete Hund dauerte, so freute ich mich doch über den günstigen Stimmungswechsel, der bei meinen abergläubischen Reisegefährten eingetreten war.

Gegen zehn Uhr, so genau ich die Zeit ohne Uhr bestimmen konnte, untersuchte unser Führer die Küste und mahnte zum Aufbruch; wir brauchten zwischen vier und fünf Stunden, um die Schlucht zu erreichen. Eilig bestiegen wir unsere Pferde und sausten im Galopp die Küste entlang, auf der einen Seite von den ungeheuren, schwarzen Klippen überschattet, auf der andern vom salzigen Schaum der Brandung bespritzt. Massen von Seegras, Muscheln, Treibholz und Seenesseln, die der Sturm ausgeworfen, lagen an der Küste aufgehäuft, aber wir jagten in tollem Ritt über alles hinweg und zogen nur die Zügel an, um uns den Weg durch enorme Felsenmassen zu suchen, die an einigen Stellen sich von den Klippen losgelöst und den Pfad versperrten.

Wir hatten die ersten achtzehn Meilen flott zurückgelegt, als Wuschin, der vorausritt, mit einem so plötzlichen Ruck inne hielt, daß er beinah über den Kopf seines Pferdes geflogen wäre, und den bekannten Ruf »Medwaid!« erschallen ließ. Es schienen in der That Bären zu sein, die in einer Entfernung von einer Viertelmeile die Küste entlang kamen; warum aber die Bären sich in diese verzweifelte Lage brachten, wo sie in Zeit von zwei bis drei Stunden ertrinken mußten, konnten wir nicht ergründen. Es konnte uns auch einerlei sein; aber die Bären waren da, und wir mußten an ihnen vorüber. Sie oder wir konnten uns auf ein gutes Frühstück freuen. An Ausweichen war nicht zu denken, denn die Klippen und das Meer ließen uns nur den schmalen Weg. Ich steckte eine frische Patrone in meine Flinte, und ein Dutzend in meine Tasche; Wuschin lud seine Doppelflinte, und wir krochen im 125 Schutz der Klippen vorwärts, um wenn möglich auf sie zu schießen, ehe sie uns erblickt hätten. Wir waren ihnen fast auf Schußweite nahegekommen, als Wuschin sich plötzlich mit lautem Lachen aufrichtete und rief: »Es sind ja Menschen!« Ich trat aus dem Felsen hervor und mußte es bestätigen. Zwei in Pelz gekleidete Eingeborene näherten sich mit lebhaften Geberden, schrieen laut, wir sollten nicht schießen und hielten etwas Weißes in die Höhe, das wie eine Friedensfahne aussah. An uns herangekommen, überreichte mir einer von ihnen ein schmutziges Papier. Es waren Boten von dem Major. Ich dankte Gott im Herzen, daß die andern in Sicherheit waren, und las in Eile:

»Seeküste 15 Werst von Ljesnowsk 4. Oktober. Der Sturm hat uns an die Küste getrieben. Kommen Sie so schnell wie möglich zurück. S. Abaza.«

Die Boten hatten Ljesnowsk nur einen Tag nach uns verlassen, aber, vom Sturm und schlechten Wetter aufgehalten, erst am vorhergehenden Abend unser zweites Lager aufgefunden. Da der Schnee ihnen das Überschreiten der Berge unmöglich gemacht, hatten sie ihre Pferde im Stich gelassen und versucht, die Samankamündung zu Fuß längs der Küste zu erreichen. Sie hatten nicht darauf gerechnet, während einer Ebbezeit ans Ziel zu kommen, sondern wollten während der Flut auf einem hohen Felsen Zuflucht suchen und bei zurücktretendem Wasser ihre Reise wieder fortsetzen. Es blieb uns keine Zeit zu weiteren Erklärungen. Die Flut war bereits eingetreten, und wir mußten zwölf Meilen in etwas weniger als einer Stunde zurücklegen oder unsere Pferde preisgeben. Wir überließen den ermüdeten Kamtschadalen zwei unserer Tiere und setzten uns wieder in Galopp. Je näher wir der Schlucht kamen, desto aufregender wurde unsere Lage. An jeder Windung stieg das Wasser höher und höher, und an mehreren Stellen berührte der Schaum der Brandung schon den Fuß der Klippen. In weiteren zwanzig Minuten war die Küste unpassierbar. Unsere Pferde bewährten sich glänzend, die Schlucht war nahe, nur noch ein 126 hervorspringender Felsen lag zwischen uns und dem ersehnten Ziele. Wir galoppierten durch fußtiefes Wasser, und in fünf Minuten waren wir in Sicherheit. Es war ein Parforceritt gewesen, aber wir hatten den Sieg davongetragen und befanden uns jetzt an der Südseite des Gebirges, ungefähr sechzig Meilen von Ljesnowsk. Ohne die Kühnheit und den gesunden Menschenverstand unseres Führers wären wir jetzt in der Irre in den Schneebergen herumgelaufen. In der Schlucht mußten wir uns erst mit der Axt einen Weg durch das Kiefern- und Erlendickicht bahnen, was uns nach zweistündiger, harter Arbeit gelang.

Vor Einbruch der Dunkelheit kamen wir an der Stelle vorüber, wo wir am zweiten Tag kampiert, und gegen Mitternacht gelangten wir an die verfallene Jurte, wo wir vor fünf Tagen unser zweites Frühstück eingenommen hatten. Der vierzehnstündige ununterbrochene Ritt bei leerem Magen hatte uns so erschöpft, daß wir nicht mehr weiter konnten. Ich hatte auf die Vorräte der kamtschadalischen Boten aus Ljesnowsk gehofft, aber vergeblich; sie hatten selbst nichts mehr. – Wuschin schabte eine Handvoll Krumen aus unserem leeren Brotsack, röstete sie in ein wenig Thran, den er bei sich führte, um seine Flinte zu schmieren, und bot sie mir an. Aber wie groß auch mein Hunger war, zum Verspeisen dieser dunkeln, fettigen Masse verspürte ich denn doch keine Lust, und er verteilte das Gericht unter die Kamtschadalen.

Die zweite Tagereise zu Pferd ohne Nahrung war für meine Kräfte eine schwere Aufgabe; in meinem Magen machte sich ein nagender, brennender Schmerz bemerkbar. Ich versuchte denselben mit Samen von Kiefernzapfen und Wasser zu stillen; lindernd wirkte dies aber nicht, und gegen Abend wurde mir so schwach, daß ich fast nicht mehr im Sattel sitzen konnte.

Ungefähr zwei Stunden nachdem die Dunkelheit hereingebrochen war, hörten wir das Heulen der Hunde von Ljesnowsk, und zwanzig Minuten später sprengten wir in das Dorf an das kleine Blockhaus des Starosta 127 und überfielen den Major und Dodd, die gerade beim Nachtessen saßen. –

So endete unsere erfolglose Expedition in die Samankaberge, die schlimmste Reise, die ich in Kamtschatka gemacht.

Zwei Tage später erkrankte der Major an rheumatischem Fieber, das er sich beim Kampieren an der Küste während des Sturmes zugezogen hatte; einstweilen mußten alle weiteren Reisepläne aufgegeben werden. Beinah alle Pferde im Dorfe waren untauglich, die Hälfte meiner Leute arbeitsunfähig, und unser Führer litt an Kopfrose, infolge des fünftägigen Sturmes. Unter solchen Umständen war ein weiterer Versuch, vor Winter über die Berge zu gehen, ganz ausgeschlossen. Dodd und der Kosak Meroneff wurden nach Tigiljsk gesandt, um einen Arzt und neue Vorräte herbeizuschaffen, während Wuschin und ich in Ljesnowsk blieben, um den Major zu pflegen. 128

 


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