George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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17. Kapitel.

Am 20. Oktober kam ein russischer Arzt von Tigiljsk und traktierte den Major dergestalt mit Dampf, Aderlaß und Zugpflaster, daß er nur noch ein Schatten seines früheren Selbst war. Das Fieber ließ jedoch unter dieser energischen Behandlung nach, und er wurde allmählich besser. In derselben Woche kehrten auch Dodd und Meroneff mit einem neuen Vorrat von Thee, Zucker, Rum, Tabak und hartem Brot aus Tigiljsk zurück, und wir fingen an, uns in den benachbarten Niederlassungen Kinkil und Polan nach Hunden zu einer Fahrt über die Samankaberge umzusehen. Der Schnee lag überall zwei Fuß tief, das Wetter war klar und kalt, nur die Krankheit des Majors hielt uns noch in Ljesnowsk fest. Am 28. erklärte er sich reisefähig, und wir packten ein. Am 1. November legten wir unsere schweren Pelzkostüme an, in denen wir wie wilde Tiere aussahen, verabschiedeten uns von den gastfreien Bewohnern Ljesnowsks und machten uns mit sechzehn Schlitten, achtzehn Leuten, zweihundert Hunden und Vorräten für vierzig Tage auf den Weg nach dem Gebiet der nomadischen Korjäken. Diesmal waren wir fest entschlossen, Gischiginsk zu erreichen oder zu Grunde zu gehen.

Am 3. November, gerade als das nordische Zwielicht die eigentümliche stahlblaue Färbung der arktischen 139 Nacht annahm, erklommen unsere Hunde langsam den letzten Gipfel des Samankagebirges, und wir blickten von einer Höhe von mehr als zweitausend Fuß auf die traurige Schneefläche, welche sich von dem Fuß der Berge bis zum fernen Horizont erstreckte. Es war das Land der wandernden Korjäken. Ein kalter Seewind fegte über den Berggipfel, pfiff kläglich in den Kiefern und erhöhte noch den unbehaglichen Eindruck der einsamen Winterlandschaft. Das schwache blasse Licht der untergehenden Sonne warf noch seinen Schein auf die höchsten Berggipfel, aber auf den düsteren, mit Lärchen und kriechenden Kiefern bewachsenen Schluchten unter uns lagerten schon die Schatten der Nacht. Am Fuße des Gebirges befand sich das erste Lager der Korjäken. Während unsere Hunde auf dem Gipfel einige Augenblicke verschnauften, suchten wir in der zunehmenden Dunkelheit die schwarzen Zelte zu entdecken; aber nichts unterbrach die Schneedecke der ebenen Steppe wie die dunkeln Kiefergruppen. Das Lager war von den Bergen verdeckt.

Als der Mond aufgegangen und die schroffen Umrisse der Berge zu unserer Rechten scharf hervortreten ließ, trieben wir unsere Hunde von neuem an und lenkten in eine dunkele, enge Schlucht, welche in die Steppe hinabführte. Die täuschenden Schatten der Nacht und die Felsmassen, welche den Engpaß versperrten, machten unsere Thalfahrt äußerst gefährlich; es bedurfte der ganzen Gewandtheit unserer erfahrenen Kutscher, daß wir nicht zu Schaden kamen. Die eisenbeschlagenen Pfähle, mit denen sie vergeblich unsere ungestüme Abwärtsbewegung zu hemmen suchten, wirbelten förmliche Schneewolken auf; das Geschrei und die Warnungsrufe der Vorausfahrenden, vom Echo der Berge vervielfältigt, trieben die Hunde zu noch größerer Eile an; Felsen und Bäume flogen an uns vorüber, und wir selbst schienen von einer Lawine erfaßt in atemloser Schnelligkeit dem Abgrund und sicherem Verderben zuzusausen. Nach und nach wurde jedoch die Geschwindigkeit geringer, und wir gelangten glücklich auf die mondbeschienene, 140 harte Schneefläche der offenen Steppe. Eine halbstündige, rasche Fahrt brachte uns in die vermeintliche Nähe des Korjäkenlagers; aber einstweilen erblickten wir weder Spuren von Renntieren noch Zelte. Aufgekratzter Schnee ist gewöhnlich das Zeichen, daß man sich den Jurten der Korjäken nähert, denn die Renntiere derselben schweifen in einem Umkreise von mehreren Meilen über das Land und wühlen den Schnee auf, um das Moos, das ihnen zur Nahrung dient, zu finden. Da es an derartigen Anzeichen durchaus fehlte, diskutierten wir die Möglichkeit, daß wir falsch berichtet worden, als plötzlich unsere Leithunde ihre scharfen Ohren spitzten, im Winde schnüffelten und mit kurzem, aufgeregtem Gekläff in rasendem Galopp in der Richtung eines niedrigen Hügels davonjagten, der zu unserm bisherigen Kurs einen rechten Winkel bildete. Vergeblich versuchten die Führer, die Eile der Hunde zu mäßigen, ihre wölfischen Instinkte waren geweckt und alle Disciplin vergessen, als sie die Renntierherde witterten. In einem Augenblick waren wir an Ort und Stelle; vor uns im hellen Mondscheine standen die konischen Zelte der Korjäken, von wenigstens viertausend Renntieren umgeben, deren vielgezackte Geweihe wie ein Wald von trocknen Zweigen aussahen. Die Hunde schlugen zu gleicher Zeit an wie eine Meute Fuchshunde angesichts des Wildes, und sausten geräuschvoll den Hügel hinab, trotz der Rufe ihrer Gebieter und der Drohungen von drei oder vier Gestalten, die sich plötzlich aus dem Schnee zwischen ihnen und den erschreckten Renntieren erhoben. Durch allen Tumult hindurch konnte ich Dodds Stimme unterscheiden, der in russischer Sprache auf seine kläffenden Hunde losschimpfte, die ihn ungeachtet der mannhaftesten Anstrengungen in seinem umgeworfenen Schlitten über die Steppe schleiften. Die Renntierherde schwankte einen Augenblick und jagte dann in wilder Flucht davon, von Treibern, Korjäkenwachen und zweihundert Hunden gefolgt.

Da ich keine Lust verspürte, in das Durcheinander verwickelt zu werden, sprang ich von meinem Schlitten und beobachtete die wirre Menge, die mit Geschrei, 141 Hundegebell und lautem Halloh über die Ebene dahinfegte. Das ganze Lager, das in lebloser Ruhe verlassen zu sein schien, wurde plötzlich aufgeschreckt. Dunkele Gestalten eilten aus den Zelten, ergriffen lange Speere, die im Schnee an die Thüre gelehnt standen, und beteiligten sich schreiend an der wilden Jagd, indem sie Schlingen von Walroßhaut nach den Hunden schleuderten, in der Hoffnung, ihrer Verfolgung Einhalt zu thun. Das Geklapper von Tausenden von Geweihen, die in der Verwirrung der Flucht aneinander stießen, das Geräusch zahlloser Hufe auf dem harten Schnee, das tiefe, heisere Gekläff der erschreckten Renntiere, die unverständlichen Rufe der Korjäken, die ihre von panischer Furcht ergriffene Herde zu beruhigen suchten, das war ein greuliches Durcheinander unharmonischer Töne, das in der stillen Frostatmosphäre der Nacht weithin gehört werden mußte. Dies alles glich vielmehr dem nächtlichen Überfall eines feindlichen Lagers als der friedlichen Ankunft einiger amerikanischer Reisenden; ich horchte mit Erstaunen auf den wilden Aufruhr, den wir unabsichtlich verursacht hatten.

Der Tumult verhallte immer mehr in der Ferne, und die von dem unnatürlichen Kraftaufwand, zu welchem die Aufregung sie angereizt, erschöpften Hunde fügten sich der Kontrolle ihrer Lenker und kehrten nach den Zelten zurück. Dodds Hunde, keuchend vor Anstrengung, humpelten mürrisch einher, indem sie sich sehnsüchtig nach der Richtung der Renntiere umwandten, als ob sie die Schwäche bereuten, die sie auf die Jagd hatte verzichten lassen.

»Warum haben Sie sie nicht aufgehalten?« fragte ich Dodd lachend. »Ein Hundelenker von Ihrer Erfahrung sollte sein Gespann besser in der Gewalt haben.«

»Sie aufhalten!« rief er mit gekränkter Miene. »Ich hätte sehen mögen, wie Sie es gemacht hätten, mit einem Lasso um den Hals und einem dicken Korjäken, der am andern Ende zog wie ein Dampfkrahn. Das ist leicht gesagt ›sie aufhalten‹, aber wenn diese Barbaren Sie von Ihrem Schlitten wegziehen wie ein wildes Tier, 142 was würde Ihre erhabene Weisheit da vorschlagen? Ich glaube wahrhaftig, die Schlinge hat Spuren an meinem Halse zurückgelassen,« und er fühlte vorsichtig nach dem Striemen, den der Riemen aus Seehundshaut verursacht.

Sobald die Renntiere wieder zusammengetrieben und der Obhut eines Wächters übergeben worden, versammelten sich die Korjäken neugierig um die fremden Ankömmlinge, die so ohne weiteres in ihr ruhiges Lager eingedrungen waren, und fragten durch unsern Dolmetscher Meroneff, wer wir seien, und was wir wollten. Sie bildeten eine seltsame, malerische Gruppe, wie sie so mit ihren braunen, vom Vollmond beschienenen Gesichtern, den im Mondlichte glänzenden Metallverzierungen an ihrer Gewandung und den blanken Klingen ihrer langen Speere vor uns standen. Ihre hohen Backenknochen, kühnen, lebhaften Augen, ihr schlichtes, kohlschwarzes Haar erinnerte an unsere Indianer; aber weiter ging auch die Ähnlichkeit nicht. Der Ausdruck ihrer Gesichter war der kühner, offener Ehrlichkeit, den man unsern westlichen Eingeborenen nicht nachrühmen kann, und der uns genügende Bürgschaft für ihre Freundlichkeit und Zuverlässigkeit zu bieten schien. Unserer vorgefaßten Ansicht zum Trotz waren sie athletische, gut gebaute Männer, reichlich von der Durchschnittsgröße der Amerikaner. Schwere »Kukhlánkas« oder Jagdhemden von geflecktem Renntierfell, um die Hüften von einem Gürtel zusammengehalten und am unteren Ende mit Fransen aus langen, schwarzen Vielfraßhaaren besetzt, bedeckten ihre Körper vom Hals bis zu den Knieen und waren hie und da mit Reihen kleiner bunter Perlen, Quasten von rotem Leder und glänzenden Metallstückchen verziert. Pelzhosen, hohe Stiefeln aus Seehundsfell, die bis an die Schenkel reichten, Kappen aus Wolfsfell mit den aufrecht stehenden Wolfsohren an jeder Seite des Kopfes vervollständigten das Kostüm, das trotz seiner Bizarrerie sich der fremdartigen Umgebung der Mondscheinscenerie malerisch anpaßte. Dodd und ich überließen es dem Kosaken Meroneff und dem Major, unsere Angelegenheiten und Bedürfnisse zu erörtern und gingen davon, um das Lager 143 einer kritischen Besichtigung zu unterziehen. Es bestand aus vier großen konischen Zelten; über ein Holzgestell aus Pfählen hingen lose Renntierfelle, welche von der Spitze des Kegels bis auf den Boden mit darüberhinlaufenden langen Riemen von Seehunds- oder Walroßhaut befestigt waren. Auf den ersten Blick schienen sie wenig geeignet, den Stürmen, welche im Winter vom nördlichen Eismeere über diese Steppen hinfegen, Widerstand zu leisten; spätere Erfahrung belehrte uns, daß auch der heftigste Orkan sie nicht loszureißen vermag. Auf dem Schnee lagen hier und da niedliche Schlitten von verschiedener Gestalt und Größe, und neben dem geräumigsten Zelte waren zwei- bis dreihundert Packsättel für Renntiere zu einer symmetrischen Mauer aufgestapelt. Von der Gesellschaft von fünfzehn bis zwanzig Korjäken, die sich uns als Aufsicht zugesellt, in unseren Untersuchungen belästigt, kehrten wir an den Punkt zurück, wo die Vertreter der Civilisation und des Barbarentums ihre Unterhandlungen pflogen. Letztere hatten offenbar einen befriedigenden Abschluß gefunden; denn als wir uns der Gruppe näherten, trat ein stattlicher Eingeborner mit geschorenem Kopfe uns aus derselben entgegen, führte uns zum größten Zelte, hob einen Vorhang aus Fellen in die Höhe, hinter dem wir ein dunkeles Loch von zwei und einem halben Fuß Durchmesser erblickten, in das er uns einzutreten einlud.

Wenn es in Wuschins sibirischer Erziehung etwas gab, worauf er besonders stolz war, dann war es seine Gewandtheit, in kleine Löcher zu kriechen. Durch ausdauernde Übung hatte er sich eine Biegsamkeit des Rückens und ein Schlängeln in den Bewegungen angeeignet, die wir bewundern, aber nicht nachahmen konnten, und obgleich die Auszeichnung vielleicht keine beneidenswerte war, er wurde stets ausgewählt, um alle dunkelen Löcher und unterirdischen Eingänge (fälschlich Thüren benannt), die uns in den Weg kamen, zu erforschen. Dies schien einer der eigentümlichsten Eingänge zu sein von den vielen Arten, die wir schon kennen gelernt; aber Wuschin, der dem Grundsatz huldigte, 144 daß kein Teil seines Körpers größer sein könne als das Ganze (Loch nämlich), streckte sich in horizontaler Lage aus, ersuchte Dodd, seinen Füßen einen Schub zu geben und kroch hinein. Einige Sekunden atemlosen Schweigens folgten seinem Verschwinden; ich vermutete nun, daß alles in bester Ordnung, steckte meinen Kopf in das Loch und kroch ihm mühsam nach. Die Dunkelheit war vollständig; aber von Wuschins Atem geleitet machte ich ganz hübsche Fortschritte, als aus der ägyptischen Finsternis plötzlich ein wildes Knurren und ein ängstlicher Schrei ertönten, denen in demselben Augenblick der solideste Körperteil Wuschins folgte, der mit der Gewalt eines Mauerbrechers mir gegen den Kopf stieß, mich mit den lebhaftesten Befürchtungen von Überfall erfüllte und zu schleunigem Rückzug veranlaßte. Wuschin folgte eiligst mit den ungeschickten Rückwärtsbewegungen einer verletzten Krabbe.

»Was in Kuckucks Namen ist denn los?« fragte Dodd, indem er den in die Falten des Pelzvorhangs verwickelten Kopf Wuschins befreite. »Sie hufen ja zurück, als ob Schaitan mit all seinen Teufelchen hinter Ihnen wäre!« »Sie meinen doch nicht,« erwiderte Wuschin mit lebhaften Gesten, »daß ich in dem Loch da bleiben und mich von Korjäkenhunden soll verspeisen lassen? Wenn ich so dumm war, hineinzukriechen, bin ich doch klug genug, zu wissen, wenn's an der Zeit ist, den Rückzug anzutreten. Ich glaube nicht,« fügte er sich rechtfertigend hinzu, »daß das Loch irgendwohin führt und es ist voller Hunde.«

Mit raschem Verständnis für Wuschins Schwierigkeiten und einem belustigten Grinsen begab sich unser Korjäkenführer in das Loch, trieb die Hunde heraus, hob einen innern Vorhang in die Höhe und ließ das rote Licht des Feuers hineinströmen. Nun krochen wir auf Händen und Füßen zwölf bis fünfzehn Fuß weit durch den niedrigen Thorweg und betraten den großen, offenen Kreis des inneren Zeltes. In der Mitte desselben brannte ein helles, knisterndes Feuer von harzigen Kieferzweigen, das einen roten Schein auf das geschwärzte, 145 glatte Holzwerk des Zeltes warf und die braunen, tättowierten Gesichter der am Boden kauernden Frauen phantastisch beleuchtete. Ein großer, kupferner Kessel mit einer Mischung von zweifelhaftem Geruch und Aussehen hing über der Flamme und lieferte einigen hageren Frauen mit entblößten Armen Beschäftigung, die abwechselnd mit demselben Stock in dem Inhalt rührten, das Feuer stocherten und einigen alten, aber neugierigen Hunden auf den Kopf schlugen. Der Rauch, welcher langsam aus dem Feuer aufstieg, hing als blaue, klar abgegrenzte Wolke ungefähr fünf Fuß vom Boden und teilte die Atmosphäre des Zeltes in eine niedrige, verhältnismäßig klare Luftschicht und in eine obere Wolkenregion, wo Rauch, Dünste und schlechte Gerüche um den Vorrang stritten. Diese Beschränkung der reinen Luft auf den untersten Raum machte den Bubenstreich, sich auf den Kopf zu stellen, zu einer sehr wünschenswerten Fertigkeit, und da der stechende Rauch mir Thränen erpreßte, schlug ich Dodd vor, mit dieser umgekehrten Körperhaltung, die eine ganz neue optische Wirkung zur Folge haben werde, eine Probe zu machen. Mit dem verächtlichen Grinsen, das er stets für meine besten Vorschläge hatte, erwiderte er, ich solle es selbst versuchen, warf sich der Länge nach auf den Boden und amüsierte sich, einem Korjäkensäugling Gesichter zu schneiden. Der vielgeschäftige Wuschin wischte sich die Thränen aus den Augen, bereitete unser Abendessen und versetzte gelegentlich den zudringlichen Hunden, die sich in seine Nähe wagten, einen derben Schlag, während der Major jedenfalls seine Zeit am besten anwandte, indem er wegen der ausschließlichen Überlassung eines »Polog« unterhandelte.

Die Temperatur in einem Korjäkenzelt übersteigt im Winter selten 20 oder 25° Fahrenheit, und da ein fortgesetzter Aufenthalt in solcher Kälte mindestens recht unangenehm werden könnte, errichten die Besitzer in der innern Umfangslinie des Zeltes kleine, fast luftdichte Gemächer, »Pologs« genannt, die durch Vorhänge von Tierfellen voneinander getrennt sind und den Vorteil der 146 Absonderung mit dem wünschenswerten Luxus größerer Wärme verbinden. Diese Pologs sind ungefähr vier Fuß hoch und sechs bis acht Fuß lang und breit. Sie werden aus den dichtesten, fest zusammengenähten Pelzen hergestellt und durch brennendes Moos, das in einem hölzernen, mit Seehundsöl gefüllten Gefäße schwimmt, erwärmt und erleuchtet. Das Kompensationsgesetz, das durch die ganze Natur geht, macht sich jedoch auch in den Pologs einer Korjäkenjurte geltend, und die größere Wärme muß durch eingeschlossenere, rauchigere Luft gebüßt werden. Der flackernde Docht der Lampe, der wie ein brennendes Schiffchen auf einem Miniatursee von ranzigem Fett schwimmt, absorbiert alle Lebensluft des Pologs und spendet als Ersatz Kohlensäuregas, Öldunst und übele Gerüche. Allen bekannten Gesetzen der Hygiene zum Trotz scheint jedoch diese verdorbene Atmosphäre gesund zu sein, oder, um den Fall negativ auszudrücken, es liegt kein Beweis für ihre Schädlichkeit vor. Die Korjäkenfrauen, welche fast ihre ganze Zeit in diesen Pologs verbringen, erreichen gewöhnlich ein hohes Alter, und außer einer bemerkenswerten Tendenz zu eckigen Umrissen und Hagerkeit unterscheiden sie sich physisch durch nichts von alten Frauen anderer Länder. Ich fürchtete, den Erstickungstod zu sterben, als ich zum erstenmal in einem Korjäkenzelte schlief; aber meine Besorgnis erwies sich als unbegründet und verlor sich nach und nach.

Um der lästigen wachsamen Neugierde der Korjäken zu entfliehen, die sich um uns herum auf die Erde gekauert hatten, hoben Dodd und ich den Vorhang des Pologs, den des Majors diplomatische Verhandlungen uns gesichert hatte, und krochen hinein, um dort auf das Nachtessen zu warten. Da die wißbegierigen Korjäken in dem engen Polog für ihre Personen keinen Raum hatten, legten sie sich, neun an der Zahl, vor demselben nieder, steckten ihre häßlichen, halbgeschorenen Köpfe unter dem Vorhang durch und setzten ihre schweigsame Überwachung fort. Der Anblick einer Reihe von neun körperlosen Köpfen, deren Augen bei jeder Bewegung, die 147 wir machten, sich gleichzeitig von der einen Seite nach der andern wandten, war so urkomisch, daß wir in ein schallendes Gelächter ausbrachen. Ein verständnisinniges Lächeln erschien augenblicklich auf den neun braunen Gesichtern, deren übereinstimmender Ausdruck einen auf den Gedanken eines neunköpfigen Ungeheuers brachte. Da Dodd den Vorschlag machte, sie einzuräuchern, holte ich meine Pfeife aus der Tasche und schickte mich an, sie mit einem jener eigentümlich knallenden Zündhölzchen anzustecken, die wir zu unsern teuersten Reliquien der Civilisation zählten. Bei der Miniatur-Füsillade, mit welcher das Streichholz sich entzündete, verschwanden plötzlich die neun Köpfe, und wir vernahmen hinter dem Vorhang einen Chor lang gezogener erstaunter Ausrufe, dem ein babylonisches Durcheinander von lebhaften Erörterungen über diese diabolische Methode, Feuer zu erzeugen, folgte. Besorgt, sie möchten einen neuen Beweis für die übernatürliche Macht der weißen Männer verpassen, erschienen die Köpfe bald wieder, und zwar noch um einige verstärkt, welche der Bericht des wunderbaren Ereignisses angezogen hatte. Die Wachsamkeit des Argus mit seinen hundert Augen war nichts im Vergleich zu der Beobachtung, der wir jetzt unterworfen wurden. Jedes sich kräuselnde Dampfwölkchen, das unsern Lippen entstieg, wurde mit Späherblicken so aufmerksam verfolgt, als ob es todbringender Rauch aus der untersten Hölle wäre, der demnächst alles in Flammen setzen müsse. Ein lautes, kräftiges Niesen von Dodd gab das Zeichen zu einem zweiten panischen Rückzug der Köpfe und abermaligem Austausch der verschiedenen Meinungen hinter dem Vorhang. Es war wirklich lächerlich, aber wir waren doch des Anstarrens müde und sehnten uns nach dem Essen; so krochen wir aus dem Polog und suchten zu ergründen, wie weit die Vorbereitungen zur Abendmahlzeit vorgeschritten waren.

Wuschin stellte gerade auf die Holzkiste, die unsere telegraphischen Instrumente enthielt, Kuchen aus hartem Brot, rohen Schinken und dampfenden Thee. Das waren die Luxusartikel der Civilisation; daneben auf dem Boden 148 in einem langen, hölzernen Trog und einer großen Schüssel aus demselben Material befanden sich die entsprechenden Delikatessen des Barbarentums. In Hinsicht auf ihre Bestandteile und Zubereitung konnten wir natürlich nur Vermutungen aufstellen, aber der Appetit wegemüder Reisender ist nicht sehr wählerisch; wir setzten uns mit gekreuzten Beinen wie die Türken auf den Boden zwischen den Trog und die Instrumentenkiste, entschlossen, unsere Würdigung der Korjäkengastfreundschaft dadurch zu beweisen, daß wir von allem aßen, was uns geboten wurde. Der fremdartig aussehende Inhalt der Holzschüssel zog natürlich die Aufmerksamkeit des stets beobachtenden Dodd auf sich; er rührte mit einem langen Löffel darin herum und fragte Wuschin, der als chef de cuisine in alle Geheimnisse eingeweiht sein mußte: »Was haben Sie da?«

»Das,« erwiderte Wuschin ohne Zögern, »das ist Kascha« (Reisauflauf).

»Kascha!« rief Dodd verächtlich; »es sieht eher aus wie das Zeug, aus dem die Kinder Israel Backsteine machten. An Stroh hat es ihnen auch nicht gefehlt,« fügte er hinzu, indem er einige getrocknete Grashalme herausfischte. »Was ist es also?«

»Das,« sagte Wuschin wieder, indem er eine gelehrte Miene aufsetzte, »ist das berühmte ›Jamuk chi a la Pusterelsk‹, das Nationalgericht der Korjäken, nach dem Originalrezept Seiner Excellenz Ullcot Utku Minjegetkin, dem erhabenen Erb-Teion und Vevesoki Prevoskhoditbestro – –«

»Gnade! Halten Sie ein!« rief Dodd mit flehender Miene, »ich werde es essen,« indem er einen halben Löffel voll der dunkelen, klebrigen Masse an seine Lippen führte.

»Nun,« sagten wir voller Erwartung nach einer momentanen Pause, »wie schmeckt es?«

»Wie die Lehmkuchen, die wir als Kinder machten,« erwiderte er. »Ein wenig Salz, Pfeffer und Butter, recht viel Fleisch und Mehl und etwas Gemüse würden dies 149 Gericht bedeutend verbessern, aber es ist wirklich auch so nicht besonders schlecht.«

Auf diese etwas zweideutige Empfehlung hin ließ ich mich auch herbei, es zu versuchen. Außer einem eigentümlich erdigen Geschmack hatte es weder etwas Angenehmes noch etwas Unangenehmes. Seine Eigenschaften waren alle negativer Art, nur der Reichtum an Gras war das Charakteristische, was der Masse Konsistenz gab.

Dieses Gemisch, bei den Korjäken als »Manjalla« bekannt, ersetzt bei allen sibirischen Stämmen das Brot. Es wird, wie man uns sagte, mehr seiner medizinischen Eigenschaften als seines guten Geschmackes wegen geschätzt, und selbst unsere beschränkte Erfahrung ließ keinen Zweifel an dieser Behauptung aufkommen. Es besteht aus geronnenem Blut, Talg und halb verdautem Moos, das aus dem Magen der Renntiere genommen wird, wo eine wesentliche Veränderung mit demselben vorgegangen sein soll, die es zum Genuß geeignet macht. Diese merkwürdigen und heterogenen Bestandteile werden mit einigen Händen voll getrockneten Grases zusammengekocht, um die Masse zu verdicken, die dann in kleine Laibe geformt und dem Gefrieren ausgesetzt wird. Unser Wirt war offenbar vom Wunsche beseelt, uns mit der größten Höflichkeit zu behandeln, und als Zeichen seiner ganz besonderen Hochachtung biß er mehrere gute Bissen von dem Stück Wildbret ab, das er in seiner schmutzigen Hand hielt, nahm sie aus dem Munde und reichte sie mir. Ich dankte verbindlichst für die beabsichtigte Auszeichnung und bezeichnete Dodd als die geeignete Persönlichkeit für solche Aufmerksamkeiten; dieser rächte sich, indem er eine alte Frau ersuchte, mir etwas Talg zu bringen, der, wie er ihr versicherte, zu Hause meine einzige Nahrung sei. Meine energischen Proteste in englischer Sprache wurden natürlich nicht verstanden, und die Frau, welche ganz entzückt war, daß ein Amerikaner ihren Geschmack teilte, beeilte sich, mich mit der Delikatesse zu versorgen. Ich war ein hilfloses Opfer und konnte diese neue Bosheit 150 Dodds nur auf die lange Liste von bösen Streichen setzen, die er mir schon gespielt, und die ich eines Tages wettzumachen hoffte.

Das Abendessen ist bei den Korjäken die Hauptmahlzeit. Um den Kessel voll »Manjalla« oder den Trog voll Renntierfleisches versammeln sich die Männer, welche während des Tages abwesend waren, und diskutieren bei ihrer Mahlzeit die einfachen Ereignisse und Gedanken, die ihr isoliertes Leben bietet und anregt. Wir benutzten die Gelegenheit, um etwas über die Stämme zu erfahren, die noch weiter nördlich wohnen, die Aufnahme, die wir finden, und in welcher Weise wir zu reisen gezwungen sein würden. 151

 


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