George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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27. Kapitel.

Sofort nach unserer Ankunft in Anadyrsk hatten wir nach den Amerikanern, die sich irgendwo in der Nähe der Anadyrmündung aufhalten sollten, Erkundigungen eingezogen, aber nicht mehr erfahren, als wir schon wußten. Wandernde Korjäken hatten die Kunde nach der Niederlassung gebracht, daß im Spätherbst eine kleine Gesellschaft weißer Männer mit einem »Feuerschiff« (Dampfer) an der Küste südlich der Behringsstraße gelandet wären, daß dieselben eine Art Keller gegraben, ihn mit Gebüsch und Brettern bedeckt und als Winterquartier bezogen hätten. Wer sie waren, weshalb sie gekommen, und wie lange sie zu bleiben beabsichtigten, das waren Fragen, welche den ganzen Tschutschkenstamm aufregten, die aber niemand zu beantworten vermochte. Ihre kleine, unterirdische Hütte war den Aussagen der Eingeborenen zufolge ganz vom Schnee begraben, und nichts als eine merkwürdige eiserne Röhre, aus der Rauch und Funken kämen, ließe den Wohnsitz der weißen Männer erkennen. Diese merkwürdige eiserne Röhre, welche die Tschutschken so sehr in Erstaunen setzte, erkannten wir sofort als ein Ofenrohr, und gerade dies war uns ein untrüglicher Beweis für die Wahrheit der Geschichte. Kein sibirischer Eingeborener hätte die Idee von einem Ofenrohr erfinden können, er mußte eins gesehen haben. Daß Amerikaner 250 irgendwo an der Küste des Behringsmeeres lebten, und daß sie wahrscheinlich eine von Oberst Bulkley gelandete Erforschungsabteilung seien, die gemeinsam mit uns arbeiten sollte, war uns jetzt über allen Zweifel erhaben.

Die Verhaltungsmaßregeln, welche der Major mir bei der Abreise von Gischiginsk erteilt, hatten auf ein derartiges Ereignis nicht Bezug genommen, weil wir alle Hoffnung auf Unterstützung von dieser Seite aufgegeben und im Glauben lebten, allein die ganze Aufgabe lösen zu müssen. Der Oberingenieur hatte, als wir von San Franzisco absegelten, fest versprochen, wenn er überhaupt an der Mündung des Anadyr eine Abteilung landen ließe, dies bei guter Jahreszeit geschehen solle, damit sie vermittelst eines Walfischbootes vor Anbruch des Winters sich flußaufwärts in eine Niederlassung begeben könnte. Als wir spät im November zu Gischiginsk mit den Anadyrskern zusammengetroffen waren und von ihnen vernommen hatten, daß niemand von einer solchen Gesellschaft Kunde erhalten, glaubten wir uns deshalb natürlich zu dem Schlusse berechtigt, Oberst Bulkley habe aus irgend einem Grunde auf sein Vorhaben verzichtet. Niemand hätte sich träumen lassen, daß er zu Beginn eines arktischen Winters in der trostlosen Region südlich der Behringsstraße eine Handvoll Leute ohne jegliche Transportmittel, ohne Obdach inmitten wilder, gesetzloser Eingeborener, mehr als zweihundert Meilen von den nächsten civilisierten menschlichen Wesen aussetzen würde. Was sollten die armen Menschen machen? Sie konnten nur in Unthätigkeit daselbst verharren, bis sie Hungers starben, ermordet, oder von einer Expedition, die ihnen aus dem Innern zu Hilfe eilte, weggeholt und gerettet wurden. – Dies war die Lage, als Dodd und ich in Anadyrsk ankamen. Unsern Befehlen zufolge sollten wir den Anadyr bis zu einer andern Jahreszeit unerforscht lassen; aber wir wußten, daß der Major, sobald er im Besitz der in Schestakowa durch unsere Hände gegangenen Briefe, welche ihm die Nachricht von der Landung der Anadyrabteilung brachten, uns den Auftrag erteilen würde, diese aufzusuchen und nach Anadyrsk 251 zu befördern, wo sie von Nutzen sein konnte. Wir beschlossen deshalb, ohne Zögern und auf unsere eigene Verantwortung hin eine Entdeckungsreise nach dem amerikanischen Ofenrohre zu unternehmen.

Unsere Lage war übrigens eine ganz eigentümliche. Wir besaßen nicht einmal Mittel, um herauszufinden, wo wir selbst waren, geschweige denn die Amerikaner mit ihrem Ofenrohre. Wir hatten keine Instrumente, um astronomische Beobachtungen anzustellen, konnten selbst nicht mit nur annähernder Genauigkeit unsern Breite- und Längegrad bestimmen und wußten nicht, waren wir zweihundert oder fünfhundert Meilen vom stillen Ozean entfernt. Nach dem Bericht von Lieutenant Phillippeus, der den Anadyr teilweise erforscht, lagen tausend Werst zwischen der Niederlassung und der Anadyrbucht, während die Berechnung, die wir zu Gischiginsk gemacht, kaum über vierhundert Meilen ergeben hatte. Die wirkliche Entfernung war für uns eine Lebensfrage, denn wir mußten für die ganze Reise Hundefutter mitnehmen, und wenn die Entfernung tausend Werst betrug, würden unsere Hunde aller Wahrscheinlichkeit nach Hungers sterben, ehe wir zurückkommen konnten. Außerdem, wenn wir überhaupt an die Anadyrbucht gelangten, wie konnten wir herausfinden, wo sich die Amerikaner aufhielten? Wenn wir nicht zufällig den Tschutschken begegneten, die sie gesehen, konnten wir vielleicht einen Monat lang auf den trostlosen Ebenen umherwandern, ohne das Ofenrohr, das einzige äußere Zeichen ihrer unterirdischen Wohnung, zu entdecken.

Als wir den Bewohnern von Anadyrsk unsere Absicht, an die Küste des stillen Ozeans zu reisen, mitteilten, und einige aufforderten, sich uns als Freiwillige anzuschließen, stießen wir auf den größten Widerstand. Die Eingeborenen erklärten einstimmig, eine derartige Reise sei unmöglich, sie sei noch nie ausgeführt worden; der untere Anadyr werde von schrecklichen Stürmen heimgesucht; Holz wäre dort gar nicht vorhanden, die Kälte übersteige alle Begriffe, wir würden alle Hungers sterben, zu Tode frieren oder unsere Hunde verlieren. 252 Als abschreckendes Beispiel führten sie Lieutenant Phillippeus an, der in derselben Region im Jahre 1860 mit genauer Not dem Hungertode entkommen, und dabei sei er noch im Frühling gereist, während wir uns mitten im Winter aufmachen wollten, wenn die Kälte am stärksten und die Stürme am schlimmsten wären. Ein derartiges Abenteuer müsse ein böses Ende nehmen. Unser Kosak Gregorie, ein wackerer und zuverlässiger alter Mann war im Jahre 1860 Lieutenant Philippeus' Führer und tschutschkischer Dolmetscher gewesen und im Winter ungefähr hundertundfünfzig Meilen flußabwärts gekommen, er mußte etwas von der Sache verstehen. Wir entließen also die Eingeborenen und besprachen uns mit ihm. Er versicherte, soweit er flußabwärts gekommen, gäbe es kriechende Kiefer genug, um uns mit Brennholz zu versorgen; das Land sei nicht schlimmer, als das schon von uns bereiste zwischen Gischiginsk und Anadyrsk; er sei bereit, die Reise zu unternehmen und uns mit seinem Hundegespann überall hin zu folgen. Der Geistliche, der im Sommer schon flußabwärts gefahren war, hielt ebenfalls die Reise für ausführbar und versicherte, er würde selbst gehen, wenn es andern zum Besten gereichen könne. Kraft dieser Ermutigung teilten wir den Eingeborenen unsern endgiltigen Entschluß mit, zeigten ihnen den Brief des russischen Gouverneurs zu Gischiginsk, welcher uns ermächtigte, Leute und Schlitten zu jeglichem Dienst zu requirieren, und drohten, bei fernerem Weigern ihren Ungehorsam durch einen besonderen Boten in Gischiginsk melden zu lassen. Diese Drohung und das Beispiel unseres Kosaken Gregorie, der vom ochotskischen bis zum nördlichen Eismeere als erprobter Führer bekannt war, hatten die gewünschte Wirkung. Elf Männer willigten ein, uns zu begleiten, und wir fingen sogleich an, Hundefutter und Vorräte für eine baldige Abreise einzukaufen. In Hinsicht auf den Aufenthaltsort der Amerikaner besaßen wir noch die unbestimmteste Auskunft und beschlossen, die Rückkehr eines Kosaken, Namens Kozhewin, der sich zu wandernden Tschutschken begeben hatte, zu erwarten. Der 253 Geistliche versicherte, er werde gewiß die neuesten und zuverlässigsten Nachrichten mitbringen, denn die wandernden Eingeborenen im ganzen Lande wüßten um die Ankunft der geheimnisvollen weißen Männer und würden Kozhewin den Aufenthaltsort derselben annähernd bestimmen. Mittlerweile vervollständigten wir unsere Pelzausstattung, verfertigten Masken aus Eichhornfellen, die bei großer Kälte das Gesicht schützen sollten, und ließen von allen Frauen im Dorfe ein großes Pelzzelt anfertigen.

Samstag den 20. Januar kehrte Kozhewin von seinem Besuche bei den Tschutschken nördlich von Anadyrsk zurück und brachte, wie wir erwartet hatten, neuere und ausführlichere Berichte über die bewußten verbannten Amerikaner mit. Nach der besten tschutschkischen Auskunft waren es ihrer fünf, welche sich in der Nähe des Anadyr, ungefähr eine Tagereise von seiner Mündung, aufhielten. Sie lebten, wie wir schon früher gehört, in einer kleinen unterirdischen, aus Gebüsch und Brettern errichteten Hütte, die ganz vom Schnee bedeckt war. Man erzählte, sie hätten große Vorräte und viele Fäßchen voll Wodka; wir vermuteten, daß dieselben gesalzenes Fleisch enthielten. Ihre Art, Feuer zu machen, indem sie »schwarze Steine in einem eisernen Kasten verbrannten«, während der Rauch durch eine gebogene eiserne Röhre herauskomme, welche der Wind herumdrehe, schien den Eingeborenen besonders bemerkenswert. Sie sollten auch, wie Kozhewin berichtete, einen ungeheuer großen, zahmen, schwarzen Bären besitzen, dem sie erlaubten, in der Nähe des Hauses frei herumzulaufen, und der die Tschutschken in energischer Weise verjage. Als ich das hörte, konnte ich ein frohlockendes Hurra! nicht unterdrücken. Die Amerikaner waren niemand anderes als unsere alten Kameraden aus San Franzisco, und der zahme, schwarze Bär war Robinsons Neufundländer! Hundertmal hatte ich denselben in Amerika gestreichelt und besaß sogar seine Photographie. Es war der Hund der Expedition. Nun konnte kein Zweifel mehr herrschen, die im Schnee auf der großen Steppe südlich der Behringsstraße vergrabenen Amerikaner 254 waren – die Anadyrabteilung der Erforschungsgesellschaft unter dem Befehl von Lieutenant Macrae. Unsere Herzen schlugen fast hörbar vor Aufregung, wenn wir an die Überraschung dachten, die es unsern alten Freunden und Kameraden bereiten mußte, wenn wir in der trostlosen, gottverlassenen Gegend, fast zweitausend Meilen von dem Punkt, an dem sie uns wähnten, so plötzlich vor sie hinträten! Ein derartiges Wiedersehen bot zehnfache Entschädigung für alle ausgestandenen Mühsale und Beschwerden.

Alles war nun zum Aufbruch bereit. Unsere Schlitten waren fünf Fuß hoch mit Vorräten und Hundefutter für dreißig Tage beladen; unser Pelzzelt war fertig und eingepackt, um bei sehr großer Kälte zur Verwendung zu kommen; Säcke, Gamaschen, Masken, dicke Schlafröcke, Schneeschaufeln, Äxte, Flinten und lange sibirische Schneeschuhe waren auf die verschiedenen Schlitten verteilt, und alles, was Gregorie, Dodd oder ich ersinnen konnten, um den Erfolg der Expedition zu sichern, war geschehen.

Montagmorgen, den 22. Januar, versammelte sich die ganze Gesellschaft vor dem Hause des Geistlichen. Um Transportmittel zu sparen und das Schicksal unserer Leute, wie es auch ausfallen möge, zu teilen, verzichteten Dodd und ich auf unsere Pavoskas und lenkten unsere eigenen beladenen Schlitten. Die Eingeborenen sollten nicht sagen können, daß wir sie zur Expedition gezwungen und uns dann der Arbeit und den Beschwerden entzogen hätten. Die ganze Bevölkerung des Dorfes, Männer, Frauen und Kinder kamen herbei, um unserer Abreise beizuwohnen, und die Straße vor dem Hause des Geistlichen war versperrt von einer Menge dunkeler Männer in gefleckten Pelzröcken, roten Schärpen und Fuchsfellkappen, ängstlich aussehender Frauen, die hin- und herliefen und sich von ihren Männern oder Brüdern verabschiedeten, von elf langen, schmalen Schlitten, die mit getrocknetem Fisch hoch bepackt und mit gelbem Bockleder bedeckt, das mit Riemen von Seehundsfell befestigt war, und endlich von hundertfünfundzwanzig 255 zottigen Wolfshunden, die mit ihrem wilden, ungeduldigen Geheul jeden andern Laut übertönten.

Unsere Leute gingen in das Haus des Geistlichen, bekreuzten sich und beteten vor dem Bilde des Erlösers, wie sie stets zu thun pflegen, ehe sie eine lange Reise antreten. Dodd und ich verabschiedeten uns von dem gütigen Priester und empfingen das herzliche »s' bokhem« (geht mit Gott), welches das russische Lebewohl ist; dann sprangen wir auf unsere Schlitten, gaben unsere wilden Hunde frei und flogen in einer Schneewolke, die wie Diamantstaub im roten Sonnenschein glänzte, zum Dorfe hinaus.

Jenseits der zwei- oder dreihundert Meilen weiten Schneewüste, die vor uns lag, erblickten wir im Geiste, aus weißer Schneebank emporragend, ein Ofenrohr – »den heiligen Gral«, nach dem wir als arktische irrende Ritter auf der Suche waren. 256

 


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