George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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25. Kapitel.

Das Dorf Penschinsk besteht aus einer kleinen Anzahl von Blockhäusern, platten Jurten und vierbeinigen Bologans am nördlichen Ufer des Penschina, halbwegs zwischen dem ochotskischen Meere und Anadyrsk. Es wird meist von »mestcháns« oder freien russischen Bauern bewohnt; aber unter der spärlichen Bevölkerung befinden sich auch einige der Urbewohner Sibiriens, »Tschuansen«, welche im achtzehnten Jahrhundert von den russischen Kosaken unterworfen wurden, die Sprache ihrer Besieger angenommen haben und durch Fischfang und Pelzhandel sich ihren kärglichen Unterhalt verdienen. Die Stadt wird im Norden durch eine hundert Fuß hohe, steile Anhöhe geschützt, welche, wie alle Hügel in der Nachbarschaft russischer Niederlassungen, auf ihrem Gipfel ein eigentümliches, dreiarmiges, griechisches Kreuz trägt. Der Fluß der Niederlassung gegenüber ist ungefähr hundert Meter breit, und seine Ufer sind mit Birken, Lärchen, Pappeln, Weiden und Espen dicht bewachsen. Wegen warmer Quellen in seinem Bett friert das Wasser an diesem Punkte nie fest zu, und bei einer Temperatur von 40° unter Null steigen dichte Dampfwolken aus demselben empor, welche das Dorf so vollständig dem Auge verbergen, wie ein Londoner Nebel.

Wir verbrachten drei Tage in Penschinsk, um Erkundigungen über die Umgebung einzuziehen und 228 Auftrag wegen Zurichtung von Telegraphenstangen zu erteilen. Die Leute waren freundlich, gutmütig, gastfrei und bereit, alles, was in ihrer Macht stand, zur Förderung unserer Pläne zu thun; aber sie hatten natürlich nie etwas von einem Telegraphen gehört und konnten sich gar nicht vorstellen, was wir mit den Pfählen machen wollten, die sie zuschneiden sollten. Einige behaupteten, wir beabsichtigten, von Gischiginsk nach Anadyrsk eine hölzerne Straße zu bauen, damit man im Sommer hin- und herreisen könne; andere bestritten mit einem gewissen Schein von Wahrscheinlichkeit, daß zwei Männer, selbst wenn sie Amerikaner wären, imstande seien, eine sechshundert Werst lange hölzerne Straße zu errichten, und sagten, wir wollten ein großes Haus bauen. Nach dem Zwecke dieses ungeheuren Gebäudes befragt, gerieten jedoch die Verteidiger der Haustheorie in Verlegenheit und konnten nur die physische Unmöglichkeit einer Straße geltend machen, und es ihren Gegnern überlassen, für das Haus etwas anderes in Vorschlag zu bringen. Es gelang uns jedoch, sechzehn starke Männer gegen eine mäßige Entschädigung mit der Beschaffung von Telegraphenstangen zu beauftragen; wir gaben ihnen das Maß, einundzwanzig Fuß lang bei fünf Zoll Durchmesser an der Spitze – empfahlen ihnen, so viele wie möglich zu schneiden und sie am Ufer des Flusses aufzustapeln.

Ich will hier gleich erwähnen, daß ich bei meiner Rückkehr von Anadyrsk im März die Stangen besichtigte und deren fünfhundert vorfand. Zu meinem Erstaunen war kaum eine darunter, die an der Spitze weniger als zwölf Zoll Durchmesser hatte, und die meisten derselben waren so schwer und plump, daß zwölf Männer sie kaum fortbewegen konnten. Ich sagte den Eingeborenen, daß sie nicht zu gebrauchen seien, und fragte, warum sie meine Anweisung nicht befolgt. Sie erwiderten, sie hätten geglaubt, ich wollte auf der Spitze dieser Pfähle eine Art Straße errichten, und Stangen von nur fünf Zoll Durchmesser seien dazu doch nicht stark genug. Die Pfähle liegen noch dort im arktischen Schnee begraben, und 229 ich bezweifle nicht, daß in vielen, vielen Jahren, wenn Macaulays Neuseeländer von den Ruinen der Paulskirche eine Skizze entworfen und sich nach Sibirien begeben haben wird, um seine Erziehung zu vollenden, seine eingeborenen Diener ihm die Mär berichten werden, wie zwei verrückte Amerikaner einst eine erhöhte Eisenbahn zwischen dem ochotskischen Meere und der Behringsstraße errichten wollten. Ich hoffe, der Neuseeländer wird dann ein Buch schreiben und durch dasselbe den zwei verrückten Amerikanern die Unsterblichkeit verleihen, welche ihre Arbeiten verdient, aber die erhöhte Eisenbahn ihnen nicht verschafft hat.

Am 31. Dezember reisten wir von Penschinsk nach Anadyrsk ab. Nachdem wir wie gewöhnlich den ganzen Tag über eine öde Steppe gefahren waren, kampierten wir die Nacht in einer schrecklichen Temperatur von 53° unter Null am Fuße eines isolierten, schneebedeckten Berges, Namens Nalgim. Es war Sylvester, und als ich in meinen dicksten Pelzen am Feuer saß, von Kopf bis zu Fuß mit Reif bedeckt, gedachte ich an den Wechsel, den ein einziges Jahr in meiner Umgebung hervorgebracht. Den Sylvesterabend von 1864 hatte ich in Centralamerika verlebt, und ritt damals auf einem Maultiere vom Nicaraguasee zur Küste des stillen Ozeans durch einen herrlichen tropischen Wald. Am Sylvesterabend 1865 kauerte ich auf einer großen Schneeebene unweit des nördlichen Polarkreises und bemühte mich, bei einer Temperatur von 53° unter Null meine Suppe zu essen, ehe sie an den Teller fror. Ein größerer Kontrast ließ sich wohl kaum erdenken.

Unser Lager in der Nähe des Nalgim war sehr reich an kriechender Kiefer, und wir schichteten ein Feuer auf, das eine zehn Fuß hohe Flammensäule emporlodern ließ; auf die Atmosphäre schien es jedoch wenig Einfluß zu haben. Unsere Augenlider froren zusammen, während wir Thee tranken; unsere heiß aus dem Kessel geschöpfte Suppe fror in den Teller, ehe wir sie essen konnten, und die Vorderseite unserer Pelzröcke war mit Reif bedeckt, obgleich wir nur einige Fuß von dem 230 großen lodernden Lagerfeuer entfernt saßen. An zinnernen Tellern, Messern und Löffeln verbrannte man sich bei Berührung die bloße Hand, gerade als ob sie glühend wären, und Wasser, das nur vierzehn Zoll vom Feuer auf ein kleines Brett gegossen wurde, verwandelte sich in weniger als zwei Minuten in festes Eis. Von den warmen Körpern unserer Hunde stiegen große Dampfwolken auf, und selbst die bloße, ganz trockne Hand dünstete sichtbar aus, wenn man sie der Luft aussetzte. Noch nie hatten wir eine so niedrige Temperatur gehabt, aber wir litten trotzdem wenig, außer an kalten Füßen, und Dodd erklärte, mit einem guten Feuer und reichlicher, fetter Nahrung fürchte er sich nicht vor noch fünfzehn Grad mehr Kälte.

Die schlimmsten Leiden in Sibirien verursacht der Wind. Zwanzig Grad unter Null mit einer frischen Brise sind nahezu unerträglich, und ein heftiger Wind bei -40° würde für jedes lebende Wesen, das ihm ausgesetzt wäre, todbringend sein. Intensive Kälte an und für sich ist nicht lebensgefährlich. Nach einem reichlichen Mahle aus getrocknetem Fisch und Talg kann man in einem sibirischen Kostüm in einem dicken Pelzsacke bei einer Temperatur von -70° die Nacht ohne ernstliche Gefahr im Freien verbringen; wer aber, vom langen Reisen ermüdet, sich mit feuchten Kleidern und ohne genügende Nahrung niederlegt, kann bei einer Temperatur von 0 Grad den Tod davontragen. Die wichtigsten Vorschriften für einen Reisenden in diesen nördlichen Gegenden lauten: »Iß viel, und zwar recht fette Gerichte; hüte dich vor Überanstrengung und Nachtreisen, und erhitze dich nie durch körperliche Bewegung, um vorübergehende Wärme zu erzeugen.« – Ich habe in einer Gegend ohne Holz und bei gefährlicher Temperatur nomadische Tschutschken den ganzen Tag mit schmerzenden Füßen reisen sehen; sie hüteten sich wohl, ihre Kräfte durch Laufen zu erschöpfen, um ihre Füße zu erwärmen. Nur wenn sie in äußerster Gefahr waren zu erfrieren, machten sie sich körperliche Bewegung. Die natürliche Folge war, daß sie am Abend noch so 231 frisch waren, wie sie am Morgen gewesen, und wenn sie kein Holz fanden, oder genötigt waren, vierundzwanzig Stunden unausgesetzt unterwegs zu sein, so versagten ihre Kräfte nie. Ein unerfahrener Reisender würde unter gleichen Umständen am Tage all seine Kraft erschöpft haben, um warm zu bleiben, und des Nachts wäre infolge der übermäßigen Anstrengung und seiner durch Schwitzen feuchten Kleidung der Tod durch Erfrieren sein unvermeidliches Los gewesen.

Zwei Stunden lang nach dem Nachtessen saßen Dodd und ich am Feuer und machten allerlei Experimente, um die Wirkung intensiver Kälte kennen zu lernen. Gegen acht Uhr umwölkte sich plötzlich der Himmel, und in weniger als einer Stunde war das Thermometer um fast dreißig Grad gestiegen. Wir wünschten uns gegenseitig Glück zu diesem Witterungswechsel, krochen in unsere Pelzsäcke und versuchten, die lange arktische Nacht zu verschlafen.

Unser Leben in den nächsten Tagen verfloß in derselben Monotonie, mit der wir schon so vertraut geworden. Fahren, im Freien lagern, essen, schlafen, immer dasselbe Einerlei. Die Gegend war im allgemeinen öde, trostlos, uninteressant; das Wetter kalt genug, um sich unbehaglich zu fühlen, und nicht kalt genug, um den Aufenthalt im Freien gefährlich oder aufregend zu machen, Die Tage dauerten zwei bis drei Stunden, die Nächte nahmen kein Ende. Wenn wir bei Sonnenuntergang früh am Nachmittag das Lager bezogen, hatten wir eine zwanzigstündige Dunkelheit vor uns, während der wir uns in irgend einer Weise belustigen oder schlafen mußten. Zwanzig Stunden Schlaf sind wohl für jeden, der nicht ein Rip van Winkle, eine etwas starke Dosis, und so verbrachten wir gewöhnlich, wenigstens die Hälfte der Zeit, auf unseren Bärenfellen am Lagerfeuer und plauderten. Seit Petropawlowsk war Plaudern unsere Hauptunterhaltung gewesen; anfänglich, die ersten hundert Nächte, hatte es uns nicht an Unterhaltungsstoff gefehlt, aber nach und nach wiederholten wir uns; unsere geistigen Hilfsquellen gingen auf die Neige. Wir 232 konnten uns auf keinen Gegenstand mehr besinnen, der nicht schon besprochen, kritisiert und nach allen Seiten beleuchtet worden war. Nicht nur unsere eigene Lebensgeschichte hatten wir uns gegenseitig bis in alle Einzelheiten erzählt, sondern auch die unserer Vorfahren, soweit wir etwas davon wußten. Alle bekannten Probleme, Liebe, Krieg, Wissenschaft, Politik und Religion, einschließlich vieler, von denen wir absolut nichts verstanden, waren gründlich diskutiert worden, und endlich waren wir bei Gesprächsstoffen angekommen, wie die Größe des Heeres, mit welchem Xerxes in Griechenland eingefallen, und die Ausdehnung der Sintflut. Da keine Möglichkeit vorhanden war, diese wichtigen Fragen zu allgemeiner Zufriedenheit zu beantworten, hatte sich die Debatte über zwanzig oder dreißig aufeinander folgende Nächte erstreckt und war schließlich vertagt worden. Xerxes und die Sintflut blieben durch schweigende Übereinkunft als letztes Auskunftsmittel für stürmische Nächte in Korjäkenjurten einstweilen als offene Fragen unberührt. Als wir einst die Nacht auf einer großen Steppe nördlich von Schestakowa zubrachten, kam mir der glückliche Gedanke, daß ich die langen Abende benützen könne, um unserm Gefolge von Eingeborenen Vorträge über die Wunder der modernen Wissenschaft zu halten. Mir war es Zeitvertreib, und sie konnten dadurch belehrt werden – ich hoffte es wenigstens – und brachte meinen Plan sofort zur Ausführung. Zuerst wandte ich mich der Astronomie zu. Da wir im Freien kampierten, mit dem gestirnten Himmel als einziges Dach, war mir zur Erläuterung meines Gegenstandes die beste Gelegenheit geboten. Wie John Phoenix war ich gezwungen, mein eigenes Planetarium anzufertigen; ein Klumpen gefrorenen Talges stellte die Erde, ein Stück Schwarzbrot den Mond, und kleine Stückchen getrockneten Fleisches die kleineren Planeten vor. Die Ähnlichkeit mit den Himmelskörpern war leider nicht sehr groß. Für einen Zuschauer wäre es jedenfalls sehr amüsant gewesen, den feierlichen Ernst zu beobachten, mit dem ich das Brot und den Talg ihre entsprechenden Bahnen zurücklegen 233 ließ, und die langgezogenen Rufe des Staunens von seiten der Eingeborenen zu vernehmen, als die Mondfinsternis auf dem Stück Brot sichtbar wurde. Mein erster Vortrag wäre von großartigem Erfolge gewesen, hätte mein Auditorium nur den symbolischen Charakter von Brot und Talg begreifen können. Leider war ihre Einbildungskraft sehr schwach. Es war ihnen nicht klar zu machen, daß das Brot den Mond und der Talg die Erde bedeute; sie betrachteten dieselben einfach als irdische Produkte, die ihren eigenen, inwohnenden Wert haben. Sie schmolzen die Erde, um sie zu trinken, verschlangen den Mond und verlangten sofort einen zweiten Vortrag. Ich bemühte mich, ihnen verständlich zu machen, daß ich astronomische und nicht gastronomische Vorträge halten wolle, und daß es sehr unpassend sei, die Himmelskörper zu essen und zu trinken; daß die astronomische Wissenschaft von so vollständigen Finsternissen, wie sie das Verschlingen der Himmelskörper hervorbringe, nichts wisse, und wie befriedigend auch dies Verfahren für sie, es für mein Planetarium durchaus nicht von Nutzen sei. Meine Vorwürfe hatten sehr wenig Wirkung, und ich mußte zu jedem Vortrag eine neue Sonne, einen neuen Mond und eine neue Erde liefern. Ich sah bald ein, daß diese astronomischen Feste zu volkstümlich wurden, denn mein Auditorium verzehrte jeden Abend ein ganzes Sonnensystem, und das Planetenmaterial fing an, rar zu werden. Ich mußte endlich zur Darstellung der Himmelskörper meine Zuflucht zu Steinen und Schneeballen nehmen, anstatt Brot und Talg zu verwenden, und nun nahmen das Interesse für astronomische Erscheinungen und die Beliebtheit meiner Vorträge dergestalt ab, daß ich schließlich keinen einzigen Zuhörer mehr hatte.

Der kurze Wintertag war längst vorüber und die Nacht schon weit vorgeschritten, als wir uns nach dreiundzwanzigtägiger, angestrengter Reise unserm Bestimmungsorte, der ultima Thule der russischen Civilisation, näherten. Ich lag in dicke Pelze vergraben und im Halbschlummer auf meinem Schlitten, als fernes 234 Hundegebell verkündete, daß wir das Dorf Anadyrsk erreicht hatten. Nun machte ich einen eiligen Versuch, meine dicken Pelz-»torbassa« und Überstrümpfe mit amerikanischen Stiefeln zu vertauschen; aber während ich noch damit beschäftigt war, hielt mein Schlitten schon vor dem Hause des russischen Geistlichen, bei dem wir wohnen wollten, bis wir ein eigenes Haus gefunden hätten.

Eine Menge neugieriger Zuschauer hatte sich an der Thüre versammelt, um die merkwürdigen Amerikaner zu sehen, von denen sie schon gehört hatten, und inmitten der in Pelze gehüllten Menschen stand der Priester mit wallendem Haar und Bart, in ein weites, schwarzes Gewand gekleidet, und hielt über seinem Kopfe ein langes Talglicht, das in der kalten Nachtluft unruhig flackerte. Sobald ich meine Füße von meinen Pelzgamaschen befreit hatte, sprang ich unter tiefen Bücklingen und »zdrastwuitias« der Menge von meinem Schlitten und wurde von dem patriarchalischen Priester herzlich bewillkommt. Drei Wochen in der Wildnis hatten meine persönliche Erscheinung nicht gerade verschönert, und mein Kostüm würde überall, außer in Sibirien, das größte Aufsehen gemacht haben. Mein nicht allzu sauberes Gesicht war durch dreiwöchentlichen Bartwuchs verwildert; mein verwirrtes Haar hing in langen, unordentlichen Locken über meine Stirn, und die Fransen des zottigen schwarzen Bärenfelles, die mein Gesicht einrahmten, vermehrten den wilden Ausdruck meines Antlitzes. Die amerikanischen Stiefel, die ich schleunigst angezogen, waren das einzige Zeichen, das auf frühere Bekanntschaft meinerseits mit der Civilisation schließen ließ. Indem ich die respektvollen Grüße der Tschuansen, Jukaghiren und russischen Kosaken erwiderte, die sich in gelben Pelzkappen und Röcken von gefleckten Renntierfellen an der Thüre drängten, folgte ich dem Geistlichen ins Haus. Dies war die zweite Wohnung, welche diesen Namen verdiente, die ich seit zweiundzwanzig Tagen betrat, und nach den rauchigen Korjäkenjurten zu Kuil, Mikina und Schestakowa kam sie mir wie ein Palast vor. Der Fußboden war mit einem weichen Teppich 235 aus dunkeln Renntierfellen bedeckt, in den der Fuß bei jedem Schritt tief einsank; ein loderndes Feuer brannte in einem hübschen Kamin in einer Ecke des Zimmers und verbreitete eine behagliche Helle; die Tische waren mit schönen amerikanischen Decken versehen; eine kleine vergoldete Wachskerze brannte vor einem massiv goldenen Heiligenschrein der Thüre gegenüber; die Fenster waren von Glas anstatt von Eisplatten oder Fischblasen; auf einem Gestelle lagen mehrere illustrierte Zeitungen, und alles war mit einem Geschmack und einer Rücksicht auf Behagen eingerichtet, die einem wegemüden Wanderer ebenso willkommen, wie sie in diesem Lande der trostlosen Steppen und uncivilisierten Menschen unerwartet waren. Dodd, der selbst seinen Schlitten lenkte, war noch nicht angekommen; aber an der Thüre konnten wir aus dem nahe gelegenen Walde eine Stimme vernehmen, welche sang: »O läge doch die Wildnis hinter mir, die Wildnis, die Wildnis« –; offenbar ahnte der Sänger nicht, wie nahe er dem Ziele, und daß sein melodisch ausgedrückter Wunsch von irgend jemand gehört werden konnte. Meine Kenntnis des Russischen war zu beschränkt und ungenau, als daß ich mich in befriedigender Weise mit dem Geistlichen hätte unterhalten können, und ich war deshalb herzlich froh, als Dodd aus der Wildnis erschien und meiner Verlegenheit ein Ende machte. Er sah nicht viel besser aus als ich, das war ein Trost. Ich stellte, sobald er das Zimmer betrat, im stillen Vergleiche an, und gewann die Überzeugung, daß wir beide Korjäken auffallend ähnlich sähen, und daß keiner den Vorrang der Civilisation wegen eleganterer Kleidung beanspruchen könne. Wir wurden der Frau des Geistlichen, einer blassen, schlanken Dame mit blondem Haar und dunkeln Augen vorgestellt – machten Bekanntschaft mit zwei oder drei niedlichen Kindern, die, sobald sie konnten, schleunigst die Flucht ergriffen, und setzten uns schließlich nieder, um Thee zu trinken.

Durch das herzliche Entgegenkommen unseres Wirtes fühlten wir uns bald behaglich, und in Zeit von zehn 236 Minuten schwatzte Dodd mit der größten Ungeniertheit darauf los, erzählte von unsern Abenteuern und Leiden, lachte, scherzte und trank dem Geistlichen so vertraut zu, als ob er ihn seit zehn Jahren, anstatt seit ebensoviel Minuten gekannt hätte. Dodd hatte dafür eine besondere Begabung, um die ich ihn oft beneidete. Er verstand es, in fünf Minuten mit Hilfe von etwas Wodka die ceremoniellste Zurückhaltung des strengsten alten Patriarchen in der ganzen griechischen Kirche über den Haufen zu werfen und ihn im Sturme zu erobern, während ich dabeisaß und lächelte, ohne ein Wort sagen zu können.

Nach einem vortrefflichen Nachtessen, das aus »Schi« oder Kohlsuppe, Koteletten und Weißbrot mit Butter bestand, breiteten wir unsere Bärenfelle auf den Boden, entkleideten uns zum zweitenmal seit drei Wochen und gingen zu Bett. Das Gefühl, ohne Pelze und mit unbedecktem Kopfe zu schlafen, war so seltsam, daß wir lange wach lagen, das rötliche Licht des flackernden Feuers auf der Wand beobachteten, uns der köstlichen Wärme weicher, flockiger Decken und des Luxus uneingeengter Gliedmaßen und bloßer Füße erfreuten. 237

 


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