George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

34. Kapitel.

Da wir die Schlittenbahn, welche der Priester gemacht, benutzen konnten, kamen wir rascher in der Richtung von Anadyrsk vorwärts, als ich erwartet; und am 22. November kampierten wir dreißig Werst südlich von der Niederlassung am Fuße eines niedrigen Gebirgszuges, der als »Ruski Chrebet« bekannt ist. In der Hoffnung, unseren Bestimmungsort vor dem nächsten Morgen zu erreichen, hatten wir beabsichtigt, die ganze Nacht zu reisen, aber gerade vor Einbruch der Dunkelheit erhob sich ein Sturm, der uns am Überschreiten des Passes verhinderte. Gegen Mitternacht ließ der Wind ein wenig nach, der Mond blickte gelegentlich aus den Wolken hervor, und da wir fürchteten, das Wetter könne sich wieder verschlechtern, alarmierten wir unsere Hunde und fuhren bergan. Es war ein wildes, einsames Bild. Der Schnee trieb uns in dichten Wolken aus dem Paß entgegen, verhüllte fast die weißen Bergspitzen zu beiden Seiten und machte die Landschaft hinter uns vollständig unsichtbar. Dann und wann drang das Mondlicht siegreich durch die Wolken fliegenden Schnees und beleuchtete einen Augenblick den mächtigen, kahlen Bergabhang über unseren Häuptern; dann jagte der Sturm wieder die Schlucht herab, und alles verschwand in Wolken und Finsternis. Als wir ganz atemlos auf der Höhe angekommen waren, gestatteten wir unseren Hunden einen 326 Augenblick zu verschnaufen. Da erblickten wir plötzlich eine lange Reihe dunkler Gegenstände, welche über die kahle Hochfläche nur wenige Meter von uns entfernt dahineilten und in der Schlucht, der wir eben entronnen, verschwanden. Ich erhaschte nur einen flüchtigen Eindruck, aber es schienen Hundeschlitten zu sein, und mit lautem Geschrei jagten wir hinter ihnen her. Es waren wirklich Hundeschlitten, und als wir näher kamen, erkannte ich den alten, mit Seehundsfell bedeckten »Pavoska«, den ich im vorhergehenden Winter zu Anadyrsk gelassen, und in dem sich sicherlich ein Amerikaner befinden mußte. Mit laut klopfendem Herzen sprang ich von meinem Schlitten, eilte zum Pavoska und fragte: »Wer da?« Es war zu dunkel, um die Züge zu erkennen, aber die Stimme, die ich mit tausend Freuden willkommen hieß, war die von Bush. Seit länger als drei Wochen hatte ich keinen Landsmann gesehen, kein Wort englisch gesprochen; fortwährendes Mißgeschick hatte mich entmutigt, und plötzlich, um Mitternacht, auf einer öden Bergspitze im Sturm begegnet mir ein alter Kamerad und Freund, den ich fast als verloren betrauert hatte. Das war ein freudiges Wiedersehen! Die Eingeborenen, welche sich zum Entsatz der Amerikaner an den Anadyrgolf begeben, waren mit Bush glücklich zurückgekehrt, und dieser war nach Gischiginsk unterwegs, wohin er die Kunde von der Hungersnot bringen und Vorräte und Hilfe holen wollte. Auch er war wie wir vom Sturme aufgehalten worden, hatte sich, als derselbe um Mitternacht nachließ, ebenfalls aufgemacht, und so waren wir auf der Höhe zusammengetroffen.

Wir kehrten in mein verlassenes Lager an der Südseite des Gebirges zurück, entfachten die noch rauchende Asche, breiteten unsere Bärenfelle aus und plauderten, bis der Schnee uns das Aussehen von Eisbären verliehen und der Tag im Osten graute.

Bush brachte noch mehr schlechte Nachrichten. Er und seine Gefährten hatten, wie der Priester mir schon erzählt, sich in der ersten Hälfte des Juni an die Anadyrmündung begeben und dort fast vier Monate auf die Schiffe 327 der Gesellschaft gewartet. Ihre Vorräte waren schließlich auf die Neige gegangen, und sie hatten von den wenigen Fischen, die sie von Tag zu Tag fingen, ihr Dasein gefristet, und wenn sie keine Fische hatten, gehungert. Um sich Salz zu verschaffen, hatten sie eine alte Tonne ausgeschabt, in der gesalzenes Fleisch gewesen, und die sich von Macraes Aufenthalt in dem Lager noch daselbst befunden; als Kaffee hatten sie einen Aufguß von geröstetem Reis getrunken. Endlich waren ihnen aber auch Salz und Reis ausgegangen, und sie waren auf ein spärliches Gericht von gekochtem Fisch ohne Salz, Brot oder Kaffee angewiesen gewesen. Inmitten eines großen Moossumpfes fünfzig Meilen vom nächsten Baum zu leben, sich in Ermangelung von anderen Kleidungsstücken in Tierfelle zu hüllen, häufig von Hunger und beständig von Moskitos gequält zu werden, Tag für Tag und Woche für Woche nach Schiffen spähen, die nie ankommen, – das ist wirklich keine beneidenswerte Lage. Im Oktober war endlich »das goldene Thor«, eine der Gesellschaft gehörende Bark, mit fünfundzwanzig Mann und einem kleinen Dampfer angelangt. Aber der Winter hatte schon seinen Einzug gehalten, und fünf Tage später, ehe die Ladung des Schiffes geborgen werden konnte, war dasselbe vom Eis zertrümmert worden. Es war zwar gelungen, die Mannschaft und fast alle Vorräte zu retten, aber dieses Mißgeschick hatte die Abteilung von fünfundzwanzig auf siebenundvierzig Köpfe vermehrt, ohne entsprechende Vergrößerung der Vorräte zu ihrem Unterhalte. Glücklicherweise waren wandernde Tschutschken in die Nähe gekommen, denen Bush eine bedeutende Anzahl Renntiere abgekauft, die er gefrieren und zu späterem Gebrauche hatte aufbewahren lassen. Nachdem der Anadyr zugefroren, war Bush, wie Macrae im vorhergehenden Winter, ohne Transportmittel, um die zweihundertundfünfzig Meilen entfernte Niederlassung zu erreichen; aber er hatte den Fall vorgesehen und Befehl hinterlassen, wenn er, ehe sich der Fluß gestellt, nicht auf Booten zurückgekehrt sei, solle man ihm Hundeschlitten zum Entsatze schicken. Trotz der Hungersnot 328 war dieser Befehl ausgeführt worden, und Bush war mit zwei seiner Leute nach Anadyrsk gekommen. Als er die Niederlassung von Hungersnot heimgesucht und verödet fand, hatte er sich ohne Aufschub nach Gischiginsk aufgemacht, obgleich seine erschöpften und hungernden Hunde unterwegs tot liegen blieben.

Die Lage, als ich mit Bush auf der Höhe des Ruski Chrebet zusammentraf, war also kurz folgende:

Vierundvierzig Mann lebten an der Anadyrmündung, zweihundertundfünfzig Meilen von der nächsten Niederlassung, ohne genügende Vorräte für den Winter und ohne Transportmittel, um sich von dort zu entfernen. Das Dorf Anadyrsk war verödet, und mit Ausnahme einiger Gespanne zu Penschinsk befanden sich im ganzen nördlichen Distrikt vom ochotskischen Meere bis zur Behringsstraße keine brauchbaren Hunde. Was war unter solchen Umständen zu thun? Die ganze Nacht diskutierten Bush und ich diese Frage am einsamen Lagerfeuer am Fuße des Ruski Chrebetgebirges, ohne zu einem Resultate zu gelangen, und nachdem wir drei bis vier Stunden geschlafen, setzten wir die Reise nach Anadyrsk fort. Spät am Nachmittage fuhren wir in das Dorf ein, das keine Niederlassung mehr genannt werden konnte. Die beiden oberen Dörfer, »Osalkin« und »Pokorukof«, die im vorigen Winter einen so wohlhabenden Eindruck gemacht, waren ohne eine lebende Seele, und in Markowa befanden sich nur noch einige hungernde Familien, deren Hunde alle tot waren, und die deshalb nicht fort konnten. Kein Heulchor zeigte unsere Ankunft an, niemand kam uns entgegen; die Fenster der Häuser waren mit hölzernen Läden verschlossen und halb im Schnee begraben, durch den kein Pfad führte; Todesschweigen herrschte im ganzen Dorfe, es war wie ausgestorben. Wir hielten an einem kleinen Blockhause, wo Bush sein Hauptquartier aufgeschlagen, und verbrachten den Rest des Tages damit, unsere gegenseitigen Erfahrungen auszutauschen.

Die unangenehme Lage, in der wir uns befanden, war fast ausschließlich die Folge der Hungersnot zu 329 Anadyrsk. Die verspätete Ankunft und der Schiffbruch des »Goldenen Thores« war natürlich ein großes Mißgeschick, aber das wäre leicht zu überwinden gewesen, hätte uns die Hungersnot nicht aller Transportmittel beraubt. Sowohl die Existenz der Bewohner Anadyrsks, wie die aller anderen russischen Niederlassungen in Sibirien hängt von den Fischen ab, welche jeden Sommer die Flüsse hinaufschwimmen, um zu laichen. Sie verteilen sich in die seichten Neben- und Seitenflüsse im Innern des Landes und werden daselbst zu Tausenden gefangen. So lange diese Fischwanderungen regelmäßig sind, können sich die Eingeborenen Nahrung im Überfluß verschaffen; aber aus einem unaufgeklärten Grunde bleiben alle drei oder vier Jahre die Fische einmal aus, und dann entsteht eine Hungersnot, wie die zu Anadyrsk, und manchmal eine noch viel schlimmere. Im Jahre 1860 starben in vier Niederlassungen am Penschinagolf mehr als hundertundfünfzig Eingeborene aus Mangel an Nahrung, und die Halbinsel Kamtschatka ist seit der russischen Eroberung so häufig von Hungersnot heimgesucht worden, daß die Bevölkerung auf weniger als die Hälfte zusammengeschmolzen ist. Wenn nicht die wandernden Korjäken mit ihren großen Renntierherden der hungernden Bevölkerung Hilfe brächten, würden meines Erachtens die ansässigen Bewohner Sibiriens, einschließlich Russen, Tschuansen, Jukahiren und Kamtschadalen in weniger als fünfzig Jahren aussterben. Durch die große Entfernung der Niederlassungen von einander und den Mangel jeglichen Verkehrsmittels im Sommer, ist jedes Dorf auf seine eigenen Hilfsmittel angewiesen und alle gegenseitige Unterstützung unmöglich, bis es oft zu spät ist. Die ersten Opfer einer solchen Hungersnot sind immer die Hunde, und die ihrer Transportmittel beraubten Bewohner können die heimgesuchte Niederlassung nicht verlassen, verzehren ihre Stiefel, Riemen aus Seehundsfell und was sonst von ungegerbten Häuten vorhanden, bis sie schließlich Hungers sterben. Übrigens ist ihre eigene Unbedachtsamkeit daran schuld. Sie könnten in einem Jahre Fischvorräte für drei Jahre 330 ansammeln, statt dessen versehen sie sich nur für einen Winter und überlassen das Weitere dem Zufall. Die schlimmsten Erfahrungen und Leiden machen sie indes nicht klüger. Ein Mann, der mit knapper Not dem Hungertode entronnen ist, zieht daraus durchaus keine Lehre, sondern setzt sich wieder der nämlichen Gefahr aus, lieber als daß er sich etwas mehr anstrengte, um eine größere Zahl Fische zu fangen. Selbst wenn die Hungersnot unvermeidlich scheint, treffen diese Leute keine Vorkehrungen, um das Elend zu mildern oder Hilfe zu schaffen, bis sie keinen Bissen mehr in den Mund zu stecken haben.

Ein Eingeborener von Anadyrsk erzählte mir einst, er habe nur noch für fünf Tage Hundefutter. »Aber,« sagte ich, »was werden Sie nach fünf Tagen anfangen?« – »Bokh gevo zniet« – »Gott weiß!« war die charakteristische Antwort, und er wendete sich gleichgiltig ab, als ob es sich um nichts von Bedeutung handele. Er schien zu meinen, wenn Gott es nur wüßte, dann wäre es von wenig Belang, ob jemand anders davon Kenntnis habe oder nicht. Wenn er den letzten getrockneten Fisch verfüttert, dann wäre es Zeit genug, sich umzuthun; einstweilen hielt er jegliche Bemühung für überflüssig. Diese bekannte Sorglosigkeit der Eingeborenen veranlaßte die russische Regierung, in mehreren dieser nordostsibirischen Niederlassungen eine Einrichtung zu machen, welche man eine Fisch-Sparbank oder Hungersnot-Versicherung nennen könnte. Um dieselbe zu organisieren, wurden von den Eingeborenen ungefähr hunderttausend getrocknete Fische oder »Jukala« gekauft, welche den Grundstock der Bank bildeten. Jeder männliche Bewohner der Niederlassung wurde dann gesetzlich gezwungen, jährlich ein Zehntel der von ihm gefangenen Fische in diese Bank einzuzahlen; Entschuldigungen waren unzulässig. Der so geschaffene Überschuß wurde zum Kapital geschlagen, so daß die Hilfsquellen der Bank sich jedes Jahr vermehrten, solange die Fische regelmäßig erschienen. Kamen die Fische nicht, und drohte Hungersnot, dann durfte jeder Deponent oder vielmehr 331 Steuerzahler die zu seinem Unterhalte notwendigen Fische von der Bank borgen, unter der Bedingung, dieselben im folgenden Sommer zurückzugeben, samt der regelmäßigen jährlichen Entrichtung des Zehnten. Es ist klar, daß eine auf einer solchen Basis etablierte und nach solchen Grundsätzen verwaltete Einrichtung nie zahlungsunfähig werden konnte, sondern daß sich ihr Fischvorrat stets vermehren und die Niederlassung vor jeglicher Möglichkeit einer Hungersnot bewahrt bleiben mußte. Zu Kolymsk am nördlichen Eismeere, wo das Experiment zuerst versucht wurde, hatte es sich vollständig bewährt. Die Bank unterhielt während zwei aufeinanderfolgender Hungerjahre die Bewohner des Dorfes, und im Jahre 1867 belief sich der Vorrat auf 300 000 getrocknete Fische und vermehrte sich jedes Jahr um 20 000. Da Anadyrsk nicht russischer Militärposten war, hatte es keine derartige Bank; wäre unser Unternehmen zustande gekommen, so hätten wir die russische Regierung ersucht, in allen Niederlassungen längs unserer Linie derartige Einrichtungen zu machen.

Einstweilen nahm die Hungersnot ihren Verlauf, und am 1. Dezember befand sich Bush in einem ausgestorbenen Dorfe, sechshundert Werst von Gischiginsk, ohne Geld, ohne Vorräte und ohne Transportmittel – und mit einer Mannschaft von vierundvierzig Köpfen an der Anadyrmündung, die auf seine Unterstützung rechnete. Unter solchen Umständen eine Telegraphenlinie errichten, war außer Frage. Alles was er zu vollbringen hoffen konnte, war, seine Leute mit der nötigen Nahrung zu versorgen, bis die Ankunft von Arbeitern und Pferden von Jakutsk ihm die Wiederaufnahme der Arbeit gestatten würde.

Weil ich zu Anadyrsk nicht von Nutzen sein konnte und nur die spärlichen Vorräte Bushs aufzehren half, reiste ich am 29. November mit zwei Penschinsker Schlitten nach Gischiginsk ab. Da ich den nördlichen Distrikt nicht mehr besuchte, will ich hier kurz berichten, was ich später brieflich über das Mißgeschick und die unglücklichen Erfahrungen der Angestellten der 332 Telegraphengesellschaft in jener Region erfuhr. Die Schlitten, die ich von Gischiginsk beordert, erreichten Penschinsk spät im Dezember mit ungefähr 3000 Pfund Bohnen, Reis, hartem Brot und anderen Vorräten. Bush beeilte sich, nach deren Ankunft sechs Schlitten mit einigen Vorräten an die Anadyrmündung zu spedieren, und im Februar kehrten die Schlitten mit sechs Leuten zurück. Entschlossen, wenigstens etwas, wenn auch noch so wenig zu leisten, schickte Bush diese sechs Arbeiter an einen gewissen Punkt des Main, ungefähr fünfundsiebzig Werst von Anadyrsk, und ließ sie auf Schneeschuhen längs der Route der Linie Telegraphenstangen aufstellen. Später im Winter wurde eine neue Expedition an den Anadyrgolf geschickt, und am 4. März kehrte dieselbe mit Lieutenant Macrae und sieben weiteren Arbeitern zurück. Diese Abteilung hatte unterwegs entsetzliches Wetter, und ein Mann derselben, Namens Robinson, kam in einem Sturme ungefähr 150 Werst von Anadyrsk ums Leben. Sein Leichnam blieb in einem der im Sommer von Bush errichteten Häuser unbegraben liegen, und seine Kameraden zogen weiter. Sobald sie in Anadyrsk angelangt waren, wurden sie ebenfalls an den Main dirigiert, und gegen Mitte März hatten die beiden Abteilungen zusammen an den Ufern des Flusses ungefähr dreitausend Telegraphenstangen hergerichtet und aufgestellt. Im April waren ihre Vorräte so zusammengeschmolzen, daß Hungersnot in Sicht war, und Bush machte sich mit einigen elenden Hundegespannen zum zweitenmal nach Gischiginsk auf, um Nahrungsmittel herbeizuschaffen. Während seiner Abwesenheit waren sich die unglücklichen Leute am Main selbst überlassen, und nachdem sie ihren letzten Bissen verzehrt und die Pferde, die man ihnen früher von Anadyrsk zugesandt hatte, aufgegessen, machten sie sich auf Schneeschuhen nach der Niederlassung auf. Es war eine schreckliche Expedition für halbverhungerte Menschen, und obgleich sie alle ihren Bestimmungsort erreichten, waren sie so erschöpft, daß, als sie in die Nähe des Dorfes gekommen, sie etwa alle hundert Meter 333 zusammenbrachen. Zu Anadyrsk gelang es ihnen, sich eine kleine Menge Renntierfleisch zu verschaffen, wovon sie lebten, bis Lieutenant Bush im Mai mit neuen Vorräten von Gischiginsk zurückkehrte. So endigte der zweite Winter im nördlichen Distrikt. Sofern praktische Erfolge in Betracht kamen, war das Unternehmen hier fast vollständig mißlungen; aber unsere Beamten und Arbeiter hatten einen Mut, eine Ausdauer entfaltet, eine Geduld im Ertragen der härtesten Beschwerden bewährt, welche den glänzendsten Erfolg verdient und denselben unter günstigeren Verhältnissen auch errungen haben würden. Während Herr Norton mit seinen Leuten im Februar am Main an der Arbeit war, stand das Thermometer an sechzehn Tagen von einundzwanzig mehr als 40° unter Null, fünfmal auf -60° und einmal sogar auf -68°, also hundert Grad unter dem Gefrierpunkt des Wassers. Bei einer Temperatur von 40 bis 60 Grad unter Null auf Schneeschuhen Telegraphenstangen zuschneiden, ist gewiß keine Kleinigkeit; aber wenn noch die Qualen des Hungers und die Gefahr, in der Wildnis am Mangel zu Grunde zu gehen, hinzukommen, dann übersteigt das menschliche Kräfte, und es ist nur zu verwundern, daß Macrae und Norton so viel fertig gebracht haben.

Am 15. Dezember kam ich in Gigischinsk an nach einer schlimmen und einsamen, sechzehntägigen Reise. Es war daselbst gerade ein Kurier von Jakutsk mit Briefen und Befehlen von Major Abaza eingetroffen.

Unter Mithilfe des Gouverneurs der Provinz war es ihm gelungen, für eine Periode von drei Jahren achthundert jakutische Arbeiter in Dienst zu nehmen zum festen jährlichen Lohn von sechzig Rubeln oder vierzig Dollars pro Mann. Ferner hatte er dreihundert jakutische Pferde und Packsättel und eine ungeheure Menge von Material und Vorräten der verschiedensten Art zur Ausrüstung und zum Unterhalt der Pferde und Arbeiter gekauft. Ein Teil der Leute war schon nach Ochotsk unterwegs, andere sollten in verschiedenen Abteilungen 334 so schnell wie möglich folgen und längs der ganzen Route der Linie verteilt werden. Es war natürlich nötig, diese Eingeborenen unter Aufsicht erfahrener Amerikaner zu stellen, und da wir in allen unseren Abteilungen höchstens fünf oder sechs Werkführer besaßen, hatte Major Abaza beschlossen, einen Kurier nach Petropawlowsk zu schicken, weil er vermutete, daß die Beamten, welche mit der »Onward« San Franzisco verlassen, in Kamtschatka gelandet seien. Er trug mir deshalb auf, zum Transport dieser Leute von Petropawlowsk nach Gischiginsk Vorkehrungen zu treffen, mich auf den sofortigen Empfang von fünfzig bis sechzig jakutischen Arbeitern zu richten, zum Unterhalt unserer amerikanischen Abteilung in Jamsk sechshundert Armeerationen zu schicken nebst dreitausend Pfund Roggenmehl für eine Gesellschaft Jakuten, die im Februar daselbst ankommen würden. Um allen diesen Anforderungen gerecht zu werden, verfügte ich über ungefähr fünfzehn Hundeschlitten, und selbst diese waren mit Vorräten für Lieutenant Bush nach Penschinsk unterwegs. Mit Hilfe des russischen Gouverneurs gelang es mir, zwei Kosaken nach Petropawlowsk und ein halbes Dutzend Korjäken mit Vorräten nach Jamsk abzusenden, während Lieutenant Arnold selbst in Schlitten die sechshundert Rationen abholen ließ. So verblieben mir meine fünfzehn Schlitten, um Lieutenant Sandford und seine Abteilung, die am Tilghai nördlich vom Penschinagolf Pfähle zuschnitten, mit allem Nötigen zu versorgen. Als gegen Ende Dezember Dodd und ich eines Tages auf dem Flusse oberhalb der Niederlassung ein Hundegespann dressierten, wurde uns gemeldet, es sei ein Amerikaner aus Kamtschatka mit Nachrichten über die langvermißte Bark »Onward« und die von derselben zu Petropawlowsk gelandeten Leute angekommen. Wir eilten ins Dorf und fanden Herrn Lewis, den besagten Amerikaner, in unserem Hause beschäftigt, Thee zu trinken. Dieser unternehmende junge Mann, der, beiläufig gesagt, ein an ein hartes Leben durchaus nicht gewöhnter Telegraphist war, hatte mitten im Winter, ohne ein Wort 335 russisch zu sprechen, die ganze Wildnis zwischen Petropawlowsk und Gischiginsk allein bereist. Er war zweiundvierzig Tage unterwegs gewesen und hatte mit einigen Eingeborenen und einem Kosaken von Tigilsk auf Hundeschlitten fast zwölfhundert Meilen zurückgelegt. Er schien diese Leistung sehr bescheiden aufzufassen, und doch war es in gewisser Hinsicht eine der bemerkenswertesten Reisen, welche je ein Angestellter der Telegraphengesellschaft ausgeführt hat.

Die »Onward« hatte, wie wir vermuteten, wegen der vorgeschrittenen Jahreszeit nicht nach Gischiginsk kommen können und deshalb ihre Ladung und die meisten Passagiere in Petropawlowsk gelassen, und Lieutenant Lewis war von dem Befehlshaber der Gesellschaft an Major Abaza abgeschickt worden, um ihm dies zu melden und seine Befehle entgegenzunehmen.

Nach Herrn Lewis' Ankunft ereignete sich bis zum März nichts Bemerkenswertes. Arnold zu Jamsk, Sandford am Tilghai und Bush zu Anadyrsk versuchten mit den wenigen zu ihrer Verfügung stehenden Leuten zu leisten, was möglich war; aber ihre Anstrengungen blieben wegen der heftigen Schneestürme, der entsetzlichen Kälte und des allgemeinen Mangels an Vorräten und Hunden meist fruchtlos. Im Januar machte ich mit zwölf oder fünfzehn Hundeschlitten einen Ausflug nach Sandfords Lager am Tilghai und versuchte seine Abteilung an einen anderen Punkt, dreißig bis vierzig Werst näher bei Gischiginsk, zu transportieren, aber in einem schrecklichen Sturm auf der Kuilsteppe wurden wir von einander getrennt, und nachdem wir einige Tage in Schneewehen verloren gewesen, die manchmal sogar die Hunde unseren Blicken entzogen, kehrte Sandford mit einem Teil der Gesellschaft an den Tilghai und ich mit den übrigen nach Gischiginsk zurück.

Gegen Ende Februar kam der Kosak Kolmagorof mit drei von den Leuten der »Onward« von Petropawlowsk an.

Im März erhielt ich durch einen besonderen Kurier 336 abermals einen Brief und weitere Anordnungen von Major Abaza aus Jakutsk. Die achthundert von ihm gedingten Arbeiter waren alle nach Ochotsk unterwegs und mehr als hundertundfünfzig derselben schon in Ochotsk und Jamsk in voller Thätigkeit. Die Ausstattung und der Transport der übrigen erforderten noch seine persönliche Aufsicht, und er schrieb, es würde ihm unmöglich sein, diesen Winter nach Gischiginsk zu kommen. Er wollte sich aber nach der Korjäkenniederlassung Jamsk, dreihundert Werst westlich von Gischiginsk, begeben und forderte mich auf, in Zeit von zwölf Tagen nach Empfang seines Briefes daselbst mit ihm zusammenzutreffen. Ich machte mich sofort mit einem amerikanischen Begleiter, Namens Leet, auf den Weg, mit Vorräten und Hundefutter für zwölf Tage.

Die Gegend zwischen Gischiginsk und Jamsk trug einen von allem, was ich bisher in Sibirien gesehen, gänzlich verschiedenen Charakter. Es gab daselbst keine so großen, öden Ebenen, wie zwischen Gischiginsk und Anadyrsk und im nördlichen Teile von Kamtschatka. Im Gegenteil, die ganze Küste am ochotskischen Meere in einer Länge von fast sechshundert Meilen westlich von Gischiginsk, war eine Wildnis von zerklüfteten, fast unpassierbaren Bergen, die von tiefen Thälern und Schluchten durchschnitten und mit dichtem Kiefern- und Lärchenwald bewachsen waren. Das Stanowoigebirge, welches sich von der chinesischen Grenze um das ochotskische Meer zieht, hält sich überall dicht an der Küste und schickt durch seine Seitenzweige Hunderte kleiner Flüßchen, welche in tiefen, bewaldeten Thälern dem Meere zufließen. Die Straße oder vielmehr die Reiseroute von Gischiginsk nach Jamsk schneidet alle diese Flüßchen und Gebirgsausläufer im rechten Winkel und läuft ungefähr in der Mitte zwischen der Hauptkette und dem Meere hin. Die meisten dieser Bergrücken zwischen den Flüssen sind nichts als hohe, kahle Wasserscheiden, die leicht zu übersteigen sind; aber an einem Punkt, ungefähr hundertundfünfzig Werst westlich von 337 Gischiginsk, schickt die Hauptkette einen Ausläufer an das Meer, der 2500 bis 3000 Fuß hoch ist und die Straße vollständig versperrt. Am Fuße dieses Berges zieht sich ein tiefes, düsteres, als die »Wiliga« bekanntes Thal hin, dessen oberes Ende die Hauptkette durchschneidet und den zwischen den Steppen und dem Meere eingeschlossenen Winden einen Ausgang gewährt. Im Winter, wenn das offene Wasser des ochotskischen Meeres wärmer ist, als die gefrorenen Ebenen im Norden der Berge, steigt die warme Luft über dem Meere in die Höhe, und die kältere Luft strömt durch das Wiligathal aus, um dieselbe zu ersetzen. Im Sommer dagegen, wenn das Wasser des Meeres von den ungeschmolzenen Eismassen noch kalt ist, die großen Steppen hinter den Bergen sich aber immerwährenden Sonnenscheins erfreuen, ist die Richtung des Windes eine entgegengesetzte. Das Wiligathal ist der große, natürliche Luftkanal, durch welchen die inneren Steppen einmal im Jahre Atem holen. An keinem anderen Punkte gewährt das Stanowoigebirge eine Öffnung, durch welche die Luft zwischen Steppen und Meer hin- und herströmen kann, und als natürliche Folge wütet in diesem Thale ein fortwährender, fast ununterbrochener Sturm. Während das Wetter überall ruhig und heiter ist, braust der Wind als Orkan durch das Wiligathal und reißt von den Seiten der Berge große Schneewolken weg, um sie weit hinaus ins Meer zu tragen. Deshalb fürchten alle Eingeborenen, die diesen Weg machen müssen, die in ganz Nordostsibirien berüchtigte »stürmische Wiligaschlucht«.

Am fünften Tage nach unserer Abreise von Gischiginsk näherte sich unsere, durch einen russischen Postillion und drei oder vier Schlitten, welche die jährliche Post von Kamtschatka transportierten, verstärkte kleine Reisegesellschaft dem Fuße der gefürchteten Wiligaberge. Wegen des tiefen Schnees waren wir weniger schnell vorwärts gekommen, als wir erwartet, und erst am fünften Abend hatten wir eine kleine, 338 zum Schutz der Reisenden errichtete Jurte in der Nähe der Topolowkaquelle, dreißig Werst vom Wiligathale, erreicht. Hier rasteten wir, tranken Thee und streckten uns auf den rohen Holzdielen zum Schlafen aus, denn wir wußten, daß unser eine mühselige Tagesarbeit harre. 339

 


 << zurück weiter >>