George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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14. Kapitel.

Mittwoch den 27. September zogen wir mit zwei Kosaken, einem Korjäken als Dolmetscher, acht Mann und vierzehn Pferden wieder ins Feld. Am Tage vor unserer Abreise war etwas Schnee gefallen, ohne gerade die Straße zu verschlechtern, nur war er ein Warnungszeichen, daß der Winter im Anzuge, und wir nicht mehr auf viel gutes Wetter zu rechnen hätten. – Wir eilten so rasch wie möglich der Küste des ochotskischen Meeres entlang, teils auf dem Strande unterhalb der Klippen, teils über mit niedrigem Wald bestandene Hügel und Thäler, die sich von der centralen Bergkette nach der Küste hinzogen. Wir kamen durch die Niederlassungen »Aminjana«, »Wajompolskoi«, »Hjucktana« und »Polan«, wechselten in jedem Dorfe die Leute und Pferde und erreichten endlich am 3. Oktober Ljesnowsk, die letzte kamtschadalische Niederlassung auf der Halbinsel.

Ljesnowsk liegt, so viel wir in Erfahrung bringen konnten, auf dem 59°, 20' nördlicher Breite und 160°, 25' östlicher Länge, ungefähr hundertundfünfzig Werst südlich von den Korjäkensteppen und beinah zweihundert Meilen in gerader Linie von Gischiginsk, dem einstweiligen Ziel unserer Wünsche.

Bis dato hatte die Reise durch die Halbinsel uns noch wenig Schwierigkeiten verursacht, da wir vom Wetter besonders begünstigt, und der natürlichen 111 Hindernisse nur wenige gewesen. Nun aber sollten wir unseren Einzug in eine Wildnis halten, die vollständig unbewohnt und selbst unseren kamtschadalischen Führern nur wenig bekannt war. Nördlich von Ljesnowsk fiel die große centrale Bergkette jäh ins ochotskische Meer ab und bildete zwischen uns und den Korjäkensteppen eine hohe, zerklüftete Mauer. Dieser Bergrücken bot selbst im Hochsommer einen beschwerlichen Übergang mit Pferden und war jetzt unendlich schwieriger, da der anhaltende Regen die Bergströme in schäumende Wasserfälle verwandelt, und die Stürme, welche die Vorläufer des Winters sind, jeden Augenblick erwartet werden konnten. Die Kamtschadalen von Ljesnowsk erklärten jeden Versuch für unzulässig, so lange die Bergwasser nicht zugefroren und genügend Schnee gefallen sei, um den Gebrauch von Hundeschlitten zu ermöglichen. Sie wären durchaus nicht gesonnen, in einem derartigen Abenteuer fünfzehn bis zwanzig Pferde aufs Spiel zu setzen, von ihrem eigenen Leben ganz zu schweigen. Der Major sagte ihnen in Worten, die mehr bezeichnend waren als höflich, er glaube keine Silbe von ihren Geschichten; die Berge müßten überschritten werden, und mit ihrer Hilfe überschritten werden, ob sie wollten oder nicht. Sie hatten offenbar noch nie mit einem so entschlossenen, eigenwilligen Herrn, wie der Major, zu thun gehabt. Nach langer Beratung willigten sie ein, mit acht unbeladenen Pferden den Versuch zu machen; all unser Gepäck sollte in Ljesnowsk zurückbleiben. Davon wollte der Major anfangs nichts hören; nach reiflicherer Überlegung beschloß er, aus unserer kleinen Gesellschaft zwei Abteilungen zu machen; die eine sollte zu Wasser im Walfischboote mit dem schweren Gepäck um die Berge herumfahren, die andere mit zwanzig unbeladenen Pferden dieselben überschreiten. Man hatte uns gesagt, die Straße über die Berge ziehe sich nicht weit von der Küste hin, so daß die Landabteilung die meiste Zeit dem Boote nahe genug wäre, um sich demselben durch Signale bemerkbar zu machen, und wenn der einen oder anderen Abteilung ein Unfall zustieße, oder ein 112 unvorhergesehenes Hindernis sich ihrem Vordringen entgegenstellte, sie sich gegenseitig Hilfe leisten könnten.

Die Mündung eines kleinen Flusses, »Samanka«, die man uns als die Mitte der Bergregion, gerade westlich vom Hauptrücken, bezeichnet, wurde als der Sammelplatz für beide Abteilungen verabredet, im Falle diese bei Sturm oder nebeligem Wetter die Verbindung mit einander verlieren sollten. Der Major wollte sich mit Dodd einschiffen und übertrug mir den Befehl über die Landabteilung, die aus unserem besten Kosaken, Wuschin, sechs Kamtschadalen und zwanzig leichten Pferden bestand. Wir fabrizierten Flaggen, verständigten uns über die Signale, beförderten das schwere Gepäck in das Walfischboot und ein großes Boot aus Seehundsfellen, und am frühen Morgen des 4. Oktober verabschiedete ich mich an der Küste von dem Major und Dodd. Als die Boote hinter einer Biegung des Ufers verschwanden, setzten wir uns mit unserem Gefolge in Bewegung und eilten in leichtem Galopp durch das Thal einer Öffnung in den Bergen zu, durch welche wir in die »Wildnis« eindrangen. Die ersten zehn bis fünfzehn Werst war die Straße recht gut; was mich erstaunte, war, daß dieselbe anstatt sich längs der Küste hinzuziehen, tief in die Berge führte; ich fing an zu fürchten, daß unsere Vorbereitungen zu gegenseitiger Hilfe nutzlos gewesen. In der Vermutung, daß das Boot am ersten Tage nur mit Rudern und ohne Wind nicht sehr weit kommen würde, schlugen wir früh unser Lager in einem engen Thale zwischen zwei parallel laufenden Bergrücken auf. Ich kletterte hinter unserem Zelt einen niedrigen Berg empor, in der Hoffnung einen Blick auf das Meer zu erhaschen; aber wir befanden uns wenigstens fünfzehn Werst von der Küste entfernt, und die Aussicht war durch eine Kette zerklüfteter Berge beschränkt, von denen viele über die Schneegrenze emporragen. Ich fühlte mich ohne Dodds heiteres Gesicht am Lagerfeuer ganz einsam und vermißte mehr, als ich je vermutet, seine lebhaften Ausfälle, komischen Geschichten und gutmütigen Scherze, mit denen er mir bisher die Stunden 113 des Lagerlebens gekürzt hatte. Wenn Dodd an diesem Abend, da ich in einsamer Majestät am Feuer thronte, meine Gedanken hätte erraten können, wäre er gewiß ganz stolz darauf gewesen, daß er mir so sehr fehlte. Wuschin gab sich mit der Zubereitung meines Abendessens ganz besondere Mühe, und der gute Bursche that sein Möglichstes, das einsame Mahl mit komischen kamtschadalischen Geschichten und Reiseerinnerungen zu würzen; aber das Wildpret hatte etwas von seinem guten Geschmack eingebüßt, und für die russischen Scherze und Geschichten fehlte mir das Verständnis. Nach der Abendmahlzeit streckte ich mich im Zelte auf meine Bärenfelle aus und schlief ein, indem ich den Vollmond über einem zerklüfteten Vulkan im Osten des Thales aufgehen sah.

Am zweiten Tage führte unser Weg durch ein enges, vielfach gewundenes Thal, über moosbedeckte Sümpfe und tiefe, schmale Bäche, bis wir eine verfallene unterirdische Hütte erreichten, halbwegs zwischen Ljesnowsk und dem Samanka. Hier verzehrten wir ein Frühstück von getrocknetem Fisch und hartem Brot und ritten unter strömendem Regen thalaufwärts, von allen Seiten von Felsen, schneebedeckten Bergen und erloschenen Vulkanen umgeben. Der Weg wurde plötzlich schlechter. Das Thal verengerte sich allmählich zu einer wilden, hundertundfünfzig Fuß tiefen Felsenschlucht, auf deren Sohle ein angeschwollener Bergstrom über scharfe, schwarze Felsen dahinschäumte und sich in prachtvollen Wasserfällen über Lavaschichten stürzte. Den steilen, schwarzen Seiten dieses Teufelspasses entlang schien kaum Raum genug, daß eine Gemse hätte Fuß fassen können; aber unser Führer versicherte, daß er schon öfters diesen Weg gemacht, stieg vom Pferde und ging vorsichtig auf dem schmalen Rande an der Vorderseite eines hohen, steilen Felsen hin. Wir folgten ihm, bald dicht am Wasser, bald fünfzig Fuß hoch über dem rauschenden Strome, so daß wir mit weit ausgestrecktem Arme Steine in die zischende, schäumende Flut konnten 114 fallen lassen. Vom sicheren Tritt meines Pferdes überzeugt, versuchte ich durch die Schlucht zu reiten, und hätte beinahe meinen Leichtsinn mit meinem Leben bezahlt. Ungefähr auf halbem Wege, wo der Pfad sich acht bis zehn Fuß über dem Flußbett hinzog, gab ein Stein unter den Hufen meines Pferdes nach, und wir stürzten zusammen ins Wasser. Es gelang mir, meine Füße von den eisernen Steigbügeln frei zu machen und mich beim Sturze auf die Seite des Felsen zu werfen, um nicht von meinem Tiere erdrückt zu werden. Der Sturz war nicht sehr tief, und ich kam obenauf zu liegen, hätte aber fast einen Tritt vom Pferde abbekommen, als es sich wieder aufrichtete. Es war gequetscht und geschunden, hatte jedoch keine ernsten Verletzungen. Ich zog die Sattelgurte fester an und führte es durch das Wasser watend hinter mir her, bis ich wieder auf den Pfad klettern konnte, und schwang mich nun mit triefenden Kleidern und einigermaßen erschütterten Nerven wieder in den Sattel.

Gerade vor einbrechender Nacht gelangten wir an einen Punkt, wo weiteres Vordringen in der bisherigen Richtung durch eine sich quer vorlagernde Bergkette geradezu abgeschnitten schien. Es war der Mittelpunkt des Samankagebirges. Ich warf dem Führer einen fragenden Blick zu, und dieser deutete auf den Querriegel und sagte, unser Weg gehe da hinauf. Ein Birkenwald zog sich bis zu halber Höhe, dann folgte immergrünes Gebüsch, an der Erde hinkriechende Kiefern, und schließlich erhoben sich hoch über alles schwarze, nackte Felsen, wo selbst das Renntiermoos nicht mehr Boden finden konnte, um Wurzel zu fassen. Daß die Kamtschadalen es für eine positive Unmöglichkeit erklärt, mit beladenen Pferden diesen Weg zurückzulegen, wunderte mich nicht mehr, sondern ich fing sogar an zu bezweifeln, daß wir es mit unbeladenen fertig brächten, obgleich ich an schlechte Saumpfade und tollkühne Kletterpartien gewöhnt war. Ich beschloß an der Stelle, wo wir uns befanden, zu übernachten und so viel Ruhe wie möglich zu genießen, damit wir und unsere Pferde mit frischen 115 Kräften die harte Tagesarbeit, die offenbar vor uns lag, in Angriff nehmen könnten. Die Nacht brach früh herein, der Regen fiel noch in Strömen, und es gab keine. Möglichkeit, unsere nassen Kleider zu trocknen. Wie sehnte ich mich nach einem Schluck Branntwein, um mein durchfrorenes Blut zu erwärmen, aber meine Reiseflasche war in der Eile bei unserer Abreise von Ljesnowsk vergessen worden; daher mußte ich mich mit dem milderen Reizmittel, heißem Thee, begnügen. Mein Bettzeug, das in Wachstuch eingewickelt gewesen, war glücklicherweise trocken und so steckte ich mich, naß wie ich war, in meinen Sack von Bärenfellen, deckte mich mit schweren Hüllen so warm wie möglich zu und schlief trotz allem verhältnismäßig behaglich.

Wuschin weckte mich am andern Morgen früh mit der Nachricht, daß es schneie. Ich erhob mich eilig und schaute zum Zelt hinaus. Was ich am meisten gefürchtet, war eingetreten. Ein Schneesturm fegte durch das Thal, die Natur hatte sich über Nacht in ein weißes Leichentuch gehüllt. Der Schnee lag im Thal schon drei Zoll tief, auf den Bergen würde er natürlich zusammengeweht und tiefer sein. Einen Augenblick überlegte ich, ob es wohl klug sei, bei solchem Wetter die Reise über die Berge fortzusetzen; aber meine Befehle lauteten kategorisch, wenigstens bis zur Samanka vorzudringen; eine Unterlassung meinerseits konnte den Erfolg der ganzen Expedition in Frage stellen. Ich wußte aus Erfahrung, daß der Major eines Sturmes wegen nicht auf seine Pläne verzichtete; wenn es ihm gelingen sollte, den Samanka zu erreichen, und mir nicht, so könnte ich die Demütigung nie verschmerzen und ihn nicht überzeugen, daß angelsächsisches Blut ebenso gut sei wie slawisches. Ungern gab ich das Zeichen zum Aufbruch; sobald die Pferde beisammen und gesattelt waren, ritten wir auf die Berge zu. Kaum hatten wir das schützende Thal verlassen und waren ungefähr zweihundert Fuß gestiegen, als wir von einem Orkan aus Nordost überrascht wurden, der den Abhang 116 herunter uns so gewaltige Schneewolken ins Gesicht trieb, daß Erde und Himmel in einem wirbelnden, weißen Nebel verschwanden. Der Anstieg wurde bald so steil und felsig, daß wir aus dem Sattel steigen mußten. Wir wateten also durch den zusammengewehten Schnee, kletterten mühsam über scharfe Felsen, die uns die Stiefel entzwei schnitten, und zogen unsere Pferde hinter uns her. Als wir in dieser Weise ungefähr tausend Fuß gestiegen waren, war ich so erschöpft, daß ich mich niederlegen mußte. Der Schnee war an manchen Stellen so tief, daß er mir bis an den Gürtel reichte, und mein Pferd machte keinen Schritt, wenn ich es nicht mit Gewalt vorwärts zog. Nachdem wir einige Minuten ausgeruht, ging's wieder bergan, und etwa nach einer Stunde harten Kampfes gegen die Unbill der Witterung gelangten wir auf den Kamm des Berges, vielleicht 2000 Fuß über dem Meeresspiegel. Hier war der Sturm so gewaltig, daß man sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte. Dichtes, fast undurchdringliches Schneegestöber verhüllte alles, wir kamen uns vor, als ständen wir auf den Trümmern einer untergegangenen Welt. Dann und wann wurde eine schwarze, unzugängliche vulkanische Felsspitze in dem weißen Nebel über unseren Häuptern sichtbar, als ob sie in der Luft schwebe, und verlieh der Scenerie eine erschreckende, momentane Wildheit, dann verschwand sie wieder im Schneesturm, und wir starrten in die Leere. Am Schild meiner Mütze hingen Eiszapfen, meine vom Regen des vorhergehenden Tages durchnäßten Kleider froren auf meinem Leibe zu einer steifen, eisigen Rüstung. Vom Schnee geblendet, mit erstarrten Gliedern und klappernden Zähnen bestieg ich mein Pferd und überließ es ihm zu gehen, wohin es wollte. Ich bat nur den Führer flehentlich sich zu beeilen und uns aus dieser exponierten Lage zu befreien. Vergeblich versuchte er, gegen den Sturm vorzudringen. Weder Worten noch Schlägen gelang es, das Pferd zum Wenden zu bringen, und schließlich mußte er auf dem Kamm des Berges in östlicher Richtung reiten. Wir gelangten in ein verhältnismäßig geschütztes Thal, ritten 117 einen andern Bergrücken hinauf, der höher war, als der erste, um einen Bergkegel herum, wo der Sturm gehörig wütete, in eine tiefe Schlucht und abermals einen Berg hinauf, so daß ich mich schließlich gar nicht mehr orientieren konnte und nicht die geringste Idee hatte, in welcher Richtung wir uns bewegten. Ich wußte nur, daß wir halb erfroren waren und uns in einer vollkommenen Gebirgswildnis befanden.

Während der letzten halben Stunde hatte ich mehrmals bemerkt, daß unser Führer mit den andern Kamtschadalen eifrige Beratungen pflog, daß er ganz verwirrt schien und nicht mehr wußte, welche Richtung er einschlagen sollte. Nun ritt er mit verlegenem Gesicht an mich heran und gestand, daß wir uns verirrt hätten. Ich konnte den armen Burschen nicht tadeln, daß er bei solchem Wetter den Weg verfehlt, und hieß ihn in der Richtung, die er für die richtige halte, nach dem Samanka vordringen; sollten wir das Glück haben, ein geschütztes Thal zu erreichen, so wollten wir daselbst besseres Wetter abwarten. Gern hätte ich ihn noch ermahnt, in dem undurchdringlichen Schnee recht vorsichtig zu sein, damit wir in keinen Abgrund stürzten, aber ich konnte mich bei meiner mangelhaften Kenntnis des Russischen nicht verständlich machen. Zwei Stunden lang wanderten wir ziellos bergauf und bergab, offenbar immer tiefer ins Gebirg hinein, ohne den geringsten Schutz gegen das Unwetter zu finden. Etwas mußte geschehen, wenn wir nicht alle erfrieren sollten. Ich teilte dem Führer mit, daß ich selbst die Leitung übernehmen wolle, holte meinen Taschenkompaß hervor und zeigte ihm, in welcher Richtung das Meer lag. Dahin beschloß ich unsere Schritte zu lenken, bis wir irgendwo aus den Bergen herauskämen. Er betrachtete mit stummem Erstaunen das kleine Instrument mit der zitternden Nadel und rief in komischer Verzweiflung: »Oh, Bahrin! Wie kann der Kompaß etwas von diesen verwünschten Bergen wissen, er ist nie hier gewesen; ich habe mein Leben hier zugebracht und könnte, wenn's mein Seelenheil gälte, nicht verraten, wo das Meer ist.« – Trotz Hunger, Kälte und 118 Besorgnis konnte ich nicht umhin, über die Bemerkung von dem unerfahrenen Kompaß zu lachen, der nie in Kamtschatka gereist war. Ich versicherte ihn, daß der Kompaß große Erfahrung darin besäße, bei Sturm die Richtung des Meeres herauszufinden; aber er schüttelte traurig den Kopf, als ob er in meine Behauptung großen Zweifel setze, und wollte nicht die von mir angegebene Richtung einschlagen. Da mein Pferd nicht gegen den Wind vorwärts wollte, stieg ich ab, und mit dem Kompaß in der Hand schritt ich den andern voran, von Wuschin gefolgt, der mit einem Bärenfell um den Kopf, wie ein wildes Tier aussah. Da der Führer bemerkte, daß wir entschlossen waren, uns dem Kompaß anzuvertrauen, schloß er sich uns endlich an. Wir kamen natürlich in dem tiefen Schnee mit unseren steifen, von gefrorenen Kleidern umhüllten Gliedern und bei dem Orkan, gegen den wir ankämpfen mußten, nur langsam vorwärts. Im Laufe des Nachmittags befanden wir uns plötzlich am Rande eines Abgrundes, gegen welchen in einer Tiefe von hundertundfünfzig Fuß das Meer mit solcher Gewalt seine haushohen Wellen schleuderte, daß ihr Brausen das Geheul des Orkans übertönte. Die wilde Einsamkeit des Bildes spottete der kühnsten Phantasie. Unter einem grauen, trostlosen Himmel hinter und um uns eine wirre Wildnis schneebedeckter Berggipfel, nur hie und da eine kriechende Kiefer, oder die schwarze Spitze eines Felsen, welche den Eindruck der geisterhaften Schneehülle noch verstärkten. Vor uns, aber tief unten, das aufgeregte Meer, dessen Wogen aus dem verhüllenden Schleier des Schneegestöbers geheimnisvoll auftauchten und in wilder Brandung an dem schwarzen Riff in Schaum zerschellten. Schnee, Wasser, Berge – und im Vordergrund eine kleine Gruppe eisbedeckter Männer und struppiger Pferde, die von der Höhe des zackigen Riffs auf das Meer starrten. Ein einfaches, aber trauriges, vielsagendes Bild. – Nachdem unser Führer nach irgend einem Orientierungszeichen ausgespäht, wandte er sich schließlich, offenbar mit erleichtertem Herzen, an mich und 119 verlangte, den Kompaß zu sehen. Ich schraubte den Deckel ab und zeigte ihm die blaue, zitternde, nach Norden weisende Nadel. Er betrachtete sie neugierig aber mit augenscheinlichem Respekt vor ihrer geheimnisvollen Kraft und sagte, daß sie wirklich »schipka mastir« sei und ob sie immer nach dem Meere zeige. Ich versuchte ihm die Beschaffenheit des Kompasses klar zu machen, aber es gelang mir nicht; er war fest überzeugt, daß etwas Übernatürliches im Spiele sei, daß es dabei nicht mit rechten Dingen zugehe.

Während des Nachmittags drangen wir in nördlicher Richtung vor, indem wir uns so nah wie möglich an der Küste hielten und nicht weniger als neun niedrige Bergrücken überschritten.

Die eigentümliche Erscheinung, von der ich in Tyndalls »Alpengletscher« gelesen, bemerkte ich hier zum erstenmale. Blaues Licht schien aus jeder Fußspur, aus jeder kleinen Spalte im Schnee aufzusteigen. Das mit einem dünnen, langen Stock gemachte Loch war von dem blauen Dampfe ganz gefüllt. Während meiner fast dreijährigen Reise im Norden hatte ich nie mehr Gelegenheit, dieses eigentümliche Phänomen so deutlich zu beobachten.

Ungefähr eine Stunde nachdem die Dunkelheit hereingebrochen war, ritten wir in ein tiefeingeschnittenes, einsames Thal, das, nach Aussage unseres Führers, auf der Seeküste unweit der Mündung des Samanka endete. Hier lag kein Schnee, aber es regnete in Strömen. Ich hielt es kaum für möglich, daß bei solchem Sturm der Major und Dodd sich auf dem Stelldichein eingefunden hätten – befahl aber den Leuten, das Zelt aufzuschlagen, während Wuschin und ich an die Mündung des Flusses ritten, um uns Gewißheit zu verschaffen, ob das Boot angekommen sei oder nicht. Es war zu dunkel, um irgend etwas genau unterscheiden zu können, aber wir entdeckten auch nicht die leiseste Spur, daß menschliche Wesen je hier gewesen, und kehrten enttäuscht in das Lager zurück. Nie waren wir froher unter Obdach zu kommen, zu Nacht zu speisen und in unsere 120 Schlafsäcke von Bärenfellen zu kriechen; als nach diesem denkwürdigen Tage. Unsere Kleider waren seit achtundvierzig Stunden naß oder gefroren, und seit vierzehn Stunden hatten wir im Sattel gesessen oder waren zu Fuß marschiert, ohne warme Nahrung oder Ruhe genossen zu haben. 121

 


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