George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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2. Kapitel.

    »Seine Seereise befriedigte und entzückte ihn über
alle Maßen, wie dies bei jedem der Fall sein muß.
Burton.    

Auf See 700 Meilen N.-W. von San Franzisco.

Mittwoch, den 12. Juli 1865.

Von frohen Hoffnungen und freudigen Erwartungen erfüllt schrieb ich vor zehn Tagen, am Vorabend unserer Abreise nach der Küste Asiens, obiges Motto auf die erste Seite meines Tagebuches. Kein Zweifel war noch in meinem Geiste aufgetaucht, daß die kühnen Bilder meiner Phantasie sich nicht verwirklichen könnten, daß das Leben auf des Meeres Woge nicht der Gipfel des höchsten irdischen Glückes sei. Das Citat von Burton schien mir außerordentlich gut gewählt, und ich segnete in Gedanken den sonderbaren alten Anatomen der Melancholie, der mich mit einem so einfachen und passenden Motto versorgt hatte. Ihn befriedigte und entzückte seine Seereise über alle Maßen, und die vollständig ungerechtfertigte Voraussetzung, daß dieselbe, weil sie ihn entzückt, auch notwendigerweise jeden anderen entzücken müsse, erschien mir nicht im geringsten unvernünftig.

Im Gegenteil, sie hatte für mich das Gewicht der strengsten logischen Folgerung, und ich hätte jeden mit Verachtung gestraft, der mir eine mögliche Enttäuschung 10 in Aussicht gestellt. Meine Begriffe vom Leben auf dem Meere hatte ich den glühenden Schilderungen der Dichter entlehnt, mit denen diese seit Jahrtausenden die armen Menschenkinder auf das nasse, trügerische Element gelockt. Ich träumte von »paradiesischen Inseln, die purpurne Wogen umrauschten«, von der »glühend roten Sonne, die hinab ins weitaufschauernde silbergraue Weltenmeer steigt«, von mondbeglänzten Zaubernächten auf einsamem Wasserspiegel; Nebel, Stürme oder gar die Seekrankheit waren nicht ins Programm aufgenommen. Wenn ich die Möglichkeit eines Sturmes zuließ, so gestaltete er sich mir zum »Tanz der weißen Wasserberge, die das Schifflein erklimmt«; nie trug er die unangenehmen Züge, die dem nassen Elemente unter prosaischeren Umständen anhaften. Auf meiner Fahrt nach Kalifornien war zwar das Meer nicht ganz zahm gewesen, aber die Erinnerung warf ihren verklärenden Schein auf diese Erlebnisse, und ein Sturm auf dem stillen Ozean schwebte mir als ein großartiges, wünschenswertes Ereignis vor. – Die Illusion war leider von kurzer Dauer. Eine zehntägige Meerfahrt hat meine frohen Hoffnungen und freudigen Erwartungen in die unangenehme Gewißheit wirklichen Elendes verwandelt, und mir erübrigt nur, über die Unvereinbarkeit von Dichtung und Wahrheit zu trauern. Nie mehr werde ich Dichtern blindes Vertrauen schenken; sie mögen ja der Wahrheit so nahe kommen, wie dies in der Poesie zulässig, aber zu einer lebenswahren, der Wirklichkeit entsprechenden Schilderung des Seelebens ist ihr Urteil nicht unbestechlich genug, ihre Phantasie zu überschwenglich. Unser Dasein war, seitdem wir den Hafen verlassen hatten, alles außer poetisch gewesen.

Fast eine Woche lang litten wir alle unter dem unbeschreiblichen Elend der Seekrankheit ohne mildernde Umstände. Tag für Tag lagen wir in unseren engen Betten, zu unwohl, um zu lesen, zu unglücklich, um zu sprechen; beobachteten das einförmige Hin- und Herschwingen der Kajütenlampe, und horchten, wie das Wasser gegen die Blenden der Kajütenfenster prallte, 11 und auf das gleichmäßige Klirren der Blöcke der Schratsegelsschoot, wenn das rollende Schiff den schweren Baum hin und her schlagen machte.

»Lustig unter allen Umständen,« dieser Satz der Tapleyschen Philosophie zählte auch uns zu seinen begeisterten Anhängern, aber dieses Mal scheiterte jeder Versuch, Theorie und Praxis in Einklang zu bringen. Vier regungslose, gegen die Wand ausgestreckte Gestalten! Wo blieb da die Lustigkeit? Die Seekrankheit hatte über alle Philosophie den Sieg davongetragen. In träumerisches Sinnen melancholischster Färbung versunken, stellte ich Betrachtungen darüber an, ob Noah auch seekrank gewesen, und in welchem Verhältnis die Seetauglichkeit der Arche zu der unserer Brigg gestanden, und ob dieselbe in ebenso unbehaglicher Weise auf hochgehender See herumgeschaukelt worden.

Und wenn – der Gedanke brachte beinah ein Lächeln auf meine Lippen – welch trauriges Experiment für die armen Tiere!

Ob Jason und Odysseus wohl mit »Seefüßen« geboren worden, oder ob ihnen ihre erste Seefahrt auch so teuer zu stehen kam?

Ich entschied endlich, daß »Seefüße« , wie einige andere Krankheiten, eine diabolische Erfindung der Neuzeit sein müßten, und daß die Alten auch ohne dieselben fertig geworden.

Dann betrachtete ich aufmerksam die Mückenspuren auf den Brettern drei Zoll von meinen Augen, rief mir all die angenehmen Erwartungen ins Gedächtnis zurück, mit denen ich von San Franzisco abgesegelt war, und drehte mich, von Verzweiflung und Ekel erfüllt, mit einem tiefen Seufzer der Wand zu.

Ob irgend jemand seine Betrachtungen während der Seekrankheit zu Papier gebracht hat? Es giebt »Abendbetrachtungen« , »Betrachtungen eines Junggesellen«, »Betrachtungen am Meere« in Überfluß; aber, so viel ich weiß, hat noch keiner versucht, seinen Empfindungen während der Seekrankheit 12 litterarische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es ist dies eine große Unterlassungssünde, und ich möchte einem strebsamen Schriftsteller mit sinnendem Gemüte dieses ergiebige Thema ganz unterthänigst zur Beachtung empfehlen. Ein einziger Ausflug im nördlichen Teile des stillen Ozeans in einer kleinen Brigg würde ihm unerschöpfliches Material liefern. – Unser Leben ist bisher entsetzlich monoton, das Wetter kalt, feucht und nebelig, der Wind ungünstig und die See stürmisch gewesen. Wir waren auf unsere sieben Fuß breite und neun Fuß lange Kajüte beschränkt, und die eingeschlossene, nach Schlagwasser, Lampenöl und Tabaksdampf duftende Atmosphäre derselben hat höchst niederdrückend auf unsere Geister gewirkt. Mit Vergnügen konstatiere ich, daß heute alle auf den Beinen sind und dem Mittagessen mit einigem Interesse entgegensehen; aber selbst den begeisternden Klängen des Faustmarsches, welchen der Kapitän auf einer keuchenden, alten Harmonika spielt, gelingt es nicht, auch nur einen Schimmer von Heiterkeit auf den wehmütigen Gesichtern, die den Kajütentisch umgeben, hervorzuzaubern; Mahood behauptet, ganz wohl zu sein und spielt mit einer an Heroismus grenzenden Selbstbeherrschung Dambrett, aber in unregelmäßigen Zwischenräumen begiebt er sich plötzlich und unerwartet auf Deck und schaut jedesmal, wenn er wiederkommt, noch geisterhafter und jämmerlicher drein. Nach der Ursache dieser periodischen Besuche des Hinterdecks befragt, erwidert er mit einer gesuchten Heiterkeit, die niemand täuscht, daß er hinaufgehe, um den Kompaß zu beobachten. Es ist doch erstaunlich, daß die Beobachtung des Kompasses einen so schmerzlichen, melancholischen Ausdruck in Mahoods Zügen zurückläßt; aber er unterzieht sich der selbst auferlegten Pflicht mit unerschütterlicher Ausdauer, und wir sind nun über die Sicherheit des Schiffes vollständig beruhigt. Der Kapitän scheint ein wenig nachlässig zu sein; manchmal sieht er den ganzen Tag nicht nach dem Kompaß, aber Mahood schenkt ihm die wachsamste, unermüdlichste Aufmerksamkeit. 13

 

Brigg Olga, 800 Meilen N.-W. von San Franzisco.

Sonntag, 16. Juli 1865.

Die Einförmigkeit unserer Existenz wurde vorgestern Nacht unterbrochen, und unsere Seekrankheit trat in ein erhöhtes Stadium durch einen heftigen Nordweststurm, welcher uns zwang, zwanzig Stunden lang mit einem festgerefften Schönfahrsegel vor Anker zu liegen. Der Sturm fing am Spätnachmittage an und erreichte gegen neun Uhr seinen Höhepunkt. Die Wellen schlugen wie titanische Schmiedehämmer gegen die dröhnenden Planken des Schiffes; der Orkan tobte durch das Takelwerk; der regelmäßig wiederkehrende Stoß der Pumpen, das klagende Pfeifen des Windes in den Blöcken erfüllten unseren Geist mit trüben Ahnungen, und verscheuchten alle Lust zum Schlafen.

Der Morgen dämmerte trübe und zögernd, und sein erstes graues Licht, das durch die mit Wasser bespritzten kleinen, rechtwinkeligen Verdeckluken fiel, beleuchtete eine Scene von Verwirrung und Unordnung. Das Schiff schlingerte heftig, und Mahoods Koffer, der sich irgendwo losgerissen hatte, glitt auf dem Boden der Kajüte hin und her. Bushs große Meerschaumpfeife hatte in Begleitung eines Schwammes ihren vorübergehenden Aufenthalt in einem meiner besten Hüte aufgeschlagen, und des Majors Cigarrenkiste rollte aus einer Ecke in die andere. Bücher, Papiere, Cigarren, Bürsten, schmutzige Kragen, Strümpfe, leere Weinflaschen, Pantoffeln, Stöcke und alte Stiefel flogen in buntem Chaos auf dem Boden herum, und eine große, mit telegraphischem Material gefüllte Kiste drohte herabzufallen und alles zu zermalmen. Der Major, der zuerst ein Lebenszeichen von sich gab, stützte sich auf einen Ellenbogen, starrte das Durcheinander an, schüttelte nachdenklich sein Haupt und sagte: »W–u–n–der–bar! W–u–n–der–bar!« als ob die herumgeschleuderten Stiefel und Cigarrenkisten ein neues und verblüffendes Phänomen seien, das sich durch kein bekanntes Gesetz der Naturwissenschaft erklären lasse. Ein plötzlicher Stoß des 14 Schiffes in demselben Augenblick verlieh dem Monolog noch tiefere Empfindung, und zweifellos mit verstärkter Überzeugung von der ursprünglichen, angeborenen Verderbtheit der Materie im allgemeinen und des stillen Ozeans im besonderen, legte er sein Haupt wieder auf das Kissen.

Es bedurfte unter so vielversprechenden Umständen keines geringen Grades von Energie, aufzustehen; aber Bush machte nach einigem Stöhnen und Gähnen doch den Versuch, sich zu erheben und anzukleiden. Als das Schiff gerade nach der Luvseite überholte, kletterte er schleunigst herab, erwischte seine Stiefel mit der einen, seine Beinkleider mit der anderen Hand und fing an, mit überraschender Behendigkeit in der Kajüte umherzuhüpfen, indem er den herumrollenden Flaschen und dem Koffer bald auswich, bald darüber wegsprang und zu gleicher Zeit krampfhafte Anstrengungen machte, mit beiden Beinen zugleich in einen Stiefel zu fahren. Von einem unerwarteten Schlingern des Schiffes in seiner schwierigen Aufgabe überrascht, machte er einen ungestümen Angriff auf einen unschuldigen Waschtisch, trat auf eine erratische Flasche, fiel auf den Kopf und lag schließlich in einer Ecke des Zimmers. Der Major schüttelte sich vor Lachen und konnte nur unzusammenhängend die Worte hervorstoßen: »Es – ist wirklich zu arg, wie es schlingert!« »Ja, freilich,« erwiderte Bush aufgebracht. »Stehen Sie doch auf und versuchen Sie's selbst.« Aber es genügte dem Major vollständig, Bush mit zuzusehen und ihn nach Herzenslust auszulachen. Dieser beendigte jedoch schließlich trotz aller Hindernisse seine Toilette, und ich beschloß nach einigem Zögern, seinem Beispiele zu folgen. Nachdem ich zweimal über den Koffer gefallen, mich einigemal auf meine Fersen und Ellenbogen gesetzt und verschiedene andere, gleich schwierige Heldenthaten vollbracht, gelang es mir endlich, meine Jacke umgewendet anzuziehen, mit jedem Fuß in den verkehrten Stiefel zu fahren und die Kajütentreppe hinaufzuklettern. Der Wind war noch immer heftig und das Schönfahrsegel gerefft. Von den 15 niedrig hängenden Regenwolken verdeckt, türmten sich ungeheure Wasserberge auf, stürzten mit weißen Schaumkämmen auf uns zu, brachen mit wuchtiger Gewalt über die Back, stürmten über die Schiffsküche weg, warfen das Schiff auf die Seite, daß die Glocke von selbst anschlug und die klare See über die Leereling auf das Deck stürzte.

Alles dies entsprach gerade nicht genau der Vorstellung, die ich mir von einem Sturme gemacht hatte, aber ich mußte gestehen, daß die charakteristischen Züge des wirklichen Phänomens vorhanden waren. Der Wind heulte regelrecht durch das Takelwerk, das Meer übertraf alle Erwartungen, und das Schiff stampfte und rollte in einer Weise, die auch den kritischsten Geschmack befriedigen mußte. Der Eindruck der Erhabenheit ging jedoch fast vollständig in dem Gefühl persönlichen Unbehagens unter. Ein Mann, der gerade durch eine der exzentrischen Bewegungen des Schiffes über ein Oberlicht geschleudert oder von einer Sturzwelle bis auf die Haut durchnäßt worden ist, befindet sich nicht in der Verfassung, für Erhabenheit zu schwärmen; alle romantischen Begriffe, die er früher gehegt, werden aus ihm herausgerüttelt und -gewaschen. Stürmisches Wetter treibt jedem die Poesie und Überschwenglichkeit aus.

 

Brigg Olga, Auf See, 27. Juli 1865.

Während ich in San Franzisco lebte, legte ich mir öfters die Frage vor, woher wohl die kalten Nebel kämen, die bei Einbruch der Nacht über Lone Mountain und durch das goldene Thor ihren Einzug hielten. Ich habe das Laboratorium entdeckt. Seit vierzehn Tagen segeln wir ohne Unterbrechung in einer dicken, nassen, grauen Nebelwolke, die manchmal so dicht ist, daß man die Bramraa nicht erblicken kann, und so durchdringend, daß sie sogar ihren Weg in unsere kleine Kajüte findet und sich in winzigen Tropfen auf unseren Kleidern kondensiert. Ich vermute, daß der Dunst aus dem warmen Wasser des großen pacifischen Golfstromes aufsteigt, den 16 wir gerade passieren, und daß derselbe von den kalten Nordwestwinden Sibiriens in Nebel verwandelt wird. Er gehört zu den größten Unannehmlichkeiten unserer Reise.

Unser Leben läßt an Einförmigkeit nichts zu wünschen übrig; wir essen, rauchen, beobachten das Barometer und schlafen zwölf Stunden von vierundzwanzig. Der Sturm, mit dem wir vor vierzehn Tagen beglückt wurden, brachte uns wenigstens zeitweilige, angenehme Aufregung und lieferte Unterhaltungsstoff; wir haben uns alle zur Meinung des Majors bekehrt, daß es höchst »wunderbar« war, und sehnen uns wahrhaft nach einem neuen Ereignis. Ein kalter, regnerischer, nebliger Tag folgt dem anderen, und die einzige Variation besteht darin, daß der widrige Wind mit Schneesturm abwechselt. Die Zeit wird uns natürlich unbeschreiblich lang. Um halb acht Uhr des Morgens weckt uns der zweite Steuermann, ein possierlicher, phlegmatischer Holländer, der uns zuruft, aufzustehen und einen Walfisch in Augenschein zu nehmen, den er regelmäßig vor dem Frühstück herbeizaubert und der ebenso regelmäßig auf geheimnisvolle Weise wieder verschwindet, ehe wir auf dem Verdeck erscheinen können. Wenn's mit dem Walfisch nicht mehr ziehen will, nimmt er Zuflucht zu einer ebenso mysteriösen, exzentrischen Seeschlange, deren wunderbares Aussehen er im komischsten gebrochenen Englisch beschreibt, in der vergeblichen Hoffnung, uns aus dem Bett in die kalte neblige Atmosphäre zu locken. Aber es gelingt ihm nicht. Bush öffnet die Augen, gähnt und blickt schläfrig nach dem Frühstückstisch in der Kajüte des Kapitäns. Da ich denselben von meinem Bett aus nicht sehen kann, beobachte ich Bush. Jetzt hören wir auf Deck über uns die Schritte des buckligen Proviantmeisters, und mit einer raschen Reihenfolge von kleinen Schlägen rollen ein halbes Dutzend gequellte Kartoffeln die Treppe herunter in die Kajüte. Sie sind die Vorläufer des Frühstücks. Bush fixiert den Frühstückstisch, und ich fixiere Bush, während der Proviantmeister das Essen aufträgt, und der Ausdruck von Bushs 17 Zügen verrät mir, ob es der Mühe wert ist, aufzustehen oder nicht. Wenn er stöhnt und sein Antlitz der Wand zukehrt, bedeutet das, daß es nur gehacktes Fleisch giebt, und ich stöhne gleichfalls und folge seinem Beispiele; lächelt er aber und erhebt sich, so mache ich es ebenso, in der festen Überzeugung, daß wir frische Hammelskoteletten, Reisgemüse und Huhn zu erwarten haben. Nach dem Frühstück raucht der Major eine Cigarette und blickt sinnend auf das Barometer; der Kapitän spielt die russische Nationalhymne auf seiner Harmonika, während Bush und ich uns aufs Verdeck begeben, um den frischen, reinen Nebel in vollen Zügen einzuatmen und den zweiten Steuermann mit seiner Seeschlange aufzuziehen. Dann wird gelesen, Dambrett gespielt, gefochten, wenn es das Wetter erlaubt, im Takelwerk herumgeklettert, und so vergeht der Tag, wie schon zwanzig vergangen sind, und noch zwanzig vergehen müssen, ehe wir hoffen können, Land zu erblicken.

 

Auf See, in der Nähe der Aleuten, 6. August 1865.

Hunderte von Meilen See würde ich geben für einen einzigen Acker unfruchtbaren Landes, Heide, Steppe – alles, alles, nur nicht diese endlose Wasserwüste! Kamtschatka mag sein, was es will, wir werden es mit ebenso großer Freude begrüßen, wie Kolumbus die blühende Küste San Salvadors. Ich bin geneigt eine Sandbank und zwei Grashalme mit Wohlgefallen zu betrachten und würde selbst auf das Gras verzichten, wenn ich nur der Sandbank sicher wäre. Wir schwimmen nun seit vierunddreißig Tagen auf dem Meere, ohne ein einziges Segel oder ein Stückchen Land erblickt zu haben.

Seit einiger Zeit besteht unsere Hauptunterhaltung im Diskutieren bestrittener Punkte der Geschichte und Wissenschaft, und es ist ganz merkwürdig, was für juristische Befähigung diese Debatten zutage gefördert haben. Das einzig Unangenehme dabei ist, daß sie in Ermangelung einer entscheidenden Autorität nie zu befriedigendem Abschluß gelangen. In den letzten sechzehn Tagen ereiferten wir uns über die Spritzlöcher des Walfisches, 18 und ich bin fest überzeugt, daß das Problem nie zur Zufriedenheit aller streitenden Parteien gelöst werden würde, selbst wenn sich unsere Reise wie die des »Fliegenden Holländers« in alle Ewigkeit ausdehnte. Der Kapitän besitzt eine alte, sechsundzwanzig Foliobände umfassende Geschichte der Welt in holländischer Sprache, in der er sich, als endgiltiger Autorität über alle Fragen in der Welt, Rat holt, mögen sie sich nun auf Liebe, Wissenschaft, Krieg, Kunst, Politik oder Religion beziehen. Sobald er bei einer Diskussion in die Enge getrieben wird, verschanzt er sich hinter diese gewichtigen Folianten und traktiert uns dergestalt mit holländischer Beredsamkeit, daß wir uns gern auf Gnade oder Ungnade ergeben. Wenn wir es wagen, den geringsten Zweifel über die Beziehung zwischen den Spritzlöchern eines Walfisches und der Weltgeschichte verlauten zu lassen, dann beschuldigt er uns, querköpfige Skeptiker zu sein, die nicht einmal glauben, was gedruckt ist, und obendrein noch in einer holländischen Geschichte! Da jedoch der Kapitän beim Mittagessen die Pastete austeilt, habe ich es für ratsam gehalten, meine Überzeugung in Bezug auf die Zuständigkeit seines teutonischen Geschichtschreibers zu opfern und gegen den unverbesserlichen Ketzer Bush, der über alle Bücherweisheit erhaben ist, auf seine Seite zu treten. Und die Folge davon? Bush erhält nur ein ganz kleines Stück Pastete, und ich bekomme zwei, was für mich ebenso erfreulich, wie es für die Verbreitung gründlicher historischer Gelehrsamkeit vorteilhaft ist!

Bush fängt an, beim Mittagessen größere Ehrfurcht für holländische Geschichtschreibung zu zeigen. 19

 


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