George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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31. Kapitel.

Die Monate April und Mai sind wegen der Länge der Tage und des verhältnismäßig milden Wetters in Nordostsibirien die günstigste Zeit für Arbeiten im Freien und zum Reisen, und da die Schiffe der Gesellschaft vor Anfang Juni nicht in Gischiginsk erwartet werden konnten, beschloß Major Abaza, die Zwischenzeit so gut wie möglich auszunutzen. Sobald er sich deshalb von seinen Reisestrapazen einigermaßen erholt hatte, machte er sich mit Bush, Macrae und dem russischen Gouverneur nach Anadyrsk auf, um daselbst fünfzig bis sechzig Eingeborene als Arbeiter in Dienst und die Errichtung eines Stationshauses und die Zurichtung und Verteilung von Telegraphenstangen längs des Anadyr in Angriff zu nehmen. Meine eigenen Bemühungen zu dem Zweck waren dank der Trägheit der Anadyrsker erfolglos geblieben, aber wir hofften durch den Einfluß und die Mitwirkung der Behörden etwas fertig zu bringen.

Major Abaza kehrte mit der letzten Schlittengelegenheit im Mai zurück. Seine Expedition war von Erfolg gekrönt gewesen; Herr Bush hatte den Oberbefehl über den nördlichen Distrikt von Penschinsk bis zur Behringsstraße erhalten, und er nebst Macrae, Harder und Smith waren für den Sommer in Anadyrsk geblieben. Sobald der Anadyr eisfrei, sollten sie in Kähnen flußabwärts reisen und an der Mündung die Ankunft der Schiffe der 287 Gesellschaft von San Franzisco mit Verstärkungen und Vorräten erwarten. Mittlerweile hatten sie fünfzig eingeborene Arbeiter aus Anadyrsk, Osolkin und Pokorukof zu ihrer Verfügung, und bis der Fluß schiffbar wurde, konnten sie sechs bis acht Stationshäuser und mehrere tausend Telegraphenstangen vorbereitet haben, um sie in Flößen zwischen Anadyrsk und dem stillen Ozean zu verteilen. Nachdem Major Abaza mit den beschränkten Mitteln, die zu seiner Verfügung standen, alles geleistet, was möglich war, kehrte er nach Gischiginsk zurück, um die aus Amerika versprochenen Schiffe mit Leuten, Material und Vorräten zur Fortsetzung des Unternehmens zu erwarten.

Die Zeit zum Reisen in Hundeschlitten war nun vorüber, und da das Land keine anderen Transportmittel besaß, konnten wir vor Ankunft unserer Schiffe weder unser Werk fördern, noch mit den zu Anadyrsk und Ochotsk befindlichen Abteilungen in Beziehung treten. Wir mieteten deshalb ein kleines Blockhaus, welches Aussicht auf das Gischigathal hatte, möblierten es so behaglich wie möglich mit einigen einfachen, hölzernen Stühlen und Tischen, hängten unsere Land- und Seekarten über die rohen Holzwände, stellten unsere Bibliothek, die aus zwei Büchern, dem Neuen Testament und Shakspere, bestand, in einer Ecke auf und richteten uns auf einen Monat wonnigen Nichtsthuns ein.

Es war jetzt Juni. Der Schnee verschwand rasch unter dem Einfluß des warmen, langanhaltenden Sonnenscheins, das Eis im Fluß sah aus, als ob es bald aufbrechen müsse, hie und da an sonnigen Abhängen erschien der unbedeckte Boden, alles deutete auf das baldige Nahen des kurzen, aber heißen arktischen Sommers. In den meisten Teilen Nordostsibiriens verabschiedet sich der Winter im Mai, und der Sommer hält mit raschen Schritten seinen Einzug und bedeckt den Boden, auf dem kaum der Schnee geschmolzen ist, mit Gras und Blumen. Die zarten, wachsähnlichen Blüten der Heidelbeere und Sternblume und die großen, weißen Blütenbüschel des Labradorthees zieren die grünen 288 Moosebenen; Birken, Weiden und Erlen zeigen sich plötzlich im Blätterschmuck; die Flußufer überziehen sich mit weichem Grasteppich und die warme, stille Luft ist den ganzen Tag von dem trompetenartigen Ruf der wilden Schwäne und Gänse erfüllt, die in Schwärmen vom Meere nach dem fernen Norden fliegen. Drei Wochen nach dem Verschwinden des letzten Schnees hat die Natur ihr Sommergewand angezogen und erfreut sich unausgesetzten Sonnenscheines. Dort weiß man nichts von unserem langsam erwachenden, feuchten Frühling, dem allmählichen Entfalten der Knospen und Blätter. Die Vegetation, welche acht lange Monate in eisigen Fesseln geschmachtet, sprengt plötzlich ihre Bande und nimmt mit unwiderstehlicher Gewalt die Welt im Sturme ein. Die Dunkelheit der Nacht ist verschwunden; ein Tag geht fast unbemerkt in den andern über, nach kurzem Zwielicht, das die Kühle und Ruhe der Nacht ohne ihre Finsternis bietet. Bis zwölf Uhr kannst du am offenen Fenster sitzen und lesen, indem du den Blumenduft, der auf den Schwingen eines kühlen Nachtlüftchens zu dir dringt, einatmest, dem Gemurmel der aufspritzenden Wellen des Flusses im Thal lauschest und an der Flut rosigen Lichtes, welche im Norden hinter purpurnen Bergen aufsteigt, den Fortschritt des verborgenen Taggestirnes beobachtest. Es ist helles Tageslicht, und doch liegt die Natur im Schlummer, und ein seltsames, geheimnisvolles Schweigen herrscht zwischen Himmel und Erde, wie bei einer Sonnenfinsternis. Das schwache Rauschen der Brandung an der zehn Meilen entfernten Felsenküste dringt sogar an dein Ohr. Dann und wann träumt ein im Erlendickicht des Flußufers verborgener Singvogel, es sei Morgen, und flötet eine kurze Melodie; aber wenn er erwacht, hält er plötzlich inne, piept wie in Verlegenheit, als ob er nicht recht wisse, ob es Morgen oder gestern Abend, und ob er singen oder schlafen solle. Er scheint sich für letzteres zu entscheiden, und alles versinkt wieder in tiefes Schweigen, außer dem Gemurmel des Baches in seinem felsigen Bett und dem Rauschen der fernen Meeresbrandung. Bald nach ein Uhr erscheint 289 ein glänzender Kreisabschnitt der Sonne zwischen den wolkenähnlichen Gipfeln der fernen Berge; ein plötzlicher Strahl des goldenen Lichtes erleuchtet die grüne, taubedeckte Landschaft; der kleine Sänger im Erlendickicht vollendet triumphierend sein unterbrochenes Lied; die Enten, Gänse und andere Wasservögel erneuern ihren unharmonischen Ruf an den Sumpfstellen des Flusses, und die ganze Natur erwacht plötzlich zum Bewußtsein eines neuen Tages. Nacht ist nicht gewesen, und doch ist ein neuer Tag angebrochen.

Der Reisende, der nie einen arktischen Sommer erlebt, und der gewohnt gewesen, Sibirien als das Land des ewigen Schnees und Eises zu betrachten, kann nur staunen über diese plötzliche wunderbare Entfaltung tierischen und vegetabilischen Lebens und den raschen, in wenigen kurzen Wochen sich vollziehenden Übergang vom Winter zum Sommer. In den ersten Tagen des Juni kann man in der Nachbarschaft von Gischiginsk häufig noch mit Hundeschlitten reisen, während in den letzten Tagen desselben Monates die Bäume in vollem Blätterschmucke prangen, Primeln, Butterblumen, Baldrian, Fünffingerkraut und Labradorthee überall auf den höheren Ebenen und Flußufern blühen, und das Thermometer mittags häufig 70° Fahrenheit im Schatten zeigt. Frühling im gewöhnlichen Sinne giebt es nicht. Das Verschwinden des Schnees und das Erscheinen der Vegetation sind fast gleichzeitig, und obgleich die Tundren oder Moossteppen eine Zeitlang das Wasser halten wie ein Schwamm, sind sie doch mit Blumen und blühenden Heidelbeerbüschen bedeckt und zeigen keine Spur des langen, kalten Winters, der eben erst geendet. In weniger als einem Monat nach dem Verschwinden des Schnees im Jahre 1866 pflückte ich auf einer hoch gelegenen Ebene von ungefähr fünf Acker Ausdehnung, in der Nähe der Gischigamündung, mehr als sechzig verschiedene Arten Blumen. Auch tierisches Leben jeglicher Art entfaltet sich mit gleicher Raschheit. Lange ehe das Eis aus den Buchten und Golfen der Küste verschwunden ist, erscheinen eine unzählige Menge von 290 Zugvögeln vom Meere her. Zahllose Arten von Enten, Gänsen und Schwänen – von denen viele den amerikanischen Ornithologen unbekannt sind – umschwärmen jeden kleinen Teich in den Thälern und auf den niedrig gelegenen Ebenen; Möwen, Fischreiher und Adler lassen an den zahlreichen Flußmündungen fortwährend ihre Stimme erschallen; die felsige, steile Meeresküste wimmelt von zahllosen Millionen rotgeschnäbelter Tauchenten oder Seepapageien, welche ihre Nester in die Spalten und auf die Firste der unzugänglichsten Klippen bauen und beim Knall eines Schusses in solchen Massen auffliegen, daß sie die Luft verdunkeln. Außer diesen Raub- und Wasservögeln giebt es noch viele andere, die nicht so scharenweise beisammen leben und deshalb weniger die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Zu diesen gehören die gewöhnlichen Rauchschwalben, Krähen, Raben, Elstern, Drosseln, Regenpfeifer, Schneehühner und eine Art Haselhuhn, das den Russen als »Tetir« bekannt ist. Soviel ich weiß, giebt es nur einen Singvogel im Lande, eine Art Sperling, welcher die trockneren, grasigeren Ebenen in der Nachbarschaft der russischen Niederlassungen aufsucht.

Das Dorf Gischiginsk, wo wir zeitweise unser Hauptquartier aufgeschlagen hatten, war eine kleine Niederlassung von fünfzig bis sechzig einfachen Blockhäusern am linken Ufer des Gischiga, acht bis zehn Meilen vom Gischigagolf. Es war damals eine der wichtigsten und blühendsten Niederlassungen an der Küste des ochotskischen Meeres und beherrschte den Handel Nordostsibiriens bis an den Anadyr im Norden und das Dorf Ochotsk im Westen. Es war die Residenz eines Lokalgouverneurs, das Hauptquartier von vier oder fünf russischen Kaufleuten, wurde jährlich von einem Regierungsdampfer und mehreren Handelsschiffen, die reichen amerikanischen Häusern gehörten, aufgesucht. Die Bevölkerung bestand hauptsächlich aus sibirischen Kosaken und Nachkommen von unfreiwilligen Emigranten aus Rußland, denen man als Ersatz für ihre gewaltsame Verbannung die Freiheit geschenkt hatte. Wie bei allen 291 andern ansässigen Bewohnern Sibiriens und Kamtschatkas, bestand ihr Hauptnahrungsmittel aus Fisch; aber da das Land sehr reich an Wild ist, und das Klima und der Boden im Thale des Gischiga den Anbau der härtesten Gemüsearten gestattet, war ihre Lage eine weit bessere, als sie in Rußland gewesen wäre. Sie waren vollkommen frei, konnten über ihre Zeit und sich selbst nach Belieben verfügen, und indem sie sich und ihre Hundeschlitten während des Winters an russische Händler vermieteten, verdienten sie Geld genug, um sich das ganze Jahr mit Thee, Zucker und Tabak zu versehen. Wie alle Bewohner Sibiriens, und wie alle Russen, waren sie außerordentlich gastfrei, gutmütig und gefällig und trugen während der langen Monate, die wir in ihrer entlegenen Niederlassung zu verbringen gezwungen waren, nicht wenig zu unserem Behagen und unserer Erheiterung bei.

Die Anwesenheit von Amerikanern in einem so selten von Fremden besuchten Ort wie Gischiginsk übte einen sehr anregenden Einfluß auf die Geselligkeit aus, und sobald die Erfahrung den Bewohnern bewiesen, daß die hohen Gäste es nicht unter ihrer Würde hielten, mit den gewöhnlichen Leuten »prostoi narod« zu verkehren, regnete es Einladungen zu Thee- und Tanzgesellschaften. Vom Wunsche beseelt, das Leben des Volkes kennen zu lernen, und nur zu froh, Abwechselung in unser einförmiges Dasein zu bringen, nahmen wir gern jede Einladung an, und Arnold und ich waren während der Abwesenheit des Majors und des russischen Gouverneurs in Anadyrsk die unermüdlichsten Tänzer. Wir brauchten unsern Kosaken Jagor nicht zu fragen, wann wieder ein Tanzvergnügen stattfinden werde, sondern die Frage lautete: »Wo wird heute Abend getanzt?«, denn daß dies der Fall sein werde, nahmen wir mit Bestimmtheit an und wollten uns nur versichern, ob die Decken des Hauses hoch genug wären, um die Sicherheit unserer Schädel nicht zu gefährden. Der Gedanke, Leute zum Tanzen einer russischen Gigue in ein Zimmer einzuladen, das so niedrig ist, daß ein Mann von Mittelgröße nicht einmal aufrecht darin stehen kann, scheint widersinnig, 292 abgeschmackt, aber: den Vergnügungssüchtigen in Gischiginsk erschien dies durchaus nicht so; Abend für Abend hüpften sie beim Klang einer alten Fiedel und einer zweisaitigen Guitarre mit dem größten Vergnügen in einem sieben Fuß breiten und neun Fuß langen Zimmer herum, traten sich gegenseitig auf die Zehen und stießen ihre Köpfe mit dem erdenklichsten Gleichmut an die Decke. Bei diesen Tanzgesellschaften waren die Amerikaner stets herzlich willkommen und wurden mit Beeren, Schwarzbrot und Thee gefüttert, bis sie nicht mehr essen noch tanzen konnten. Gelegentlich nahm jedoch die sibirische Gastfreundschaft eine Form an, die nicht mehr angenehm war. Dodd und ich erhielten z. B. eines Abends eine Einladung in das Haus eines Kosaken, und wie in solchen Fällen üblich, setzte uns unser Wirt ein einfaches Mahl aus Schwarzbrot, Salz, rohem gefrorenen Fisch und einer kleinen, halbvollen Flasche von irgend einer Flüssigkeit vor, die er für »Wodka« ausgab. Da wir wußten, daß außer den geistigen Getränken, die wir besaßen, keine in der Niederlassung vorhanden, fragte Dodd, woher er den »Wodka« habe. Er erwiderte in offenbarer Verlegenheit, er habe denselben im Herbste von einem Handelsschiff gekauft und für besondere Gelegenheiten aufgehoben. Meiner Ansicht nach gab es in ganz Nordostsibirien keinen Kosaken, der imstande gewesen wäre, eine Flasche Branntwein so lange aufzuheben, und in Anbetracht seines sichtlichen Unbehagens hielten wir es für am besten, diese Erfrischung auszuschlagen und keine weiteren Fragen zu thun. Es mochte »Wodka« sein, aber jedenfalls war er nicht über allen Verdacht erhaben. Nach Hause zurückgekehrt, citierte ich unseren Diener und fragte, ob ihm etwas über den Branntwein des Kosaken bekannt sei, wie er sich denselben verschafft, und woher derselbe zu dieser Jahreszeit stamme, da keiner der russischen Kaufleute denselben im Verlag habe. Der Junge zögerte mit der Antwort, da wir aber in ihn drangen, enthüllte er das Geheimnis. Es scheint, der Branntwein stammte von uns. Wenn einer von den Bewohnern des Dorfes uns besuchte, 293 was häufig geschah, besonders an Feiertagen, pflegten wir ihm ein Gläschen anzubieten. Unser Freund, der Kosak, benutzte diese Gelegenheit, versah sich mit einer kleinen Flasche, hing sie an einem Bande um den Hals, verbarg sie unter seinem Pelzrock und kam in unser Haus, unter dem Vorwande, uns zu dem einen oder andern russischen Feitertage zu gratulieren. Natürlich mußten wir diese uneigennützige Freundlichkeit mit einem Schnäpschen belohnen. Der Kosak pflegte, so viel er konnte, von dem Feuerwasser hinunterzuschlucken, dann so viel wie möglich davon in den Mund zu nehmen, schreckliche Grimassen zu schneiden, sein Gesicht mit der Hand zu bedecken, als ob der Branntwein sehr stark wäre, und nach der Küche zu laufen, als ob er Wasser trinken wolle. Sobald er sich der Beobachtung entzogen, nahm er seine Flasche heraus, deponierte in derselben den letzten Schluck Wodka, den er noch im Munde hatte, und kehrte zurück, um uns für unsere Gastfreundschaft zu danken. Dieses Manöver hatte er, ich weiß nicht wie lange, auf unsere Kosten ausgeführt und beinah eine Pinte angesammelt. Dann hatte er die Unverfrorenheit, uns diesen halbverschluckten Wodka in einem alten Fläschchen vorzusetzen und zu behaupten, er habe denselben seit Herbst für eine feierliche Gelegenheit aufgespart. War das nicht eine empörende Unverschämtheit?

Ich will noch einen Zwischenfall erzählen, der sich während des ersten Monats unseres Aufenthalts in Gischiginsk zutrug, und eine andere Seite des Volkscharakters beleuchtet, nämlich großen Aberglauben. Als ich eines Morgens allein im Hause beim Thee saß, wurde ich durch das plötzliche Eintreten eines russischen Kosaken, Namens Kolmagorof, unterbrochen. Er schien wegen irgend etwas außerordentlich ernst und unruhig zu sein, und nachdem er sich verbeugt und mir guten Morgen gewünscht hatte, wandte er sich an unseren Kosaken Wuschin und erzählte ihm mit leiser Stimme etwas, das sich zugetragen und das beiden großes Interesse einzuflößen schien. Da ich der Sprache nur unvollkommen mächtig war, und die Unterhaltung leise geführt wurde, 294 entging mir die Hauptsache, aber sie schloß mit der ernsten Bitte, Wuschin möge Kolmagorof irgend ein Kleidungsstück überlassen, so viel ich verstand ein Umschlagetuch oder eine Pelerine. Wuschin ging an einen kleinen Schrank in einer Ecke des Zimmers, wo er seine persönlichen Effekten aufzuheben pflegte, zog eine große Tasche aus Seehundsfell heraus und suchte darin nach dem gewünschten Gegenstande. Nachdem er drei oder vier Paar Pelzstiefel, einen Klumpen Talg, Strümpfe aus Hundefell, ein Beil und ein Bündel Eichhörnchenfelle herausgezogen, hielt er schließlich die Hälfte einer alten schmutzigen, mottenzerfressenen wollenen Pelerine triumphierend in die Höhe, übergab sie Kolmagorof und fing an, nach der anderen Hälfte zu suchen. Auch diese ward gefunden, wenn möglich, in noch schlimmerem Zustande als die erste. Sie sahen aus, als ob sie aus dem Sack eines armen Lumpensammlers kämen, der sie irgendwo aus einer Gosse aufgelesen. Kolmagorof band die beiden Stücke zusammen, wickelte sie sorgfältig in eine alte Zeitung, dankte Wuschin für seine Mühe, grüßte mit offenbar erleichtertem Herzen und entfernte sich. Neugierig, welchen Gebrauch er von dem abgetragenen, schmutzigen und zerrissenen Kleidungsstück machen könne, bat ich Wuschin um Aufklärung des Geheimnisses.

»Wozu wollte er den Kragen haben?« fragte ich; »er ist doch zu nichts mehr zu gebrauchen.«

»Ich weiß,« erwiderte Wuschin, »es ist ein schlechter, alter Lappen, aber es ist kein anderer im Dorfe, und seine Tochter hat die »Anadyrski bol (Anadyrsker Krankheit).«

»Anadyrski bol!« wiederholte ich mit Erstaunen, da ich nie von dieser Krankheit gehört; »was hat die Anadyrski bol mit einem alten Kragen zu thun?«

»Nun, seine Tochter hat eine Pelerine verlangt, und da sie die Anadyrsker Krankheit hat, müssen sie ihr eine zu verschaffen suchen. Es schadet nichts, daß sie alt ist.«

Das war denn doch eine sonderbare Erklärung für 295 einen eigentümlichen Vorfall, und ich befragte Wuschin eingehender über diese seltsame Krankheit, und wieso ein alter, mottenzerfressener Kragen dem Patienten Erleichterung verschaffen könne. Die Auskunft, die ich erhielt, war kurz folgende. Die »Anadyrski bol«, sogenannt, weil dieselbe in Anadyrsk entstanden, war eine eigentümliche Krankheitserscheinung, welche der modernen spiritistischen Verzückung, die lange in Nordostsibirien an der Tagesordnung gewesen, sehr ähnlich sah, und allen gewöhnlichen Arzneimitteln und Behandlungsmethoden Trotz bot. Die von derselben ergriffenen Personen, gewöhnlich Frauen, wurden bewußtlos, besaßen plötzlich die Fähigkeit, Sprachen zu sprechen, die sie nie gehört, und vorübergehend eine Sehergabe, welche sie Dinge genau beschreiben ließ, die sie nie geschaut, und die sich nicht in ihrer Umgebung befanden. In diesem Zustande verlangten sie häufig irgend einen besonderen Gegenstand, von dem sie genau angaben, wie er aussah, und wo er war, und wenn sie denselben nicht erhielten, bekamen sie Krämpfe, sangen in fremden Sprachen, stießen seltsame Töne aus und betrugen sich, als ob sie wahnsinnig wären. Nichts konnte sie beruhigen, bis der fragliche Gegenstand herbeigebracht wurde. Kolmagorofs Tochter hatte ausdrücklich eine wollene Pelerine verlangt, und da der arme Kosak nichts Derartiges besaß, hatte er versucht, im Dorfe eine zu entdecken. Dies war alles, was mir Wuschin berichten konnte. Er hatte nie eine der besessenen Personen gesehen, sondern nur von andern über die Krankheit gehört, sagte aber, von Paderin, dem Befehlshaber der Gischigjinsker Kosaken, könne ich Genaueres darüber hören, da dessen Tochter denselben Zustand gehabt habe. Erstaunt bei den unwissenden Bauern Nordostsibiriens eine Krankheit zu finden, deren Symptome den Erscheinungen des modernen Spiritismus so nahe verwandt waren, beschloß ich, der Sache auf den Grund zu gehen, und sobald der Major nach Hause zurückkehrte, ersuchte ich ihn, Paderin holen zu lassen. Der Kosakenbefehlshaber – ein einfacher, ehrlicher Mensch, den man 296 absichtlicher Täuschung ganz und gar nicht für fähig halten konnte, – bestätigte alles, was Wuschin gesagt, und fügte noch mehr hinzu. Er teilte uns mit, er habe in diesem Zustand häufig seine Tochter eine fremde Sprache reden hören, und sie hätte mitunter Ereignisse erzählt, die sich an Orten, die mehrere hundert Meilen entfernt, abspielten. Als der Major fragte, was für eine Sprache seine Tochter spreche, erwiderte er, er wisse es nicht, aber es sei weder Russisch, noch Korjäkisch, noch irgend eine andere Sprache von Eingeborenen, mit denen er vertraut sei. Ich erkundigte mich, was geschehe, wenn die Kranke einen Gegenstand verlange, den man unmöglich herbeischaffen könne. Paderin antwortete, von einem solchen Falle sei ihm nichts bekannt: wenn der Gegenstand ein ungewöhnlicher sei, gebe das Mädchen immer an, wo er sich befinde – indem sie häufig mit der größten Genauigkeit Dinge beschreibe, die sie, so viel er wisse, nie gesehen haben könne. Einmal habe seine Tochter einen eigentümlich gefleckten Hund verlangt, der zu seinem Gespann gehörte. Der Hund sei gebracht worden, und das Mädchen habe sich beruhigt; aber der Hund sei von der Zeit an so wild und aufgeregt, ja geradezu unlenksam gewesen, daß er ihn schließlich habe töten müssen. »Und das Zeug glauben Sie?« rief der Major ungeduldig, und Paderin hielt zögernd inne und sagte dann: »Ich glaube an Gott und unseren Heiland Jesus Christus,« indem er das Kreuz schlug.

»Das ist ganz recht, das sollen Sie auch,« versetzte der Major; »aber das hat zu der »Anadyrski bol« doch keine Beziehung. Glauben Sie wirklich, daß diese Frauen eine Sprache sprechen, die sie nie gehört, und Dinge beschreiben, die sie nie gesehen haben?«

Paderin zuckte bedeutungsvoll mit den Schultern und sagte, er glaube, was er sehe. Dann erzählte er uns noch weitere, unglaubliche Einzelheiten von den Symptomen der Krankheit und den geheimnisvollen Kräften, welche sie in den betroffenen Personen erzeuge, indem er seine Behauptungen durch Beispiele von dem Zustande seiner eigenen Tochter erläuterte. Er glaubte 297 offenbar fest an die Wirklichkeit der Krankheit, wollte aber nicht sagen, welcher Macht er das Phänomen der Hellseherei und das Reden in fremden Sprachen zuschreibe, welche ihre bemerkenswertesten Symptome waren.

Im Lauf des Tages besuchten wir den Isprawnik, erwähnten in der Unterhaltung die »Anadyrski bol« und berichteten einige der Geschichten, die Paderin uns erzählt hatte. Der Isprawnik – überhaupt eine skeptische Natur, und besonders in Hinsicht auf diese Sache – sagte, er habe öfters von der Krankheit gehört, und seine Frau glaube fest daran, aber er halte sie für Humbug, der wohl am besten mit körperlicher Züchtigung zu überwinden sei. Seiner Meinung nach waren alle russischen Bauern abergläubisch und imstande, geradezu alles für wahr zu halten, und die »Anadyrski bol« sei teils Wahn, teils ein Betrug, dessen sich die Frauen zur Förderung selbstsüchtiger Zwecke gegen ihre Männer schuldig machten. Eine Frau, die sich einen neuen Hut wünsche und denselben durch Quälen auf gewöhnlichem Wege nicht erlangen könne, gerate als letztes Hilfsmittel in Verzückung und fordere den Hut als physiologische Notwendigkeit. Bleibe der Mann noch halsstarrig, dann genügten einige gut ausgeführte Zuckungen und ein oder zwei Lieder in der sogenannten fremden Sprache, um ihn zum Nachgeben zu zwingen. Dann erzählte er ein Beispiel von einem russischen Kaufmann, dessen Frau einen Anfall der »Anadyrski bol« hatte, und der eine Winterreise von Gischiginsk nach Tomsk machte – eine Entfernung von 300 Werst – um ein seidenes Kleid einzukaufen, das sie verlangt hatte, und das anderswo nicht zu haben war. Natürlich verlangen die Frauen nicht immer Dinge, von denen man glauben könne, sie wollten sie sich zum Gebrauch in gesunden Tagen verschaffen; denn dies würde bald den Verdacht der getäuschten Gatten, Väter und Brüder erregen und zu unangenehmen Nachforschungen führen, wenn nicht zu noch unangenehmeren Experimenten über den Charakter der geheimnisvollen Krankheit. Um dies zu vermeiden 298 und die Männer über die wahre Natur des vermeintlichen Wahnes zu täuschen, verlangen die Frauen häufig Hunde, Schlitten, Äxte und ähnliche Dinge, von denen sie keinen Gebrauch machen können, um so ihren leichtgläubigen Verwandten weis zu machen, daß ihre Forderungen nur von den Launen der Krankheit eingegeben sind und keinen bestimmten Zweck haben.

Dies war die rationalistische Erklärung des Isprawnik von dem seltsamen Wahn, der als »Anadyrski bol« bekannt war, und obgleich dieselbe mehr Schlauheit seitens der Frauen und mehr Leichtgläubigkeit seitens der Männer voraussetzte, als ich beiden Geschlechtern zutraute, mußte ich doch zugeben, daß die Erklärung sehr plausibel war und die meisten Erscheinungen genügend begründete.

Angesichts dieser weiblichen Strategie müssen unsere amerikanischen Frauen zugeben, daß ihre sibirischen Schwestern größeren Scharfsinn entwickeln, um ihre Rechte zu erlangen und ihren Herren und Gebietern Sand in die Augen zu streuen, als alle für Frauenrechte Kämpfenden in der Christenheit. Eine eingebildete Krankheit mit solch eigentümlichen Symptomen zu erfinden, sie als Epidemie in einem ganzen Lande zur Geltung zu bringen, sie als Hebel zu benutzen, damit die Geldtaschen der Männer sich öffnen, um weibliche Bedürfnisse zu befriedigen, das ist der größte Triumph, den weibliche Findigkeit über männliche Dummheit davongetragen!

Die Enthüllungen des Isprawnik brachten eine sehr eigentümliche Wirkung auf Dodd hervor. Er erklärte, er fühle bereits die ersten Symptome der »Anadyrski bol« und sei überzeugt, daß er zum Opfer dieser tückischen Krankheit ausersehen. Der Major möge nicht erstaunt sein, wenn er ihn eines Tages in starken Zuckungen finde, und ihn »Yankee Doodle« in fremder Sprache singen und seine rückständige Zahlung verlangen höre. Der Major versicherte ihn, in diesem verzweifelten Falle würde er sich genötigt sehen, zum Mittel des Isprawnik seine Zuflucht zu nehmen, nämlich zu zwanzig 299 Streichen auf den bloßen Rücken, und riet ihm, die Zuckungen zu vertagen, bis der Schatzmeister der sibirischen Abteilung in der Lage sei, seinen Forderungen gerecht zu werden.

Unser Leben in Gischiginsk zu Beginn des Juni war mit dem der ersten sechs Monate gar nicht zu vergleichen. Das Wetter war im allgemeinen warm und angenehm; Hügel und Thäler waren mit üppigem Grün bedeckt; das Tageslicht nahm kein Ende, und wir hatten nichts zu thun, als nach Wild umherzuschweifen, gelegentlich an die Mündung des Flusses zu rudern, um nach Schiffen auszuschauen, und allerlei Vergnügungen zum Zeitvertreib auszusinnen.

Die Nacht war der beste Teil des Tages, aber die fortwährende Helle kam uns noch seltsamer vor, als die immerwährende Finsternis im Winter. Wir konnten nie zu unserer Zufriedenheit entscheiden, wann ein Tag zu Ende ging, und ein anderer anfing, oder wann es Zeit war, schlafen zu gehen. Es schien so lächerlich, sich zur Ruhe zu begeben, ehe die Sonne untergegangen war, und doch, wenn wir es nicht thaten, ging sie sicher wieder auf, ehe wir eingeschlafen waren, und dann schien es gerade so widersinnig im Bette zu liegen. Wir ließen schließlich an all unseren Fenstern dichte, hölzerne Läden anbringen, steckten Lichter an und machten uns selber weis, es sei Nacht, obgleich im Freien die Sonne in vollem Glanze strahlte. Wenn wir erwachten, harrte unser eine neue Schwierigkeit. Waren wir heute oder gestern zu Bett gegangen? Und was ist jetzt? Heute, gestern, morgen zerflossen ineinander, es war uns geradezu unmöglich, dieselben von einander zu unterscheiden. Ich entdeckte oft, daß ich innerhalb vierundzwanzig Stunden zweimal in mein Tagebuch geschrieben hatte, unter dem irrtümlichen Eindruck, daß zwei Tage vorüber seien.

Sobald der Gischigagolf ziemlich eisfrei geworden, ließ Major Abaza eine Anzahl Kosaken an der Flußmündung stationieren mit dem Befehl, Tag und Nacht 300 nach Segeln auszuschauen und uns von deren Erscheinen sofort Mitteilung zu machen.

Am 18. Juni lief die Handelsbrigg »Hallie Jackson« von W. H. Bordman in Boston in den Golf ein und kam, sobald es die Flut gestattete, den Fluß herauf, um ihre Ladung zu löschen. Dieses Schiff brachte uns seit mehr als elf Monaten die ersten Nachrichten von der Außenwelt, und seine Ankunft wurde sowohl von Russen wie von Amerikanern mit der größten Begeisterung begrüßt. Sobald sich die Kunde verbreitete, daß ein Schiff angekommen sei, eilte die halbe Bevölkerung an die Flußmündung, und der Hafen war mehrere Tage lang der Schauplatz ungewohnter Thätigkeit und Aufregung. Die »Jackson« wußte von den Schiffen unserer Gesellschaft nur zu berichten, daß im März, als sie San Franzisco verlassen, dieselben in aller Eile Ladung eingenommen und zur Seereise hergerichtet worden. Sie brachte uns übrigens alle Vorräte, die wir im Herbst in Petropawlowsk zurückgelassen, und eine große Ladung Thee, Zucker, Tabak und verschiedene Tauschmittel für den Handel in Sibirien.

Die Erfahrung hatte uns gelehrt, daß außer in den Niederlassungen Ochotsk, Gischiginsk und Anadyrsk Geld als Zahlung für von den Eingeborenen geleistete Dienste nicht verwandt werden konnte; daß Thee, Zucker und Tabak in jeder Hinsicht vorzuziehen seien, weil im ganzen Lande starke Nachfrage nach diesen Artikeln war, und dieselben im Winter sehr im Preise stiegen. Ein Arbeiter oder Hundeschlittenbesitzer, der für seine monatlichen Leistungen zwanzig Rubel in Münze verlangte, war, wenn wir ihm statt dessen acht Pfund Thee und zehn Pfund Zucker gaben, sehr befriedigt, und da uns dies nur zehn Rubel kostete, sparten wir die Hälfte. In Anbetracht dieses Umstandes beschloß Major Abaza, so wenig Geld wie möglich zu verwenden und immer seine Zahlungen in Waren zu machen. So kaufte er von der »Jackson« zehntausend Pfund Thee und fünfzehn- bis zwanzigtausend Pfund Zucker, die er in 301 Regierungsmagazinen aufbewahrte, damit sie im folgenden Winter als Geld dienen könnten.

Die »Jackson« lud alle für Gischiginsk bestimmten Waren aus und segelte, sobald die Wasserverhältnisse es gestatteten, nach Petropawlowsk ab. Wir waren wieder allein. 302

 


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