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29

Trauer erfüllte mein Herz. Eine schwere, tiefe Trauer, sie erfüllte mein Herz, stieg bis in den Hals, die Augen, ich dachte, es würden Tränen aus meinen Augen fallen, sobald ich den Kopf neigte. Deshalb neigte ich ihn nicht, ich ging aufgerichtet einher.

Das war der Herbst. Das Laub färbte sich, es war als schicke die Erde ihr Blut in die Äste, auszublicken, auszuspähen, da der lange Winterschlaf kommen sollte, wo sie nichts mehr wußte. Der Wind wehte, und das Laub fiel. Zuerst von den obersten Ästen, dann bis tief herunter. Die Bäume standen kahl, nackt, sie grämten sich, sie verzweifelten, sie resignierten. Sie lächelten in der matten Sonne, wie Sterbende lächeln. Es gab einzelne Blätter, die sich verzweifelt wehrten und nicht fallen wollten. Aber der Wind riß und riß und endlich riß er sie doch los und warf sie roh triumphierend in die Luft. Und mir war es, als höre ich die flatternden Blätter schreien. Die Vögel sammelten sich, sie schrien, lärmten und eines Tages schwangen sie sich in die Höhe und zogen fort.

Es wurde stiller, stiller. Auch die Grille zirpte nicht mehr des Nachts. Es war ein Weinen im Walde, ein unterdrücktes Schluchzen irrte in der Mitte des Waldes.

Von den Kastanien vor dem Hause fielen die Blätter, es knallte, eine Frucht zerplatzte auf den Stufen. Nun hingen nur noch einige Blätter daran, sie sahen aus wie verkrümmte, vertrocknete Hände. Das Haus stand kahl da, nackt, geschoren, bloßgestellt, es war größer geworden, größer und öder.

Das ganze Tal machte den Eindruck eines Zimmers, dem man Vorhänge, Teppiche und Bilder genommen hat.

Schmutziggraue Wolken schleppten sich über das Tal. Ich dachte an die schaumigen, weißen Wolken des Sommers, die über den blauen Himmel schwebten, Verzierungen gleichsam, ein Schmuck des Sommers. Ich dachte an den Herbst im vorigen Jahre, der mein Herz entzündet hatte mit seiner Glut, seinem Stolze, seinem jauchzenden Tode.

Ich war traurig, ich empfand nichts mehr, keine Farben, keine Gluten, es war auch alles schmutzig, müde, es war ein Herbst, der einen häßlichen, feigen Tod starb.

Ich ging durch den Park, der ganz ohne Laut dalag. Es war ein Friedhof, in dem ein großer Toter schlummerte. Ich kam vorüber an der Statue, dem Brunnen, an der Grotte stand ich ein Weilchen still. Der Tropfen fiel. Ich ging durch das Pförtchen hinaus in den Wald. Da war ein Pfad und ich lächelte und sagte: »Hier gingst du, gütige Ingeborg, in jenen Nächten –«

Ich sagte es mit sanfter Stimme und es tat mir wohl, es recht gütig zu sagen, als höre es Ingeborg, die Gute.

Ich legte die Handfläche an den Boden und streichelte ihn. Vielleicht huschte hier Ingeborgs Fuß darüber? Man kann es nicht sagen. Ich fand einen Kiesel, der in den Pfad getreten war. Vielleicht hatte Ingeborgs Fuß ihn in den Pfad getreten? Sollte ich ihn mitnehmen? Nein.

Aber ich wandte doch um und nahm ihn mit.

Vielleicht? Niemand kann es sagen.

Heilige Erde, heiliges Land, heiliger Wald! Ich kniete nieder und küßte den Boden des Waldes. Heiliges Land, hier wandelte ihr Fuß! heilige Bäume, an euch ging sie vorüber!

Und die Bäume, die der Herbst geschändet hatte, wiegten sich traurig hin und her und klagten leise. Sie trauerten mit mir und der ganze Wald flüsterte Ingeborgs Namen. Ich ging durch den Wald und lauschte. Es tat wohl, daß alles mit mir trauerte.

Ich erschrak, sah ich einen Stein, auf dem wir saßen, ich erschrak, sah ich einen Baum, den wir beide kannten. Ich freute mich, ich litt.

O hört, ich fand eine hohe, ernsthafte Edeltanne im Walde, worunter wir einst saßen, als es regnete. Ingeborg lugte aus dem Versteck hervor und haschte mit dem Munde nach Regentropfen. Ich liebe die kleinen Regentropfen, sagte sie. Und dann zählte sie alles auf, was sie liebte, während der Regen herabströmte und wir unter einem Wasserfall saßen.

Ich liebe die kleinen Regentropfen, Axel, ja. O, ich liebe Wind und Wetter, ich liebe Hagelschlag und Schnee, ich liebe die Sonne über alles, die Wolken, die Bäume und das Rauschen der Bäume, ich liebe über alles die Vöglein und ganz besonders die Johanniswürmchen, auch die Blitze, sie lachen mich ja an, und dich, dich, Axel, dich mehr als alles, alles, mehr als tausend Sonnen und mehr als alle Sternennächte und das wildeste Gewitter –

Ich ging vorüber an der Edeltanne und lächelte, aber ich mußte den Kopf zurückbeugen.

Es sang kein Vogel mehr im Walde, nein.

Ich ging bis an Graf Flüggens Schloß, sah das Tor mit den bemoosten Löwen, die die Wappen hinhielten, ich ging durch unser Birkenwäldchen, ich kam an unseren Apfelbaum. Kahl stand er. Braune, lederne Blätter baumelten an den Stielen. Im welken Grase lagen verfaulte Früchte.

Einst, im lichten Frühling, da schüttelte ich ihn und es fielen die Blüten über einen goldenen Scheitel – –

Ich ging auf die Höhe, wo die Bank stand. Das Tal lag da wie durch gelbes Glas gesehen. Welk und müde und leuchtend, wie das Antlitz eines Sterbenden, das ein eigentümliches Licht ausstrahlt. Die Wiesen waren braun und sumpfig, Herbstzeitlosen standen darauf. Die Gruben waren mit welkem Laube gefüllt, sie waren Gräber, der Sommer lag darin, Hoffnung und Freude des Sommers und sein Duft. Neben der Bank stand eine Distel, sie sah aus wie der graue Kopf eines alten, schmutzigen Weibes mit gesträubten Haaren. Die Felder waren gemäht. Die Stoppeln taten mir weh, es war mir, als ginge ich mit nackten Füßen über die Stoppelfelder. Ich dachte an den Frühling, da die Saat aufging, so jung so grün, sie kitzelte mein Herz, und dann, wie es wuchs und sie die grünen Fahnen aussteckte und schwenkte vor Freude. Dann kam die Zeit, da das Tal wie in einer großen Pfanne briet und jeder Punkt der Luft zu singen begann, da wurde der Weizen blinkend wie Messing und das Korn rot wie das Fell des Fuchses. Das war ein Grüßen und Nicken und Verneigen, wenn wir durch die Felder gingen! Und die Grillen zirpten in den Feldern, das klang als wären tausend winzige Schmiede tief in der Erde beschäftigt, feines Silber zu hämmern. Dann kamen die schlimmen Tage, die Sichel rupste und rauschte und eines Tages lagen die Ähren da, gefällt, steif, auf dem Gesichte, wie erschossene Soldaten. Das schmerzte uns beide sehr.

Ich stand im Winde, die Feder auf meinem Hute schnurrte, mitten im kahlen Herbste, und dachte an den Sommer und die Stoppeln schmerzten mich, wie Krüppel kamen sie mir vor.

Ich ging weiter.

Ich ging umher, besuchte alle Bänke, Steine, Lichtungen, die von Erinnerungen umschwebt waren. Es gab viele heilige Orte im Walde, solche, die ich nicht betrat, ich sah sie nur aus der Ferne an. Schwermütige Geheimnisse waren in meiner Brust.

Meine gewöhnlichen Wege waren das.

Dann wurde es dunkel, die Sonne verschwand bald und nach kurzem Abschiede hinter den Bergen.

Es war Herbst, Herbst. Der Wind wehte kalt. Gewiß würde es bald dunkel und kalt sein auf der Welt, auf lange, lange Wochen. Alle Dinge froren schon, die den Winter ahnten und die finsteren Nächte.

Es war lange bis zum Frühling.

Ich blickte in den Wald hinein, der braunschwarz in der Tiefe war. Ach, traurig sah es da drinnen wohl aus. Und ich dachte – wie ich darauf kam, weiß ich nicht – ich dachte – so kann es wohl sein: Unter einem faulen Pilz, da sitzt ein Zwerg im finstern Walde und er flickt zähneklappernd den Wintermantel aus Maulwurfspelz. Eine Schnecke leuchtete ihm.

Ich werde sterben, klagt die Schnecke.

Ich werde leben, erwidert der Zwerg und seine Zähne klappern. Ihr Schnecken habt es gut! Es ist lange bis zum Frühling!

Ich trat ins Haus. Vielleicht war auch ein Zwerg im Walde, ein grauer, müder Zwerg, der sich eigenhändig in die Erde einschaufelte.

Es war so stille im Hause und überall schien einer zu stehen, der etwas sagen möchte. Ich pfiff.

Eine Tür öffnete sich und der kahle Kopf der alten Maria erschien kugelrund in der hellen Spalte.

»Ich bin es,« rief ich laut. »Hat man die Zeitungsannonce wegen Pazzos besorgt?«

»Ja, Herr.«

»Dann ist es gut. Er wird nun bald kommen, unser guter Pazzo. Haha. Gute Nacht, Mütterchen!«

»Gute Nacht auch, Herr.«

Nun kam die Nacht, die lange Nacht.

Ich schlief sehr wenig in diesen ersten Wochen. Ich saß in der Bibliothek und las. Ich spielte Klavier. Da kam dann Ingeborg aus allen Tönen, in allen Gebärden, es war schön, aber oft mußte ich aufhören.

Ich saß auf dem Fenstersims in den weißen Zimmern und wartete auf den Morgen. Ingeborg war um mich.

Ein Duft von Waldmeister war in den weißen Zimmern, er war mir früher nie so stark aufgefallen. Am Morgen, da wohnte die Frühsonne darin. Es tummelten sich Milliarden blitzender Fünkchen in den weißen Räumen, sie flogen mir in die Augen, so daß ich sie geblendet schließen mußte. Nachts da zitterte ein gespenstisches, mattes Licht über allen Dingen und die welken Sträuße in den Vasen und Krügen begannen zu duften. Ihr Geruch war der Geruch der Vergangenheit, man wußte: hier hat jemand gewohnt. Entblätterte Rosen lagen auf dem Boden, gelber Blütenstaub auf der Tischdecke. Ein feiner Geruch von Ingeborgs Gewändern und ihrem Nacken, ihren Haaren schwebte aus den toten Möbeln. Ich saß auf dem Fenstersims, im blauen Mondlicht und plauderte mit ihr. Ganz wie einst. Wir führten Gespräche und ich ahmte Ingeborgs Stimme nach, so gut es ging. Wir führten mitunter scherzhafte Gespräche, ich stellte mich ungeschickt, unwissend. Wir lachten. Wir plauderten.

Der Mond geht auf, ich sage:

»Der Mond ist ein Brief von Silber, den die Sonne an die Erdenkinder schreibt, weil sie verreist ist, Ingeborg.«

Alte Worte.

»Soll ich dir den Mond schenken, Ingeborg?«

Ingeborg lacht. »Ich schenke dir die Schmetterlinge von hundert Sommern, Axel. Willst du?«

Alte Worte.

Zuweilen schauere ich zusammen. Es ist so stille in den weißen Zimmern und ich spreche mit einem Gespenste.

Ich schlich herum in diesen Zimmern, schlich, flüsterte.

Ich betastete die Möbel. Es gab ein Kissen, in dem zuletzt ihr Kopf geruht hatte. Man sah es – – –

Diese Zimmer zogen mich immer wieder und wieder an! Hier war ihre Stimme, ihr Gesang! Oft fingen die Zimmer ganz deutlich zu singen an. Die Türe, die zum Schlafzimmer führte, stand halb offen, sie schien sich zu bewegen und noch leise zu knarren. Ich entdeckte Spuren ihrer Schritte auf den Teppichen, ich fand ein Löschblatt, auf das ein Tannenbaum gekritzelt war, eine Kuh, ein Monogramm, geflochten aus A und I. Auf einem Tische lag ein Buch Karls, viele Stellen waren mit feinen Strichen angemerkt. Ich fand auch ein goldenes Haar zwischen zwei Seiten. Wie erschrak ich da, als ich ganz plötzlich dieses goldene Haar fand!

Ich hatte es vielleicht geküßt, ja sicherlich, es war um meinen Nacken geschlungen gewesen. Diesen ganzen Tag wühlte ich in goldenen Haaren, ich badete mich darin, ich ließ sie über mein Gesicht streichen.

Ich fand eine Stelle in Karls Buch, die Ingeborg angestrichen hatte. Sie hieß: Wir sahen uns an. Deine Seele umschlang die meinige und sie wollten sich nicht mehr lassen und doch standen wir viele Schritte voneinander entfernt. Dann gingst du. Auch ich ging. Wahrhaftig, wie zwei Fische im Meer zogen wir aneinander vorüber. Das ist Menschenart.

Ich hörte Ingeborg seufzen. Ich entfloh.

Es sang in der Nacht. Herrlich sang es. Ich erwachte und lauschte. Die Stimme entfernte sich. Ich lächelte und preßte die Hände auf das Herz. – – –

In einer Nacht, da bellte ein Hund vor dem Hause. Ich sprang aus dem Bette. War es Pazzo? Nein, es war nichts zu sehen. Nun heulte es ganz tief im Walde. Ich kleidete mich an und lief in den Wald hinein. Ich pfiff.

Nichts regte sich als das Geräusch der fallenden Blätter.


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