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27

Nun ist Ingeborg fort. –

Ich sehe einen Mann, der die Stufen zum Hause emporsteigt. Er steigt und steigt, wieviele Stufen sind es doch? Er blickt nicht zurück. Er steht vor der Türe, öffnet sie, sie ist schwer. Er blickt nicht zurück. Er verschwindet im Hause. Er steigt die Stiege empor, er geht den langen weißen Korridor entlang. Er bleibt stehen, die Augen fallen ihm zu.

Dieses ist ein Mann, der alles was er besaß, verlor. Er erblaßt. Es sind zwei Worte an eine weiße Türe gekritzelt. Er sieht über sein Zimmer. Es ist sein Zimmer. Da sieht er nun, sieht in sein Zimmer und wagt es nicht, es zu betreten. Er wagt es nicht, nein! Dieses Zimmer ist leer, leer.

Schreien, lachen, niederstürzen? Wie? Nein, nichts von alldem. Ein Zittern in den Händen, ein Beben der Knie, das ist alles. Verzweifelte Gebärden in mir, tief in mir. Wirre, jagende Bilder in meinem Kopfe, sie zerbrechen, andere kommen, zerbrochene. Sie zerbrechen.

Ich setze mich in einen Stuhl. Ich lächle.

Ich habe einen Geschmack auf den Lippen. Adieu, adieu. Ich nehme Abschied. Tautropfen, bittende Augen, eine nackte Hand. Eine Stimme.

Sie schwebt über mir wie Gesang. Ich verneige mich vor der Stimme. Ich lächle. Ich stehe auf dem Trittbrett und lege meinen Arm um Ingeborg.

Wie verzweifelt das Lächeln hin und her irrte auf ihrem Antlitze? Und ihre Augen, die segneten, segneten! Gelobet seist du in alle Ewigkeit, Ingeborg! Ich liebe dich.

Mein Herz krampft sich zusammen, es wird dunkel in meinem Kopfe. Ja, nun ist sie fort. Ich habe alles verloren, was ich besaß.

Ich stehe auf. Es dreht mich im Kreise. Vor meinen Augen wird es schwarz. Soll ich niederstürzen? Dürfte ich es doch! Ein klein wenig. Einmal zusammenbrechen, schreien, eine Sekunde nur. Nein, ich tue es nicht, ich stehe aufrecht, ich kämpfe. Ich beginne zu wandern. Meine Wanderung beginnt.

Sie dauerte Wochen, Monate, nun begann sie.

In den Wald? Nein, da ist sie. Vielleicht gar in die weißen Zimmer? Wohin? In den Keller? Da ist sie auch.

Was ich gewesen bin, was ich war, was ich sein konnte, Sonne, Glück, Schönheit, Reichtum. Alles verloren. Vorbei das Wandeln.

Nein, ich brach nicht zusammen, ich schluchzte nicht, ich grub nicht die Nägel in die Schläfen. Das ist nicht wahr, ich tat es nicht. Ich zerriß ein Taschentuch in Streifchen, das tat ich, ja, das!

Ich wanderte. Wenn ich nur gehen durfte.

Auf der Straße waren die Spuren von Rädern und Hufen zu sehen. Fußspuren. Ich entdeckte meinen Schuhabdruck, ich entdeckte ihren Schuhabdruck. Ich sah ihn an. Ich fühlte beobachtende Gesichter hinter mir, deshalb ging ich. Morgen würde man diese Spur im Staube nicht mehr sehen. Sie hat sich in mein Gedächtnis eingegraben, oft träumte ich von der Spur im weißen Staube. Ich ging in den Wald, stand stille. Adieu, adieu, immerzu nahm ich Abschied. Ich ging zurück ins Haus, kam wieder zum Vorschein, stand wieder bei der kleinen Spur im Staube.

Der Wagen kam von der Station zurück. Der Kutscher sprang vom Bock und ein Knecht kam und spannte die Pferde aus.

Ich fragte den Kutscher: »Wo ist Pazzo?«

Der Kutscher hatte ihn nicht mehr gesehen. An der Station sah er ihn zum letztenmal. Weiß der Teufel wo der Hund steckt. Ja, weiß der Teufel – haha!

Dieser Wagen war fürchterlich leer. Ein elender Anblick war dieser leere Wagen. Glatt waren die Polster, nichts war auf den Polstern zu sehen.

Ein Knecht kam mit der Bürste.

»Laß es. Schiebe den Wagen in die Remise. Eine Decke darüber, so wie er ist. Der Wagen ist altmodisch, ich habe einen neuen bestellt.«

Ich trat ins Haus.

»Daß du mir etwas Ordentliches kochen läßt, Mütterchen,« sagte ich zur alten Maria. »Ich habe einen schrecklichen Hunger, bin heute früh aufgestanden.«

Die alte Marie hatte etwas auf dem Herzen. Man sah es gleich an der Art, wie sie sich umwendete.

»Sprich nur.«

Auf wielange die Herrin fortreise?

Das könne man nicht so genau sagen. Vielleicht einen Monat, vielleicht ein Jahr. Sie sei nach Paris gereist.

»Nach Paris?«

»Ja, verstehst du, um das Singen zu lernen.«

Aber das könne sie doch schon.

»Mütterchen, haha, gelungen sprichst du daher. Wie kannst du über diese Dinge sprechen?«

Freilich könne sie schon singen, schön sogar, sehr schön. Aber es muß alles gelernt sein, heutzutage, auf den Schulen. Siehst du, du kannst sehr klug und gelehrt sein, warst du nicht auf vielen Schulen, so glaubt es dir kein Mensch und du hast nichts davon.

So ist es auch mit dem Singen.

Der Tag ging langsam. Ich hatte nichts zu tun. Langsam drehte sich der Schatten der kleinen Birke im Kreise. Pazzo war noch nicht da.

Also an der Station sahst du ihn zuletzt?

Ja, Herr.

Und dann nicht mehr?

Nein, Herr.

Ich stahl mich in die Remise. Ich lüftete die Decke, die über den Wagen gebreitet war. Bestaubt stand er da. Ich suchte in den Polstern, Staub um die Knöpfe, sonst nichts. Es war nichts zu finden.

Ich nahm den Hut und Stock und pfiff. Ich erinnerte mich, daß Pazzo ja nicht da war. Ich lächelte. Ich stieg die Straße hinab, dieselbe Straße. Deutlich konnte ich die Räderspuren herausfinden, auch Pazzos Spur. Er war gehetzt. Wie große Ausrufezeichen sahen seine Spuren aus. Ich kam an die Stelle, wo er den Wagen eingeholt hatte. Der Wagen hatte gehalten, Pazzo war in den Wagen gesprungen. Das sah ich alles aus den Spuren. Im Dorfe verschwand die Spur des Wagens, hinter dem Dorfe tauchte sie wieder auf. Sie zog mich durchs Tal, über den Berg hinüber, an Rote Buche vorbei. Da waren alle Läden geschlossen. Sie zog mich bis zur Station. Ich stand am Perron und blickte dem Geleise nach. Ein Beamter trat heraus und grüßte.

»Ich suche meinen Hund,« sagte ich.

Ja, ach ja, dieser Hund. Es sei eine Wirtschaft gewesen. Der Hund wollte nicht außen bleiben. Er habe geheult und gewinselt. Die Fürstin wäre ganz ergriffen gewesen.

Soso.

Ich ging die Geleise entlang. Hier lag Sand, ich konnte Pazzos Spuren nicht entdecken. Diese Geleise. Sie glänzten. Ich berührte sie mit dem Finger. Ich sah ihnen nach. Sie erschienen mir so sonderbar. Sie zogen mich, zogen mich. Ich rollte auf ihnen dahin, flog, flog. Ich sah einen grellgelben riesigen Eichbaum am Bahndamm. Ich sah ihn mir an. Gewiß war er ihr aufgefallen.

Ich wurde zu einem Eisenbahnzug, sauste, flog durch die Wälder und Wiesen, die Wälder und Wiesen drehten sich mir entgegen. Wieder, da stand ich auf einer Station und sah auf einen Kopf hinter einer Scheibe. Ein runder, feiner Kopf, glatte goldene Haare, Lockenbüschel, die bis zur Schulter herabfallen.

Dann ging ich quer durch den Wald nach Hause. Immer stand ich auf dem Trittbrett des Wagens. Es jagte in meinem Kopfe. Meine Hände zitterten.


Ich hatte im geheimen gehofft, Pazzo anzutreffen. Er war noch nicht zurückgekommen. Nun, Geduld!

Ich hatte nicht daran gedacht, daß die Sonne untergehen würde, daß die Nacht heute kommen könnte. Aber alles ging seinen Gang, als wäre nichts geschehen. Plötzlich wurde alles rot, durchtränkt vom Blute der Sonne. Auch meine Hände. Friede und Schönheit überall, meine Brust tobte. Dann sah ich es mit Grauen dunkel werden, immer dunkler. Asche fiel auf die Erde. Finstere Schatten hoben sich aus den Wäldern, irrten hin und her und kauerten sich nieder. Es wurde still, so still wie es nie war. Schweigen, Schweigen. Nicht jenes Schweigen, das man noch hört, nein, ein tieferes unhörbares Schweigen, ein grauenhaftes Schweigen, das mich lähmte. Leer, alles leer.

Nun brach die Nacht an. Pazzo war noch nicht zurückgekehrt. Ich ging hin und her. Ich wartete, ja, worauf wartete ich denn? Ich wartete darauf, daß das Haus über mich zusammenbräche. Ich ging gedankenlos an den Flügel und schlug eine Taste an. Es war ein heller Ton, Ingeborgs Ton war es. Jeder Mensch hat seinen Ton. Mußte ich auch gerade Ingeborgs Ton unter den Finger bekommen.

Ich zündete eine Kerze an, aber die Flamme flüsterte, sie sprach, ein Gesicht erschien in der Flamme. Ich verlöschte sie wieder, viel zu viel wußte die Flamme.

Ich ging hin und her. Es war dunkel. Ich trat ans Fenster. Alles war schwarz. Selbst die Luft war schwarz. Die Sterne fielen vom Himmel und zersprangen auf den finsteren Äckern.

Mich fror.

Plötzlich sah ich ein Zimmer vor mir, eine Lampe war darin, zwei Menschen unter der Lampe, ein Gesicht rückte in den Lichtkreis. So deutlich sah ich es. Ich schloß die Augen.

Ja, Karl konnte Ingeborg haben, wenn Ingeborg nur wollte. Er ganz allein, ja. Er hatte nie ein Glück gekannt, Hunger und Sorgen und Nächte voller Arbeit, er hatte Ingeborg nötig. Dann war es Karl, der Dichter! Ich dagegen, wer war ich gegen Karl?

Ich würde auch allein leben können – ja auch allein, dachte ich und ging mit steifem Körper hin und her. Mich fror. Alles war leer, alles. Ich dachte an die Fußspur im Staube, an die Geleise in der Sonne. Ich sah wie jemand die Handschuhe abstreifte. Ich sah ein Gesicht, das in der Ferne entwich, ein Paar Augen, die kleiner und kleiner wurden. Ein Tuch flatterte im Walde.

Ich preßte die Finger auf die Augen und drückte die Daumen gegen die Schläfen. Ich saß und dachte, dachte, dachte immerzu.

Da hörte ich ein leises Wimmern, als ob ein Kind wimmere.

Ich erschrak.

Ich stand auf, räusperte mich und ging wieder auf und ab. Mein Glück, meinen Sommer im Kopfe, Ingeborg, jeden Schritt, jedes Lachen im Kopfe und das andere im Kopfe, so ging ich hin und her. Ich hatte ja seit einigen Tagen gewußt, daß das andere kommen würde, daß diese Nacht, da alles leer war, kommen würde, ich hatte es gewußt, meine Seele gewappnet – aber – –

Nein, nein, nein!

Ich stand in meinem Zimmer, preßte die Hände auf die Augen und sagte immer das gleiche Wort. Nein, nein, nein ...

Die Nacht verging, der Tag graute.

Wie verging diese Nacht? Gott weiß es. Auch ich weiß es. Ich denke nicht daran. Ich habe mich nicht auf den Boden geworfen, ich habe mir nicht die Haare gerauft und die Brust zerfleischt, nein, wer dies behauptet, der lügt. Ich hatte nur etwas Blut am Kinn, das war alles.

Die alte Maria entdeckte es, ich hatte es nicht weggewischt. Ich lächelte, so gut es ging, es wollte nicht gut gehen, diesmal, nein, aber doch brachte ich es fertig.

»Ist Pazzo nicht gekommen?« Nein.

»Der Schlingel!« sagte ich und lächelte. Ich sah mein Gesicht dabei, wie ich es sagte, mein Lächeln. Meine Stimme hatte sich verändert.

Die alte Maria starrte mich an und ging rückwärts zur Türe hinaus.

Natürlich, ich konnte nicht wie ein Bräutigam aussehen. – – –

Erst einige Tage danach fand ich es: viele, viele meiner Haare waren weiß geworden. Ich war sehr betrübt darüber.


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