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24

Am andern Tage reiste Karl ab, er ließ sich durch kein Zureden halten. »Ich muß, Axel!« Ich ließ ihn ziehen, ich liebte ihn. Ingeborg war bleich, ohne Worte.

Die Felder sind gemäht. Die Wiesen sind braungrün. Die Sonne funkelt noch, aber ein leichter Wind weht immerzu, herauf aus dem Tale und verweht die Strahlen der Sonne.

Der Sommer verglüht, der Herbst kommt, bald werden die Krähen schreien, denke ich. Und ich sehe in Gedanken Schnee vom Himmel fallen.

Es ist schwül im Hause und doch zieht es, wo man geht. Die Hände und Füße frieren, ein kalter Atem streicht über den Rücken.

Es ist nun sehr stille geworden bei uns und die Uhren ticktacken, wohin man kommt.

Ingeborg sitzt am Fenster und blickt die Straße hinab, die ins Dorf führt.

Vor dem Hause auf der Wiese steht eine Birke, eine neue Bank, aber es ist eine andere Birke, eine andere Bank.

Ich lächle und sage zu Ingeborg:

»Wie stille ist es bei uns, gute Ingeborg!«

Es sei sehr stille, ja, erwidert Ingeborg und blickt lächelnd zu mir empor.

Ich gehe. Dieses Lächeln tut mir weh.

So vergeht der Tag.

Ingeborg sitzt am Fenster und blickt die Straße hinab, die zum Dorfe führt.

Ich setze mich zu ihr und sage: »Wie man doch Karl vermißt. Ein solch gütiger Mensch, ein solch herrlicher Mensch! Wie schön war er doch anzusehen, wenn er kutschierte! Wie ein griechischer Wagenlenker stand er im Wagen und ließ die Peitsche über den Pferden knallen und schrie, daß die Pferde scheuten und sein langes, rotes Haar flatterte im Winde um sein lachendes, verzücktes Gesicht.«

Ingeborg lächelt und blickt hinab über die düstern Buchenwälder, die sich leise wiegen.

Ingeborg lacht leise.

»Sonderbar war er vor allem, sonderbar in allem, was er tat. Erinnerst du dich, wie er am ersten Abend sagte, die Frauen seien ganz gute Geschöpfe, glaube er. Und er erzählte von einem armen Mädchen, das ihm eine Kravatte geschenkt habe? Wie hörte sich das an! Und zu gleicher Zeit schrieb er an einem Gedichte, zwölf Gesänge zur Verherrlichung der Frau – haha!«

»Ja, sonderbar war er, du hast recht, Ingeborg. Wer ist er doch? Ich habe nie eine Silbe der Klage von seinen Lippen gehört, nie einen Zug des Unmutes bei ihm gesehen. Und doch hat er so viel gelitten. Immer fröhlich ist er und immer schenkt er.«

Darauf spricht Ingeborg und sie zieht bedeutsam die Brauen in die Höhe: »Ein Weiser ist er und ein Kind. O, er ist ein Mensch! Ich habe eine Stelle in einem seiner Bücher gefunden, die heißt: Leiden mußt du können bis zur Verzweiflung und lachen bis zum Irrsinn, ohne zu verzweifeln, ohne irrsinnig zu werden. Das sagt viel von ihm.«

Und Ingeborg lächelt und sieht die Straße hinab und eine kleine Falte ist zwischen ihren Brauen zu sehen. Ihre Lider sind halb geschlossen.

Ich gehe. Diese kleine unterdrückte Falte zwischen den Brauen zerschneidet mir das Herz.

So vergeht der Tag.

Und Ingeborg ist blaß und ein eigentümlicher Schein ist in ihren Augen. Wo sah ich doch diesen Schein schon und diese erstarrte Miene?

Es fällt mir ein: damals auf der Höhe, an jenem Abend, bevor wir uns küßten.

Ingeborg lacht eigentümlich und sagt: »Weißt du, woher die Feuerlilie ihre Glut hat und die Amsel ihren Gesang?«

Nein, das wußte ich nicht. Wie sollte ich wissen, woher die Feuerlilie ihre Glut und die Amsel ihren Gesang hat? Ich hatte mich nie mit diesen Dingen beschäftigt.

»Karl weiß es!«

Karl weiß es. Bin ich ein Dichter? Nein. Karl ist ein Dichter und mußte es wohl wissen.

Ingeborg blickt an mir vorüber, hinunter auf die Straße, die zum Dorfe führt, und spricht:

»Karl hat eine neue Unsterblichkeitslehre gefunden. Wie groß ist ihm der Mensch. Mir verriet er es, mit niemand sprach er sonst davon.«

»Weißt du, wie man sich Zuneigung und Abneigung erklären kann? Er sprach von Geschlechterreihen und daß –«

Was weiß ich von diesen Dingen?

Der Tag vergeht, es weht vom Tal herauf. Grellgelbe Flecken bekommen die Wälder. Ein einzelner brennendroter Baum steht in der Ferne im grünen Walde.

Ich gehe herum und sinne. Ich gehe in die Ställe und sehe den Knechten nach. Ich spreche mit ihnen. Ich gehe in die Scheunen, wo die Futterschneidmaschine surrt. Es treibt mich herum.

Ingeborg! Ingeborg! Jeden Tag gehst du weiter weg von mir, Ingeborg. Bald werde ich dich nimmer sehen. Jeden Tag klingt deine Stimme ferner, es wird ein Tag kommen, da werde ich dich nimmer hören können. Eine fremde Sprache wirst du sprechen.

Eine große Traurigkeit breitet sich in meinem Herzen aus und alles will sie verdunkeln. O, Ingeborg, Ingeborg!

Es treibt mich herum. Ich fasse einen Baum an und sage zu dem Baume: O, Ingeborg!

Hin und her wandere ich. Ich kann mich keinen Augenblick mehr niedersetzen. Ich zernage mir die Lippen. Der Schrecken lähmt mich zuweilen, so daß mein Herz stille steht. Mein Gesicht ist erstarrt, es ist ganz steif geworden. Ich habe das Gefühl, als müßte ich in die Knie brechen. – Zuweilen habe ich es –

Es zerbröckelt etwas. Es zerbröckelt unaufhörlich, ich fühle es, ich höre es, es zerbröckelt um mich, in mir –

Ich schlafe nicht mehr. Ich liege immer, immer wach. In meinem Kopfe jagt es. Gegen Morgen sinke ich vor Mattigkeit in den Schlaf. Ich träume, daß ich weine. Ich höre mich weinen, ich erwache, meine Augen sind trocken, aber es weint in mir. Ich bin erstaunt, ich erschrecke, es weint immerzu in mir.

Ich sehe nicht gut aus. Ich sehe gealtert aus. Ich fühle, wie Ingeborgs Blick auf meinem Gesichte ruht. Ich fühle, daß alle Worte sie reuen, die sie über mein Gesicht sagte. Ich fühle es.

Ich spreche mit Ingeborg. So gütig wie möglich suche ich zu sprechen.

»Erinnerst du dich, wie wir unter dem Apfelbaum saßen, er blühte?«

Ingeborg schweigt.

»Der Sommer war doch schön, Ingeborg?«

Ja, er war schön, sagt Ingeborg mit einer teilnahmslosen, müden Stimme. Gereiztheit verbirgt sich darin.

Das hat mir wehe getan!

Ich gehe. Es treibt mich herum.

Hin und her gehe ich und überall stehe ich und plaudere ein paar Worte mit dem Gesinde.

»Hat sie noch ein wenig Sonne erwischt?« sage ich zur alten Maria, die am Fenster sitzt und Strümpfe stopft. Ich spreche sanft und ich bin ergriffen, als spräche ich zu meiner Mutter. Ganz eigentümlich ist das.

»Ja, es ist heute warm. Bald wird der Winter da sein, ehe man sich umschaut.« Sie glaube, daß heuer der Winter früh komme.

»Das glaube ich auch,« sage ich. »Ich glaube sogar, daß es ein strenger Winter werden wird.«

Die Schlehen hätten so stark geblüht, ja.

Was sie da für einen Vogel habe. Ganz traurig sähe er aus. Er sänge wohl nicht.

»Ein Rotkehlchen, Herr. Singen tut es nicht, nein.«

Sie habe einen Kanarier gehabt, er sei gestorben. Sie glaube, er sei aus Furcht vor der Katze gestorben. Wenn sie das gedacht hätte, wäre die Katze nicht ins Zimmer gekommen. Aber sie könne keinen leeren Käfig sehen, bis ein neuer Kanarier zu haben wäre, wolle sie das Rotkehlchen behalten.

»Höre,« sage ich, »schenke mir das Rotkehlchen. Ich besorge dir einen Kanarier. Die sind es seit jeher gewöhnt, in Käfigen zu sitzen und singen auch.«

Schon recht.

Ich nehme den Käfig und gehe zu Ingeborg. Ingeborg sitzt am Fenster und blickt in den Sonnenuntergang hinaus. Sanft geht der Tag zu Ende, mit gleichmäßiger Röte im Westen und zitternden Wölkchen am hohen Himmel. Ganz wie ein Frühlingstag. Die Luft weht lau, klingende Rufe zittern aus dem Tale herauf.

»Sieh,« sage ich.

»O!« sagt Ingeborg.

»Ein Rotkehlchen gehört in den Wald, nicht in den Käfig, Ingeborg, denke.«

Ingeborg sieht mitleidig lächelnd und voller Liebe auf das Vögelchen, als blicke sie einem armen, weinenden Kinde in die Augen. Eine schöne rote Brust hat der Vogel, in die er den klugen Kopf drückt. Seine Augen sind schwarz wie Beeren und spähen ängstlich.

Ich will sprechen, aber ich kann es nicht.

Auf der Wiese nahe der kleinen Birke steht ein alter Knecht, in zusammengeschrumpften Hosen und blauem Arbeitskittel, er ruft zu einem Bauern auf der Straße hinüber. Von einer Kirchweih erzählt er. Er lacht, aber er bewegt die Arme, als wolle er Streit anfangen.

»Es ist ein armes Vögelchen, ging gerne in die Freiheit,« sage ich.

Ingeborg denkt, was meint er doch? Sie blickt mich an und ihre Lider zucken verlegen.

Der Knecht auf der Wiese lacht und ruft: »Alle Hohenfichtener sind dagewesen. Eine Hetze war es, haha!«

Hahaha – antwortet es von der Straße her. Und der Knecht bricht wiederum in Gelächter aus. Glücklich und jung lacht er trotz seiner grauen Haare.

»Siehe, Ingeborg, was ich mit solchen eingesperrten Vögelchen tue.«

Ich öffne den Käfig. Das Rotkehlchen steht unter der Türe, pfeift schüchtern und wendet das gereckte Köpfchen nach links und rechts. Glaubt man nicht, man könnte ohne weiteres fortfliegen, denkt es – zit zit! Es betrachtet sich die weite Welt und schüttelt die Flügel.

Ich lächle.

»Es will gar nicht gehen. Aber die Türe steht ja offen. Ich bin doch nicht so grausam, es zurückzuhalten –«

»Geh, kleiner Vogel, flieg!«

Zit! pipst der Vogel. Er blickt rasch zurück, dann gleitet er vom Gesimse und breitet die Flügel aus.

Er fliegt bis zur kleinen Birke, läßt sich nieder und beginnt zu schmettern. Dann schwingt er sich in die Höhe und fliegt hinein ins Tal, berauscht, in großen Bogen. Er begegnet einigen Schwalben und scheint ihnen etwas zuzurufen, denn die Schwalben ändern plötzlich die Richtung und geben ihm ein Streckchen das Geleite.

Ich vermag es nicht, Ingeborg in die Augen zu sehen, und so blicke ich dem kleinen Vogel nach, der in die Freiheit hinausflog. Bald sieht es aus, als fliege ein Schmetterling im geröteten Himmel.

Dann zittert nur noch ein Pünktchen über dem Tale, es tanzt auf und ab.

»Siehst du, ich bin doch nicht so grausam, ihn zurückzuhalten? Ich freue mich mit ihm über seine Freude.«

Da begegne ich Ingeborgs Blick. Sie hat verstanden.

Sie blickt mich an und ich sehe, daß sie irgendetwas tun möchte, um mir zu danken. Aber sie wagt es nicht.

Sie blickt mich nur an.

Wir geben uns die Hand.

Vor dem Hause erzählt der Knecht immer noch von der Kirchweih und dem Tanze in Rotenbuch.

Ich höre es, verstehe jedes Wort, obgleich mein Herz zerbricht.


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