Jean Paul
Dr. Katzenbergers Badereise
Jean Paul

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III.
Die Vernichtung

Eine Vision

Jede Liebe glaubt an eine doppelte Unsterblichkeit, an die eigne und an die fremde. Wenn sie fürchten kann, jemals aufzuhören, so hat sie schon aufgehört. Es ist für unser Herz einerlei, ob der Geliebte verschwindet oder nur seine Liebe. Der Zweifler an unserer Ewigkeit leihet, wenn ein schönes Herz vor ihm auf ewig auseinanderbricht, wenigstens der Vollkommenheit desselben, um es fortzulieben, in einem höchsten Wesen Unvergänglichkeit und findet den Liebling, der unter der dunkeln Erde zusammensinkt, in einem durchbrochnen Sternbilde am Himmel wieder.

Der Mensch – der sich immer zu selten und andere zu oft befragt – hegt nicht nur heimliche Neigungen, sondern auch heimliche Meinungen, deren Gegenteil er zu glauben wähnt, bis heftige Erschütterungen des Schicksals oder der Dichtkunst vor ihm den bedeckten Grund seines Innern gewaltsam entblößen. Daher wird es uns leicht, die Überschrift dieses Aufsatzes kalt zu lesen oder gar die Vernichtung anzunehmen und zu begehren; aber wir zittern, wenn unser Herz uns den grausamen Inhalt des Wahns aufdeckt, daß die Erde, in die wir alle unser gesunkenes Haupt zur Ruhe legen wollen, nichts sei als der breite Enthauptungblock der blassen gebückten Menschen, wenn sie aus dem – – Gefängnis kommen. Alsdann zündet (wie öfter) die Wärme des Herzens wieder Licht in der Nacht des Kopfes an, so wie Tiere, die das Leben durch einen elektrischen Funken verloren, der in den Kopf sprang, es durch einen zweiten wiederfinden, den man in die Brust leitete.Reimarus neuere Werke vom Blitze. – –

Ottomar lag im äußersten Hause eines Dorfs, aus dem man die Aussicht auf ein noch unbegrabenes Schlachtfeld hatte, an einem giftigen Faulfieber ohne Hoffnung darnieder. In jeder Nacht trieb sein heißes erschüttertes Herz das aufgelösete Blut, wie einen Höllenfluß, voll zerrissener ungeheurer Bilder vor seinem Geiste vorbei, und der dunkle reißende Strom aus Blut spiegelte den durchwühlten Nachthimmel und zerstückte Gestalten und zerrinnende Blitze ab. Wenn der Morgen kühlend wiederkam, und wenn das Gift des Fiebertarantelstichs aus dem müden Herzen verflogen war: so tobte vor ihm das unbewegliche Gewitter des Kriegs mit unaufhörlichen Blitzen und Schlägen; und diese blutigen durchbohrten Bilder standen dann in seinen mitternächtlichen Phantasien vor ihm als Leichen auf.

In der Mitternacht, die ich jetzt beschreiben will, erreichte sein Fieber die kritische und steile Höhe zwischen dem Grabe und dem Leben. Seine Augen wurden Vergrößerspiegel in einem Spiegelzimmer, und seine Ohren Hör-Röhre in einem Sprachgewölbe – sein Krankenwärter streckte Riesenglieder vor ihm aus – die wimmelnden Gestalten des übermalten Bettvorhangs wurden dick und blutrot und schossen auf und fielen in einem Schlachtgetümmel einander an – eine siedende Wasserhose zog ihn in ihren schwülen Qualm hinauf und rückte ihn brausend und wetterleuchtend über Meere weiter – und unten aus dem tiefsten Innersten krochen kleine scharfe Gespenster, die ihn schon in dem Fieber der Kinderjahre verfolgt hatten, mit klebrigen kalten Krötenfüßen an der warmen Seele herauf und sagten: wir quälen dich allemal! –

Plötzlich, als das verfinsterte Herz sich aus dem heißen Krater des Fiebers zurückrollend hinaufarbeitete, überzog die Stubendecke der gelbe Widerschein einer nahen Feuerbrunst. Sein trocknes heißes Auge starrte halb geschlossen die durchsichtigen Bilder seines Vorhangs an, die mit der fernen Lohe flatterten. Auf einmal dehnte eine Gestalt sich unter ihnen aus mit einem leichenweißen unbeweglichen Angesichte, mit weißen Lippen, mit weißen Augenbraunen und Haaren. Die Gestalt suchte den Kranken mit gekrümmten langen Fühlhörnern, die aus den leeren Augenhöhlen spielten. Sie wiegte sich näher, und die schwarzen Punkte der Fühlhörner schossen, wie Eisspitzen, wehend um sein Herz. Hier trieb es ihn mit kaltem Anhauchen rückwärts; und rückwärts durch die Mauern und Felsen und durch die Erde, und die Fühlhörner zuckten wie Dolche um seine Brust; aber wie er rückwärts sank – brach die Welt vor ihm ein – die Scherben zerschlagner Gebirge, der Schutt stäubender Hügel fiel danieder – und Wolken und Monde zerflossen wie fallender Hagel im Sinken – die Welten fuhren in Bogenschüssen über die leichenweiße Gestalt herab, und Sonnen, von ergriffenen Erden umhangen, sanken in einem langen schweren Fall danieder – und endlich stäubte noch lange ein Strom von Asche nach....

»Weiße Gestalt, wer bist du?« fragte endlich der Mensch. »Wenn ich mich nenne, so bist du nicht mehr«, sagte sie, ohne die Lippen zu regen, und kein Ernst, keine Freude, keine Liebe, kein Zorn war noch auf dem marmornen Gesichte gewesen, und die Ewigkeit ging vorüber und veränderte es nicht. Sie drängte ihn auf einen engen Steig, der aus den Erdschollen gemacht war, die unter das Kinn der Toten gelegt werden; der Weg durchschnitt ein blutiges Meer, aus welchem graue Haare und weiße Kinderfinger wie Blüten an Wasserpflanzen blickten, und er war mit brütenden Tauben und nassen Schmetterling-Flügeln und Nachtigalleneiern und Menschenherzen überdeckt. Die Gestalt zerquetschte alle durch Darüberschweben, und sie zog ihren langen grauen, auf dem weiten Blute schwimmenden Schleier nach, der aus der nassen Leinwand gemacht war, die über den Augen der Toten gelegen. – Die roten Wogen stiegen um den bangen Menschen auf, und der einkriechende Weg ging nur noch über kalte, glatte Erdschwämme und endlich bloß über eine lange kühle glatte Natter....

Er glitt herab, aber ein Wirbelwind wandte ihn herum, vor ihm breitete sich unabsehlich eine schwarze Eisscholle aus, auf der alle Völker lagen, die auf der Erde gestorben waren, starre eingefrorne Leichenheere – und tief unten im Abgrund läutete ein Erdbeben seit der Ewigkeit ein kleines geborstenes Glöckchen; es war die Totenglocke der Natur. – – »Ist das die zweite Welt?« fragte der trostlose Mensch. Die Gestalt antwortete: »Die zweite Welt ist im Grabe zwischen den Zähnen des Wurms.« – – Er blickte auf, um einen tröstenden Himmel zu suchen, aber über ihm stand ein fester schwarzer Rauch, das ausgebreitete Bahrtuch, das zwischen den Welten-Himmel und zwischen diese düstere frostige Lücke der Natur gezogen war; und der Schutthaufen der Vergangenheit dampfte aus der Tiefe auf und machte das Leichentuch schwärzer und breiter. – – Jetzo lief der Widerschein einer hinabfallenden entzündeten Welt mit einem roten Schatten über die finstere Decke, und eine ewige Windsbraut verwehte sinkende Klagstimmen herein:

»Wir haben gelitten, wir haben gehofft; aber wir werden gewürgt. – Ach Allmächtiger, schaffe nichts mehr!«

Ottomar fragte: »Wer vernichtet sie denn?« – »Ich!« sagte die Gestalt und trieb ihn unter die eingefrornen Leichenheere, unter die Larvenwelt der vernichteten Menschen. Wenn die Gestalt vor einer entseelten Maske vorüberging, so spritzte aus dem zugefallenen Auge ein blutiger Tropfen, wie ein Leichnam blutet, wenn ihm der Mörder nahetritt. Er wurde unaufhaltsam durch das stumme Trauergefolge der Vergangenheit hindurchgeführt, durch die morsche Wesenkette, durch das Schlachtfeld der Geister. Da er so vor allen eingeäscherten Geschwistern seines Herzens vorbeiging, in deren Angesicht noch die zerrissenen Hoffnungen einer Vergeltung standen – und vor den armen Kindern mit glatten Rosenwangen und mit dem erstarrten ersten Lächeln und vor tausend Müttern mit den eingesargten Säuglingen auf dem Arm – und da er sah die stummen Weisen aller Völker, mit der erloschenen Seele und mit dem erloschenen Licht der Wahrheit, die unter dem über sie geworfenen Leichentuche verstummt, wie Singvögel, wenn wir ihr Gehäuse mit einer Hülle verfinstern – und da er sah die versteinerten Leidtragenden des Lebens, die unzähligen, welche gelitten, bis sie starben, und die andern, die ein kurzes Entsetzen zerriß – und da er sah die Angesichte derer, die vor Freude gestorben waren, und denen noch die tödliche Freudenträne hart im Auge hing – und da er sah alle Frommen der Erde stehen mit den eingedrückten Herzen, worin kein Himmel und kein Gott und Gewissen mehr wohnte – und da er sah wieder eine Welt herunterfallen, und ihre Klagstimmen vorüberweheten: «O! wie vergeblich, wie so nichtig ist der Jammer und der Kampf und die Wahrheit und die Tugend des Lebens gewesen!« – und da endlich sein Vater mit der eisernen Kugel erschien, welche die Leichen des Weltmeers einsenkt, und da er aus dem weißen Augenlide eine Blutzähre drückte: so rief sein zu kaltem Grimm gerinnendes Herz: »Gestalt aus der Hölle, zertritt mich nur bald; das Vernichten ist ewig, es leben nur Sterbende und du. – Leb' ich noch, Gestalt?«

Die Gestalt trieb ihn sanft an den Rand des immer weiter gefrierenden Eisfeldes. In der Tiefe sah er den Schutt von Gehäusen zerdrückter Tierseelen, und in den Höhen hingen zahllos die Eisstrecken mit den Vernichteten aus höheren Welten, und die Leiber der toten Engel waren oft aufrechte Sonnenstrahlen, oft ein langer Ton oder ein unbeweglicher Duft. – Bloß über der Kluft nahe dem Totenreiche der Erde stand allein auf einer Eisscholle ein verschleiertes Wesen – und als die weiße Gestalt vorüberzog, hob sich selber der Schleier auf – es war der tote Christus, ohne Auferstehung, mit seinen Kreuzes-Wunden, und sie flossen alle wieder, wegen der Nähe der weißen Gestalt! – –


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