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An meinen Bruder

O Freund! beklage mit mir die sterbenden Rosengesträuche,
Woran ich einst die Leyer hing,
Als ich an Deiner Hand, zu jener alten Eiche,
Zum Tempel süßer Empfindungen, ging.

Wir hatten oft, in ruhigen Dämmerungen,
Die Wahrheit gesucht; nun blickten wir umher,
Und sagten, brüderlich umschlungen:
Kein Winkel ist von ihrer Gottheit leer.

Sie wandelt in corinthischen Gängen,
Und zwischen Heerden, auf dem Klee;
Sie tönt, voll Hoheit, in Operngesängen,
Und ländlich im Liede der Lalage.

Man hört sie da, wo der müden Kamehle
Geschrey durch sandige Wüsten dringt;
Man hört sie tief in der Felsenhöhle
Des Heiligen, dem ein Engel singt.

Die Wahrheit selber hat im Stillen
Der lachenden Venus Altäre geschmückt;
Sie hat den Fabeln der Sibyllen
Ein heiliges Siegel aufgedrückt.

Es predigen laut von ihren Gesetzen
Lycurgus und Anakreon,
Und Weise finden, unter Götzen,
Ihr Bild, verstümmelt, im Pantheon.

So sprachen wir: Da lagerten über der Eiche,
Wie Lämmer, goldne Wolken sich;
Da lispelten die Rosengesträuche;
Da küßt' ich, im Abendwinde, Dich.

Und Wahrheit fühlt' ich in den Küssen,
Und Wahrheit schlug in meiner Brust:
O Freund! genug ist es, zu wissen,
Was jede schöne Seele gewußt.


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