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Das Lied der Grazien

An Gleims Geburtstage, den 2. April 1770.

Wenn ein Mädchen, unter seinen Schwestern,
Als die Schönste geht, ihr Busen sanfter schlägt;
Wenn sie hohe Freuden in dem Blicke trägt,
Und die Frevler, welche Tugend lästern,
Durch ein Lächeln widerlegt;
Wenn ein Dichter eine Welt bekehret,
Und die Menschen süßen Frieden lehret,
Süß, wie seiner Leyer Ton;
O dann hat dem Mädchen und dem Dichter schon,
In des Lebens ersten Dämmerungen,
Eine Grazie gesungen;
Eine Grazie, die bey der Wiege stand,
Als die zarte Seele, kaum geboren,
Sich zu suchen schien, und noch verloren
In dem ersten, tiefen Traume sich nicht fand.
Da die zarte Seele schon zu bilden,
Schuf die Göttinn, nach und nach,
Wo das holde Kind im Schlummer lag,
Eine kleine Welt von blühenden Gefilden.
Durch die Silberwolken brach,
Sanft gemäßiget, der Tag;
Schöne Träume folgten schönen Träumen;
Lämmer spielten unter Myrthenbäumen;
Bey den Lämmern wohnte stille Ruh:
Fernher sang ihr Lied die Grazie dazu.

Dunkel zwar dem Mädchen und dem Dichter
Sind der Kindheit erste Traumgesichter,
Unverständlich ist das Lied für sie;
Aber dennoch ihre Seele bilden,
In der kleinen Welt von blühenden Gefilden,
Muß des Liedes Harmonie.

Einst auf Blumen wird das Mädchen liegen,
Einst auf Blumen, wo im jungen May
Nachtigallen über ihr sich wiegen;
Und des Hirten Feldschalmey
Ruft der Freuden beßres Chor herbey;
Jedes Blättchen sagt im jungen May
Lispelnd ihr, wie schön die Unschuld sey.

Zwischen Hirten, welche Kränze winden,
Wird der Dichter einst die Weisheit finden;
Voller Einfalt, so wie die Natur,
Wie der Himmel, rein, und lachend, wie die Flur.

Deines Lebens erste Dämmerungen
Sahen auch die Grazien, o Freund!
Und dir haben sie, vereint,
Von Unsterblichkeit ein Lied gesungen.

»Nymphen in den Hainen, in den Flüssen!
Kleine Nymphen, wachset auf mit ihm;
Spielet um ihn her, und lehrt ihn küssen:
Denn es wird der Bosheit Ungestüm
Sich, sobald er singt, zu seinen Füßen
Unter Blumenketten schmiegen müssen;
Denn er wird der Tugend Leid versüßen:
O ihr Nymphen in den Flüssen,
In den Hainen! lehrt ihn küssen;
Kleine Nymphen! wachset auf mit ihm.

Wachset auf mit ihm, und blüht geschwinder,
Junge Rosen! wachset auf.
Alle Weste wehen hier gelinder,
Und gelinder ist der Bäche Lauf.
Hier besuchen Götterkinder
Ihren Liebling: O geschwinder
Blüht, ihr jungen Rosen! auf.

Blüht geschwinder, ihr Gebüsche!
Denn, im fröhlichsten Gemische
Gehen, unter Musen, hier
Mit dem schönen Knaben wir.
Glanz erfüllet die Gebüsche:
Seht! im fröhlichsten Gemische,
Seht! im Glanze steiget er empor
Zu der Götter Chor.«


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