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Eine Entdeckung

»Verzeihen Sie, Frau Saltino«, sagte eines Tages Herr Gruber, als er, wie er mitunter zu tun pflegte, sich zu einem Teestündchen eingefunden hatte, »es war kürzlich eine junge Dame bei Ihnen, war es eine Verwandte von Ihnen oder von Ihrem Mann?«

»Ich wüßte nicht, wer es gewesen sein könnte. War es gestern?«

»Nein, vorgestern nachmittag gegen vier Uhr. Sie hatte ein kleines Mädchen bei sich.«

»Ja, nun weiß ich es. Es war eine frühere Pensionsfreundin von mir, die Lehrerin geworden und nun hier bei einer Frau Roller lebt.« Herr Gruber war nicht ganz befriedigt von der Antwort. Warum konnte Frau Saltino nicht den Namen der Dame nennen!

»Davon weiß ich ja gar nichts«, sagte ihr Gatte. »Du hast mir nicht erzählt, daß du Besuch hattest.«

»Weil du immer mit Geschäften überhäuft bist und oft so spät heraufkommst, daß ich nur das Allernötigste mit dir sprechen kann.«

»Ein harter Dienst«, meinte Gruber.

»Wir sind sehr dankbar darüber, nicht wahr Vreneli? Wer war denn nun die junge Dame, die dich besucht hat?« fragte nun Saltino interessiert.

»Es war Frieda Senker, ich habe dir öfter von ihr geschrieben und auch erzählt.«

»Nun erinnere ich mich. Schade, daß ich sie nicht kennengelernt habe.«

»Sie wird von nun an ein häufiger Gast bei mir sein, wir wollen fortan treu zusammenhalten.«

Beide hatten nicht gemerkt, daß sich Herrn Grubers eine sichtliche Erregung bemächtigte, als Veronika den Namen der Freundin aussprach. Es war gut, daß die beiden einige Worte miteinander wechselten, so daß er seiner Bewegung Herr werden konnte. Sollte es möglich sein, daß er in dieser jungen Dame die finden sollte, nach der er lange geforscht hatte? Er saß im Wohlleben, und sie mußte sich ihr Brot bei fremden Leuten verdienen! Jetzt war sein Interesse aufs regste erwacht. Doch durfte er es nicht zeigen. Die Geschichte mußte schon des Onkels wegen geheim bleiben.

»Also das junge Mädchen ist Erzieherin«, nahm Gruber das Gespräch wieder auf.

»Sie ist gewiß aus einem kinderreichen Hause, da müssen dann die Töchter einen Beruf ergreifen, um einmal auf eigenen Füßen zu stehen –«

»Das ist hier nicht der Fall. Frieda Senker ist eine Waise. Soviel ich weiß, ist sie von einem Pfarrer angenommen worden, mit dessen Tochter sie sich in demselben Pensionat, wo ich war, aufhielt, um das Seminar zu besuchen.« Gruber fragte nicht weiter, ging aber sinnend nach Hause und überlegte nochmals alles. Frieda Senker! Sollte es möglich sein, daß sie sich als die Tochter der Frau Luise Senker entpuppte? Eine Waise – das stimmte ja. Nun hatte er doch endlich einen Anhalt, er wollte jedenfalls nachforschen; wie gern wollte er seinen Verpflichtungen gegen die arme Waise nachkommen, um so mehr, als er schon für das junge Mädchen sowieso Interesse gewonnen hatte.

Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Eines Tages, als er die Halle seines Hauses betrat, war die große Tür, die nach dem Hof führte, weit geöffnet, und in der Tür stand ein altes Mütterchen, das die Hand des jungen Mädchens, das ihn aufs höchste interessierte, mit ihren Händen festhielt und so laut sagte, daß er es hören konnte:

»Ich hab's ja gleich gesehen, als Sie daherkamen, daß ich Sie kennen müßte. Sie waren damals ein kleines Mädchen von drei Jahren, aber jetzt sehen Sie gerade aus wie die Frau Mutter.«

Beide hatten Herrn Gruber nicht bemerkt. Er entfernte sich schnell und ging ins Kontor, um einen Schritt näher der Gewißheit, daß die kleine Erzieherin die war, die er schon lange suchte. Diese kleine Szene war am Morgen gewesen; zu Mittag, als die Alte wieder erschien, um ihrem Sohn das Essen zu bringen, rief Gruber sie in sein Privatzimmer.

»Je, was wird denn der Herr wollen, ich hab doch nichts Unrechtes getan«, sagte die Alte vor sich hin. Ins Privatzimmer des Herrn gerufen zu werden, bedeutete in der Regel nichts Gutes.

»Sagen Sie doch«, begann Herr Gruber, »mit welchem jungen Mädchen standen Sie da heute morgen im offenen Hoftor?«

Der Alten Züge erhellten sich. »Das Fräulein wollte zu Frau Saltino. Und denken Sie nur an, Herr, sie ist die Tochter von Frau Luise Senker! Aber war das eine Freude! Das Fräulein wollte nach oben gehen, als ich vom Hof kam. Mir war, als sollte ich vor Schreck umfallen, meinte ich doch, die Frau Senker leibhaftig vor mir zu sehen. Freilich, blasser sah die Mutter wohl aus, aber wer denkt gleich da dran. Ich laufe auf sie zu. Da lächelt sie mich so freundlich an, gerade wie die Frau Mutter, und fragt: ›Kennen Sie mich?‹

Nun mußt ich ja mit der Sprach' heraus, und als ich sage: ›Ich habe eine Frau Senker gekannt, die hier gewohnt hat, und Sie sehen gerade so aus, daß ich dachte, sie wär's‹, da sagte sie: ›Nicht wahr, meine Eltern haben einmal in diesem Hause gewohnt; ich bin ein kleines Mädchen gewesen, als mein Vater starb und meine Mutter mit mir weit fortzog. Aber es kommt mir hier alles so bekannt vor, daß es mir immer ist, als müßte ich schon einmal hier gewesen sein.‹ Also, es war richtig Frau Senkers kleine Tochter Frieda. Wir haben uns lange unterhalten. Sie hat mir erzählt, daß sie auf dem breiten Treppenabsatz mitunter mit ihren Puppen gespielt hat. Dann fragte sie mich, ob hinter dem Hof nicht ein Garten sei mit einem Springbrunnen, schönen Obstbäumen und einem Gartenhaus. Da bin ich mit ihr gegangen, hab' ihr den Garten gezeigt, und wir haben uns viel erzählt, sind als gute Freunde geschieden. Ja, Herr, das ist alles wahr. Der Herr hat uns vielleicht im Garten gesehen, was wir eigentlich nicht dürfen. Nun ist der Herr böse und hat mich hereinrufen lassen.«

Herr Gruber hat die Alte ruhig aussprechen lassen. Jedes Wort, was sie sagte, hätte er mit Gold aufwiegen mögen. Es gab ihm Gewißheit über eine Sache, die für ihn von größter Wichtigkeit war.

»Ich bin nicht böse, sondern freue mich über das, was sie mir mitgeteilt haben. Sie erinnern sich doch, daß Sie mir einmal die Anschrift von Frau Senker gegeben haben?« Die Alte, die leicht vergeßlich geworden war, konnte sich nicht gleich besinnen.

Die Alte humpelte glücklich von dannen, daß es keine Schelte gegeben hatte. Herr Gruber war ein guter und anständiger, aber auch ein strenger Herr, der keine Unregelmäßigkeiten ungerügt ließ.


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