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Die Ferien

Wieder daheim! Welch ein Jubel für Eltern und Töchter, als der Wagen hielt und sie sich gegenseitig wieder hatten.

Das Seminar hatte seine Ferien von Mitte Juli bis Ende August, Martha hatte sich von ihren Privatstunden zu derselben Zeit frei gemacht, weil die jungen Mädchen ihre Ferien zusammen genießen wollten.

Frieda hatte sich mit besonderem Interesse auf Buschrode gefreut. Sie kannte es nur im Spätherbst und Winter und war überrascht, nun alles in Blüte zu finden, wie die Bäume mit dichtem Laub herrliche Früchte trugen, die in der Sommerhitze allmählich der Reife entgegengingen; der schön angelegte Blumengarten mit feinen Rasenplätzen und Zierpflanzen, dahinter der Gemüsegarten, der für die Küche allerlei Schönes und Nutzbares lieferte. Freiheit, Ausruhen vom Studieren, frische Landluft, dazu die Liebe der Eltern und Verwandten, die sich zur Sommerzeit zahlreich eingefunden hatten, eine schöne Zeit lag vor ihnen, sie wollten sie nach Kräften ausnutzen!

Aus dem Garten ertönten fröhliche Kinderstimmen. Annchen und Mariechen haschten sich mit ihren Brüdern, während Frau Zeller mit einem jungen Mann im Laubengang auf und ab ging. Großtante Kathinka strickte in der Jasminlaube, während Tante Agnes sie eifrig von ihrem Leben in der Großstadt unterhielt. Tante Emilie, die sich gern nützlich machte, pflückte Bohnen, die Eltern aber saßen mit den eben angekommenen Töchtern auf der Veranda, die mit dem Garten durch eine Treppe verbunden war.

»Unsere beiden Mädchen sind mächtig gewachsen, sehen gesund und frisch aus, das Studium hat ihnen bis jetzt nichts geschadet, Mutter«, sagte der Pfarrer und strich Martha liebevoll über die Wangen. »Habt keine Not gelitten.«

»Keineswegs. Unsere Pensionsmutter meint es gut, aber zu Hause ist's doch am besten.« Mit diesen Worten umarmte Martha den Vater, während Frau Charlotte Frieda an sich zog. Als sich Eltern und Töchter allein gesprochen hatten, ging es in den Garten. Da wurden zunächst die Verwandten begrüßt, dann kamen die Kinder und umringten die Mädchen. Sie waren schon acht Tage früher mit der Mutter eingetroffen. Später mußte Frieda den Garten bewundern; sie interessierte sich ja für jede Kleinigkeit, die Martha ihr zeigte.

»Nun mußt du mein Gärtchen sehen, das ich als Kind selbst bearbeitet und gepflegt habe.« Sie zog sie in den untern Teil des Gartens. »Hier sieh, am Gartenzaun; da war mein Reich. Nun setzen wir uns in die Holunderlaube, dort habe ich als Kind immer mit meinen Puppen gespielt.«

»Wir sind wohl in fremdes Gebiet eingedrungen«, sagte eine bekannte Stimme.

Frau Zeller, die in der Laube saß, stand auf und begrüßte die jungen Mädchen. Gleichzeitig mit ihr erhob sich ein junger Mann und verneigte sich. Frau Zeller stellte ihn als ihren Bruder, Herrn Marbach, vor, der jetzt Hausgenosse in Buschrode sei und sich in diesem Pfarrhaus sehr wohl fühle.

»Ich bin Ihren Eltern außerordentlich dankbar, daß ich hier sein darf«, wandte sich der junge Mann an Martha. »Die Ruhe in Buschrode ist meinen Examenarbeiten sehr förderlich.«

»Ruhe gibt's nur in der Ferienzeit nicht viel«, entgegnete Martha. »Kinder und junge Leute werden von nun an manche Störung verursachen –«

»Es ist ganz gut, wenn er auch einmal eine Pause beim Studieren macht und mit meinen Kindern ein wenig umherstreift«, meinte Frau Zeller.

Der junge Mann verbeugte sich leicht gegen die jungen Mädchen mit den Worten: »Heute habe ich meine Aufgabe noch nicht fertig, die Damen entschuldigen mich, wenn ich mich auf mein Zimmer zurückziehe.«

»Er ist ein rechter Bücherwurm«, fuhr Frau Zeller fort, »er war es schon als Schüler, aber jetzt scheint er es fast zu übertreiben.«

»Mit dem Examen ist auch nicht zu spaßen«, ließ sich Frieda vernehmen. »Wir haben da in unserer Pension ein junges Mädchen, das vor dem Examen steht; es gönnt sich kaum Zeit zum Essen.«

»Es ist dies Fräulein Veronika. Ich kenne sie von Ansehen. Sie hat etwas Melancholisches, Insichgekehrtes.«

»Die Verhältnisse zu Hause sind nicht ganz angenehm«, erwiderte Frieda. Da rief Tante Emilie aus den Bohnen heraus: »Ihr jungen Mädchen kommt mir helfen, es gibt viel zu pflücken –«

»Gern, liebe Tante«, rief Martha. Mit dem Sitzen in der Holunderlaube war es vorbei. Frau Zeller ging zu ihren Kindern, die in ihrem Übermut etwas über die Grenzen schlugen.

Als die jungen Mädchen abends zum erstenmal wieder in ihrem Zimmer standen, sagte Frieda: »Wie lebhaft denke ich heute an den ersten Abend meiner Ankunft hier. Wieviel Liebe ist mir seitdem zuteil geworden, wieviel habe ich erlebt. Wie mag es nur der guten alten Frau Drewes gehen, durch deren Güte ich hierher gekommen bin? Ob sie einmal an die Eltern geschrieben hat?«

»Mutter sagte vorhin, daß heute ein Brief gekommen sei, er bringe nicht viel gute Nachrichten.«

»Gewiß ist sie krank; ich muß deine Mutter bald einmal fragen.«

Am andern Morgen hörte Frieda, daß die alte Frau Drewes, von der man lange nichts gehört, recht traurig geschrieben habe. Sie werde immer älter und gebrechlicher, zudem habe sie etwas Trauriges erlebt –

»Etwas Trauriges?« fragte Frieda gespannt.

»Ja, mit einem Verwandten, doch darüber will sie nicht gesprochen haben.«

Frieda fragte natürlich nicht weiter, aber nun stand es bei ihr fest, daß dieser Verwandte jener Neffe sei, der bei ihrem Onkel im Kontor angestellt war, den sie dort öfter gesehen und auch einige Male bei der alten Frau Drewes getroffen hatte. Sie meinte, ihn dort unten am See erkannt zu haben, mit Blut überströmt! – Hätte sie doch nun fragen und dadurch Gewißheit erlangen dürfen. Wie leid tat ihr der arme Herr Richter, noch mehr bedauerte sie die alte Dame, die sehr an dem Neffen zu hängen schien. Was mochte sie mit ihm erlebt haben!

»Kann denn Frau Drewes nicht einmal nach Buschrode kommen?« fragte sie bescheiden.

»Es ist zu weit, mein liebes Kind«, antwortete ihre Pflegemutter. »Früher, in jüngeren Jahren, hat sie uns mitunter besucht, aber jetzt schon lange nicht mehr. Sie kann bei ihrem hohen Alter nicht mehr ans Reisen denken. Vielleicht sieht mein Mann einmal nach ihr; wir fürchten, sie wird es nicht mehr lange machen.«

Das war der einzige Bescheid, den sie erhielt. Würde sie je Klarheit über die Begebenheit am See bekommen? Aber das Versprechen band sie. Wenn sie es brach, so tat sie unrecht, und wer weiß, welches Unheil über den Dunkeläugigen hereingebrochen wäre, wenn sie geplaudert hätte.

Bald verwischten sich die Eindrücke unter dem wechselvollen heitern Leben im Pfarrhaus bei Frieda wieder. Ein schöner Tag reihte sich an den andern. Mal wurden schöne Ausflüge in den Wald unternommen, mal ein Besuch in der Nachbarschaft ausgeführt, oder es gab gemütliche Kaffee- und Abendstunden im Pfarrgarten mit Gesprächen der verschiedensten Art.

Einmal machten die jungen Mädchen die Runde im Dorf, kehrten auch bei Frau Weber ein und mußten sich leider überzeugen, daß die Jungen nicht an Bildung zugenommen hatten, obwohl die Mutter tüchtig mit der Rute dreinhieb, leider oft zur Unzeit. Das kleine Mädchen war brav, wartete das Jüngste und war im Haushalt tätig, wenn die Mutter auf Arbeit war. Aber die Jungen vermochte sie nicht zu regieren, dazu reichten ihre Kräfte nicht. Sie strahlte, wenn sie die Fräulein aus der Pfarre sah, und wenn diese sie anredeten, lag es noch eine Weile nachher wie Sonnenschein auf dem kleinen Gesicht. Auch die alten und jungen Frauen in der Gemeinde freuten sich, wenn die jungen Mädchen, die in der Stadt »lauter Künste« lernten, bei ihnen einsahen.

»Alle beide so schlank und so schneidig geworden und so schöne! Vorzüglich die Fremde –«

»Nee, nee, unsere Martha ist hübscher«, widerlegte die andere, die bei der »Fremden« den Vorzug nicht wollte gelten lassen.

Sei es, wie es sei. Die Mädchen konnten sich beide sehen lassen, und das Dorf, das sein Pfarrhaus liebte, war stolz auf die schönen Töchter.

Eines Tages wanderten sie wieder einmal Arm in Arm durchs Dorf, von diesem und jenem plaudernd. Da kam ein großer offener Wagen, von zwei rassigen Pferden gezogen, in schnellem Trabe an ihnen vorüber. »Die Eichberger«, rief Martha, als die Herrschaften grüßend an ihnen vorüberfuhren.

»Wer war der junge Herr, der vorn bei Herrn Dorn saß und dich so angelegentlich grüßte?«

Martha errötete leicht. »Ach«, sagte sie gleichgültig, »das ist ein musikalisches Genie. Ich habe den jungen Mann in der Gesangsstunde öfter getroffen. Er hatte nämlich nach mir Stunde bei Herrn Rist; jedesmal, wenn ich ging, kam er, wir begegneten uns oft auf der Treppe. Einmal, als meine Stunde etwas länger dauerte, trafen wir uns bei Herrn Rist, der ihn bat, mich auf der Violine zu begleiten. Ich hatte gerade ein Lied eingeübt. Seitdem grüßt er mich.«

»Das hast du mir nie erzählt.«

»Die Sache war mir zu gleichgültig.«

Die Mädchen eilten nach Hause. Besuch im Pfarrhause war nichts Seltenes, aber wenn die Eichberger kamen, gab es zunächst etwas Aufregung. Sie erschienen gewöhnlich zahlreich und blieben bis zum späten Abend. Unbewußt lenkten Frieda und Martha ihre Schritte in die Küche.

»Wo steckt ihr Mädchen? Ein ganzer Wagen voll Besuch, Kindergekrabbel und große Leute, sogar fremde Herren dabei!« Tante Emilie rief's mit hocherhobenen Händen. »Rieke, fache das Feuer an, damit das Wasser schnell zum Kochen kommt!«

Rieke kauerte vor dem Herd mit dick aufgeblasenen Backen und blies sich bald die Seele aus dem Leib, während die Tante die Tassen herbeiholte und in den Keller stieg, um Sahne heraufzubefördern.

Da erschien Großtante Kathinka in der Küche mit fliegenden Haubenbändern. »Kommt denn der Kaffee bald? Charlotte sitzt schon auf Kohlen, ich merke es ihr an.«

»Tante, es ist alles im besten Gange, geh ruhig zum Besuch, in zehn Minuten ist alles da. Ihr Mädchen deckt den Kaffeetisch, Tante Agnes ist in der Speisekammer und schneidet Kuchen. Wie gut, daß noch welcher da war!« Tante Emilie sah hochrot aus vor Erregung, in ihrem kleinen Haushalt kam solcher Massenbesuch nicht vor, sie dünkte sich in ihrer jetzigen Rolle sehr wichtig. Die jungen Mädchen nahmen alles ruhiger. Mit Gewandtheit und Anmut erledigten sie ihre Aufgabe, bald war im Eßzimmer hübsch gedeckt, dann gingen sie ins Besuchszimmer und begrüßten die Gäste, beruhigten durch Mienen und einige halblaute Worte die Mutter, daß alles bereit sei, riefen die Kinder, die hocherfreut über den Zuwachs an Truppen noch einmal soviel tobten wie sonst, aber freudig dem Ruf zum Essen folgten, stets empfänglich für alles, was den Magen anging.

Nun saß man an wohlbesetzter Tafel in lebhafter Unterhaltung. Herr Riedeck, so war der junge Fremde vorgestellt worden, hatte seinen Platz in der Nähe der jungen Mädchen. Das veranlaßte Martha zu der Frage, wie er in diese Gegend komme.

»Das ist mein Verdienst, Fräulein Martha«, sagte der junge Herr Dorn. »Wir sind in der Hauptstadt bekanntgeworden, und da wir beide die Musik lieben, habe ich meinen Freund eingeladen.«

»Und Sie, Fräulein Martha«, fügte der junge Fremde höflich hinzu: »Musizieren Sie fleißig?«

»Bis jetzt gar nicht. Ich genieße meine Ferien und habe noch keine Note angesehen.«

»Wollen Sie sich in der Musik ausbilden lassen?« fragte er weiter.

»Nicht um Künstlerin oder Gesanglehrerin zu werden, sondern um meinen Eltern und Bekannten Freude damit zu machen –«

»Schade, Sie haben ein großartiges Talent –«

»Gott hat mir eine gute Stimme verliehen, es ist nicht mein Verdienst.«

Während sie weiter über Kunst und Musik sprachen, unterhielt der junge Herr Dorn sich mit Frieda, die sich plötzlich entschuldigte, aufstand und in die Küche eilte.

»Tante Emilie, man sieht dich immer noch nicht am Kaffeetisch, kommst du nicht?«

»Gar keine Zeit. Muß zum Abend vorrichten.« Sie lief hin und her. »Es sollen Waffeln gebacken werden und eine Fleischspeise bereitet – geh du nur, Kind, zur Gesellschaft, ich habe ja Rieke.«

»Nein, ich helfe dir. Hat Herr – hat Frau Zellers Bruder Kaffee bekommen?«

»Du liebe Zeit, der ist vergessen.«

»Kann er nicht gerufen werden, daß er an der Geselligkeit teilnimmt?«

»Was denkst du! Der kommt nicht, der sitzt vergraben in seinen Büchern und sieht und hört nichts. Schnell, Rieke, bind dir eine andere Schürze um und bring Herrn Marbach seinen Kaffee. Wie gut Frieda, daß du daran dachtest. Wenn du einmal hier bist, Kind, kannst du mir die Eier zu den Waffeln einschlagen.«

Jetzt erschien Frau Charlotte. »Alle sind in den Garten gegangen. Emilie, ich konnte ja nicht eher loskommen, Frau Dorn nahm mich so ganz in Beschlag. Du hast noch nichts vom Besuch gehabt.«

»Ich bin ja froh, daß ich dir helfen kann. Ich besorge alles zum Abendbrot, später stelle ich mich auch ein.«

»Ich würde es so einrichten, Charlotte, daß man sich vorher anmeldete, wenn man so zahlreich kommt.« Tante Agnes stand plötzlich hinter der Hausfrau in der Küche. »Das ist hier nicht Sitte, Agnes. Es hängt oft sehr vom Wetter ab auf dem Lande, oder ob die Pferde zu haben sind. Wir machen es auch so und besuchen unsere Freunde, wenn es uns paßt. Übrigens nach Tisch soll musiziert werden, da mußt du dabei sein, Emilie.«

»Will ich auch. Doch jetzt laßt mir mein Reich allein. Agnes, ich kann wirklich besser ohne dich –«

»Weil wir oft verschiedener Meinung sind«, erklärte Agnes der Schwester Charlotte, die davon schon lange überzeugt war und deshalb Agnes lieber mit in den Garten nahm, damit sie die Damen, die mit Frau Dorn gekommen waren, unterhalten half.

»Frieda«, sagte Martha am Abend zu ihrer Pflegeschwester, als sie allein oben waren und am offenen Fenster auf die vom Mond beschienene Landschaft blickten, »spielt Herr Riedeck nicht wunderschön Violine? Mir ist es damals nicht so aufgefallen, wie an diesem Abend.«

»Ja, er spielt meisterhaft«, versicherte Frieda. »Es war überhaupt ein genußreicher Abend. Die Schwestern der Frau Dorn scheinen auch sehr musikalisch zu sein, die vierhändige Sonate von Beethoven wurde doch ausgezeichnet vorgetragen. Auch deine Lieder haben großen Beifall geerntet.«

»Mir macht das Singen und Spielen große Freude. Ich bin den Eltern sehr dankbar, daß sie mir diese Ausbildung gewähren.«

»Das beste daran ist, daß wir beide dadurch zusammen bleiben können«, sagte Frieda. Dann begaben sie sich nach diesem ereignisreichen Tage zur Ruhe.


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