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Schwere Wolken

Als Frieda am andern Morgen erwachte, mußte sie sich erst besinnen, wo sie war. Sie hatte so lebhaft von ihren kleinen Schülerinnen, von Schloß und Park in Grünbach geträumt, daß sie meinte, dort zu sein. Erst allmählich kam die Erinnerung an das gestern Erlebte. Nach dem erquickenden Schlaf erschien ihr das auf einmal nicht mehr so traurig, sie beschloß, alles zu tun, um Martha von dem Schlag, der sie betroffen hatte, aufzurichten.

Am Kaffeetisch fand sie die Mutter und die Großtante. »Wie geht's Martha?« war ihre erste Frage, nachdem sie beide begrüßt hatte.

»Sie hat gar nicht geschlafen, hat sich viel herumgeworfen und geseufzt, so daß ich auch kein Auge zugetan habe«, sagte Frau Charlotte matt.

»Darf ich Martha sehen?«

»Du kannst es versuchen, liebes Kind.«

Frieda öffnete leise die Tür, die zum Schlafzimmer führte. Sie trat an Marthas Bett. Die lag unbeweglich, die Augen weit geöffnet.

»Liebe Martha«, sagte Frieda mit weicher, liebevoller Stimme und griff nach ihrer Hand.

Sie entzog sie ihr. »Laß mich bitte allein«, sagte sie so entschieden, daß Frieda nicht wagte, mehr zu sagen, und leise verschwand.

»Nicht wahr«, klagte die Pfarrerin, »sie ist so unzugänglich. Man vermag nichts zu tun.«

»Laßt ihr Ruhe«, bat Tante Kathinka. »Es wird schon alles ins Geleis kommen, sie muß erst mit sich im reinen sein. Das Hineinreden schadet nur.«

Man hatte vergeblich auf einen Brief vom Vater gewartet, dann kam endlich ein Telegramm, daß man den Wagen nach Neuburg schicken solle. Mit Bangigkeit sah man dem Kommen des Pfarrers entgegen. Als der Wagen durch das Hoftor fuhr, sagte Tante Kathinka zu Frieda: »Laß uns in den Garten gehen. Es ist besser, Vater und Mutter sind jetzt allein.«

Nach einiger Zeit hörte man einen lauten Aufschrei. Dann war alles still. Diese Stille wurde unheimlich. »Ob wir nicht doch lieber hineingehen, Tante?«

»Gott weiß, was es gegeben hat! Gutes wird Marthas Vater nicht mitgebracht haben. Da steht er in der Gartentür, als ob er uns suche.«

Sie gingen ihm entgegen. Er sah bleich und abgespannt aus. »Christian muß sofort in die Stadt und den Doktor holen«, sagte er unruhig. »Ich habe schon nach ihm gerufen.«

»Ich will ihn suchen, er wird bei den Pferden sein.« Frieda eilte weg. Die Großtante nahm seine Hand in die ihren und sagte: »Das war eine schwere Reise für dich, Rudolf.«

»Die schwerste meines Lebens. Und doch muß ich Gott danken, daß ich mein Kind nicht in den Händen dieses Schurken weiß. Er ist auf und davon mit allem Geld, das er von uns bekommen hat, unter Hinterlassung bedeutender Schulden. Er hat gelebt wie ein Lord, hat gespielt und getrunken und leichtsinnige Dinge getrieben. Und ich Tor hatte so wenig Menschenkenntnis, daß ich ihm vertrauensvoll nicht nur mein Geld, sondern mein Liebstes, meine einzige Tochter, gegeben habe. Meine Frau wird diesen Schlag nicht überleben –«

»Charlotte?« rief die Tante. »Sie war ja diesen Morgen noch leidlich gefaßt und wohl, wie es unter den obwaltenden Umständen sein konnte.«

»Komm und siehe sie. Ich fürchte, ein Schlaganfall hat sie betroffen.« Kathinka folgte dem schwergeprüften Mann ins Wohnzimmer. Da lag seine Frau still und bleich, der Mund war etwas verzogen, Martha kniete vor ihr und rief angstvoll: »Mutter, Mutter!«

Frieda kam zurück und berichtete, daß Christian sofort nach der Stadt gefahren sei. Noch wußte sie nicht, um wen es sich handelte. Sie meinte, Martha sei zusammengebrochen, ahnte nicht, daß es die Mutter war. Der Arzt machte ein bedenkliches Gesicht. Er konstatierte einen Gehirnschlag und empfahl größte Ruhe. Die Kranke wurde mit seiner Hilfe ins Bett gebracht. Frieda erbot sich, bei ihr zu wachen.

»Welch ein Trost, daß du bei uns bist, liebes Kind«, sagte der Pfarrer. »Jetzt ist mein Platz hier, ich werde bei euch bleiben, so lange ihr mich brauchen könnt.«

Es war noch nicht genug Trübsal. Martha, die schon über rasende Kopfschmerzen geklagt hatte, erkrankte an einem heftigen Fieber, da gab es zwei Schwerkranke zu pflegen. Die Hausbewohner wechselten bei den Nachtwachen ab. Es waren schwere trübe Wochen. Die Großtante, die bei ihrem Alter nicht mehr viel leisten konnte, führte die Aufsicht im Hause und war ihnen allen ein Trost. Sie wußte sich in jeder Lage des Lebens zurechtzufinden und verstand es auch, Verzagte zu trösten und Bekümmerte aufzurichten.

Über das Pfarrhaus zu Buschrode war ein Reif gefallen. Dies sonst reich gesegnete Haus, in dem Glück, Friede und Eintracht gewohnt hatten, war durch einen Menschen in seinem Gleichgewicht gestört. Man hatte zu wenig Menschenkenntnis, traute jedem das Beste zu und war nun durch den Leichtsinn und die Schlechtigkeit eines Menschen so erschüttert, daß Mutter und Tochter den Schlag nicht verwinden konnten. Als der Mann abgereist, hatte die Mutter im stillen immer gehofft, es würde sich noch alles zurechtziehen, und war dann bei dem traurigen Berichte ihres Mannes zusammengebrochen. Ihre Kraft war aufgerieben. Sie war an einer Seite ganz gelähmt, und wenn auch das Bewußtsein wiedergekehrt war, so konnte sie nicht sprechen. Nur mit Mühe wurde ihr die Nahrung eingeflößt.

Auch von den Schwestern kamen schlechte Nachrichten. Man hatte angefragt, ob Tante Emilie auf längere Zeit kommen könnte, doch auch da war Krankheit eingekehrt. Tante Agnes, die seit dem Winter gekränkelt, lag an Lungenentzündung danieder, also war auch auf ein Kommen der andern Schwester nicht zu rechnen.

Frieda, die nach Grünbach an Frau Mehnert geschrieben, um Urlaub gebeten und beantragt hatte, ob sie jetzt einige Wochen Ferien machen und dafür die Sommerferien ausfallen lassen dürfe, war die einzige Hilfe. Als sich aber die Sache in die Länge zog und der Pfarrer inständig bat, ihn nicht zu verlassen, schrieb Frieda, Frau Mehnert möchte entscheiden, ob sie einstweilen eine andere Lehrerin nehmen oder sie ganz freigeben wolle. Die Antwort stand noch aus. Die Mutter hatte wohl Blicke der Liebe für ihre Pflegerin, aber keine Worte. Oft machte sie den Versuch zu sprechen, aber die Zunge blieb gelähmt, und der Körper war schwer zu bewegen.

Es war ein schöner warmer Sommer, so daß man die Kranke oft in den Garten tragen konnte. Da lag sie unter den schattigen Bäumen und blühenden Blumen mit traurigem Gesicht. Es war ihr so schwer, daß sie nicht mehr schaffen und wirken konnte wie sonst. Man sah es ihr an.

Martha erholte sich langsam von ihrer Krankheit. Frieda pflegte sie mit aufopfernder Liebe, eingedenk der vielen Liebe, die sie in diesem Hause empfangen hatte. Die Kranke blieb still und verschlossen gegen sie oder war launenhaft, tadelte das Essen, das Bett oder was es sonst gab. Das schmerzte Frieda. Es war ihr immer, als ob sie alles verschuldet habe. Vielleicht verdroß es Martha, daß Frieda, die ihr von der Verbindung mit Riedeck abgeredet hatte, recht gehabt hatte. Frieda blieb geduldig und freundlich, obgleich es ihr bei Marthas launenhaftem Wesen oft schwer wurde. Doch schob sie vieles auf die Krankheit.

Der Pfarrer, der es wohl merkte, war desto freundlicher zu ihr. Das Zusammensein mit ihm war ihr ein Trost und eine Stärkung für die schweren Stunden der Pflege. Er klagte sich selbst an, daß er es früher oft an der rechten Strenge hätte fehlen lassen. »Aber«, fügte er hinzu, »es war unser einziges Kind. Martha war immer freundlich und gut, es wurde ihr auch nicht schwer gemacht. Hätte sie Geschwister gehabt, so wären ihre Fehler im Zusammenleben mit diesen mehr zum Vorschein gekommen. So hatte sie niemand, der sie störte, der ihre Pläne durchkreuzte, und wir Eltern erfüllten ihr gern alle Wünsche. Nun nimmt Gott sie in eine harte Schule. Jetzt wird ihr größter Wunsch durchkreuzt, jetzt heißt es, sich unter Gottes Willen zu beugen, und das Schwere, was er schickt, sich zum Segen werden zu lassen.«

Sobald es Martha besser ging, versuchte der Vater, sie seelsorgerisch zu beeinflussen. Er redete liebevoll und ernst mit ihr, beschrieb ihr, mit welcher Treue Frieda sie Tag und Nacht gepflegt und bis jetzt keinen Dank, kein freundliches Gesicht von ihr bekommen habe. Martha war eine weiche Natur. Die Worte des Vaters gingen ihr zu Herzen. Im Grunde hatte sie Frieda lieb, aber es war, als müßte sie ihren Unmut, ihre Verzweiflung, ihre Trauer über das Geschehene an irgendeinem auslassen. Durch des Vaters Worte getroffen, kam die Reue über sie. So geschah es, daß Frieda, die ihr die Suppe brachte, sie eines Tages weinend und schluchzend fand. »Martha, was ist dir?« fragte sie ängstlich. »Ich bin traurig«, schluchzte sie, »daß ich dir in der letzten Zeit so gar keine Liebe gezeigt habe, und du hast so viel für mich getan.«

Nun war es an Frieda, sie zu trösten. Sie verzieh ihr nur zu gern das mürrische Wesen. »Liebe Martha«, rief sie und umarmte sie, »du warst sehr krank – nun wird alles besser. Du kommst morgen in den Garten, da sollst du sehen, wie herrlich alles grünt und blüht. Mutter liegt auch auf der Veranda.« »Mutter!« seufzte Martha. »Wenn's nur Mutter erst besser ginge.«

Frieda schwieg. Es war längst klargeworden, daß bei ihr an keine Besserung zu denken war. Der Schlag hatte sie zu unerwartet getroffen. Man konnte nicht wissen, ob sich der Zustand noch in die Länge ziehen werde, oder ob durch einen erneuten Anfall, den der Arzt befürchtete, das Ende bald kommen würde. Von den Tanten kamen auch schlechte Nachrichten. Tante Agnes war noch sehr schwach, der Arzt wünschte für sie einen längeren Aufenthalt im Süden, also war an ein Kommen der Tante Emilie als Ablösung für Frieda gar nicht zu denken. So hatte sie noch einmal nach Grünbach schreiben und um eine endgültige Entscheidung bitten müssen. In diesen Tagen war die Antwort eingetroffen.

Frau Mehnert verzichtete auf Friedas Wiederkommen. Sie begriff vollständig, daß Frieda durch Pflichten gebunden war, die höher standen als die, die sie an Grünbach banden. Sie erkannte dankbar an, was Frieda ihr und den Kindern gewesen war, wie ihr Einfluß auf sie so gut gewesen sei, wie lebhaft sie bedauere, daß es so kommen mußte. Dem Brief lagen Schreiben der Kinder bei, allerliebste, kindliche Briefe, die die Liebe zeigten, die sie zu ihrer Lehrerin hatten. Sie bedauerten alle, daß sie nicht wiederkam.

Das Aufgeben der Stelle verursachte Frieda mehr Kampf, als sie geglaubt hatte. Sie hatte so deutlich gefühlt, daß sie den Kindern etwas sein konnte, daß sie in Grünbach am rechten Platz war. Dazu kam, daß sie mit Leib und Seele Lehrerin war und das Krankenpflegen von Haus aus nicht zu ihren besonderen Neigungen gehörte. Aber sie ging den Weg, den Gott ihr vorschrieb.

Es tat Frieda auch leid, daß der Verkehr mit Doktors dadurch sein Ende erreichte. Das Verhältnis zueinander war immer freundschaftlicher geworden, Lina schloß sich ihr immer vertrauensvoller an. Die Predigten des jungen Pfarrers in Holtenow machten auf sie und ihre Mutter sichtlichen Eindruck, so daß die Arztfrau mitunter sagte: »Ich habe nie gewußt, daß es so etwas gäbe, daß unsere Herzen, wenn man tiefer hineinschaut, nicht so sind, wie wir's uns vorstellen.« Die Aussprache über religiöse Fragen mit einer Christin, wie Frau Zeller, war für Mutter und Tochter von großem Segen. So konnte es nicht ausbleiben, daß bald eine innige Freundschaft zwischen Doktor- und Pfarrhaus entstand. Frieda wäre gern als dritte im Bunde unter ihnen geblieben. Aber Gott hatte es anders beschlossen, und so wollte sie in Geduld ausharren.

Anfang August kam das Ende. Sanft und still entschlief die gute Mutter. Das Leid ihres Kindes hatte sie nicht verwinden können. Alle waren längst auf ihren Heimgang vorbereitet, man mußte Gott danken, der sie von ihrem qualvollen Leiden erlöste. So war die Trauer still, wenn auch tief schmerzlich. Das ganze Dorf nahm innigen Anteil.

»Unsere Mutter ist von uns gegangen«, klagte man. »Wer besucht nun unsere Kranken, wer nimmt sich der Armen und Traurigen an?« Die Leute hatten recht, die Frau Pfarrer war eine Mutter ihres Dorfes gewesen, im eigentlichen Sinne des Wortes.

Der Pfarrer war in diesen Leidenswochen sichtlich gealtert. Frieda mußte oft denken: »Welch ein reichgesegnetes Haus war es, Glück, Friede und Freude herrschte darin, Gastfreundschaft war eine der Haupttugenden. Nun, da die Krone des Hauses fehlte, die mit sanftem stillen Geist regiert hatte, war es still, einsam und öde geworden.«

»Vater«, sagte eines Tages Martha, »ich will versuchen, dir die Mutter in etwa zu ersetzen. Bis jetzt war ich selbstsüchtig, jagte mit Unverstand meinem eigenen Glück nach, suchte es zu ertrotzen. Wie oft habe ich Mutter bestürmt, mir beizustehen, wenn du Bedenken äußertest. Sie hat es bis zuletzt getan, bis der harte Schlag sie zu Boden warf.« Der Pfarrer war tiefbewegt, als er Martha so reden hörte. Wenn sie zu dieser Erkenntnis gekommen war, würde ihre Seele genesen, und darüber freute er sich.

Martha war aber durch die Krankheit und die inneren Erlebnisse körperlich sehr mitgenommen, auch Frieda sah blaß und hohlwangig aus. Sie hatte Großes in den letzten Monaten geleistet, nun war die Kraft erschöpft. Der Arzt verlangte dringend für die beiden Mädchen eine Kur zur Stärkung der angegriffenen Gesundheit. Er schlug ein Sanatorium vor, das ihm persönlich bekannt war und das große Erfolge aufzuweisen hatte. Martha wollte nichts davon wissen, sie bliebe beim Vater, der brauche sie nötig. Erst als dieser ihr vorstellte, daß eine gesunde Tochter ihm mehr nütze als eine kranke, schwächliche, da entschloß sie sich, den Rat des Arztes zu befolgen, zumal die Großtante erklärt hatte, dem Vater Gesellschaft zu leisten. »Wenn ich auch nicht viel ausrichten kann, so kann ich doch ein Auge auf alles haben«, meinte sie. Martha aber äußerte zu Frieda: »Du kommst, wenn die Kur beendet ist, wieder mit nach Buschrode, dann bleiben wir immer zusammen.«

Dem widersetzte sich Frieda entschieden. Sie hielt es für besser, daß Vater und Tochter allein blieben. Um so inniger würden sie sich aneinander anschließen. Auch liebte Frieda ihren Beruf so, daß sie dringend wünschte, im Herbst wieder eine Stelle anzunehmen. Sie versprach aber, Buschrode immer als ihre Heimat anzusehen und alle Ferien dort zu verleben. »Gott wird mich schon finden lassen, was er für mich ersehen hat«, sagte sie zuversichtlich. So reisten die beiden Mädchen ab.


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