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Schulleben

Nun hatte das Schulleben begonnen. Damit erschloß sich für Frieda eine neue Welt. Freilich, die Schatten blieben nicht aus, aber die Kleine hatte ein sonniges Gemüt, das immer in allem Gutes sah und sich nicht leicht bedrücken ließ. Durch die gute Erziehung der Mutter war sie stets darauf hingewiesen worden, nie schlecht von den Menschen zu denken, sondern alles zum Besten zu kehren. So verlor manches, was im Hause vorging, für sie die Schärfe, manches verstand sie noch nicht, es ging spurlos an ihr vorüber.

Die Tage waren jetzt reichlich besetzt. Sie mußte sehr zeitig aufstehen, da es vor der Schule mancherlei zu tun gab. Wenn sie sich angezogen hatte, mußte das Kämmerchen in Ordnung gebracht werden, der Vogel mußte sein Futter haben, nach dem Kaffee mußte sie den Tisch abräumen, die Tassen spülen, dann überall den Staub wischen. Sie begann im Herrenzimmer, um fertig zu sein, wenn die Angestellten kamen. Der blonde, etwas verwachsene Herr schritt, wenn er ihr begegnete, ernst und feierlich mit steifem Gruß an ihr vorüber. Der schwarzgelockte sah heiter und wohlgemut drein. Begegnete er ihr auf dem Schulweg, zog er den Hut tief und grüßte mit einem Lächeln wie ein alter Bekannter.

In der Schule wurde sie als Fremde natürlich zuerst angestarrt und beobachtet, bis eine Mitschülerin sie anredete und endlose Fragen an sie richtete, auf deren Beantwortung alle andern mit Spannung lauschten. Woher sie sei? Ob sie noch Eltern habe? Bei wem sie hier wohne? Ob sie arm oder reich sei? Ob sie gerne lernen möge? Sie antwortete auf alles, bemerkte aber, daß sich, als sie auf die Frage »ob arm oder reich«, freimütig »arm« antwortete, die Mehrheit zurückzog, als wollte sie sagen: »Dann haben wir das Interesse an dir verloren, dann können wir dich in unserem Kreis nicht gebrauchen.«

Wenn die Schule aus war, galt es schnell nach Hause zu eilen. Es war ihr aufgetragen worden, den Tisch zu decken und der Tante beim Anrichten in der Küche zu helfen. So lange es Veilchen gab, mußte sie sie nach Tisch pflücken und, wie beim ersten Mal, zu Sträußchen zusammenbinden. Frau Benak holte sie am Nachmittag ab und brachte den andern Morgen schönes Geld dafür. Nachmittags mußte sie mit der Tante nähen und in der Dämmerung stricken; sie merkte bald, daß auch mit den Handarbeiten Geld verdient wurde. Denn sie hatte ab und zu in den Wäscheläden Pakete abzuliefern und nahm Geld dafür in Empfang. Erst am Abend, wenn die Lampe brannte, durfte sie ihre Schularbeiten machen. Doch gab es keine zweite Lampe, wenn Besuch kam. Sie mußte am Tisch sitzen bleiben, an dem lebhafte Unterhaltung geführt wurde; das war mitunter recht schwierig, zumal wenn es einen Aufsatz zu überlegen oder Gedichte auswendig zu lernen gab. Besser wurde alles, als es dem Sommer zuging und die liebe Sonne zu allem freundliches Licht spendete.

Der Vorgarten war hübsch, mannigfache Blumen blühten, je nach der Jahreszeit, aber Frieda merkte bald, daß auch sie mehr zum Nutzen als zur Freude da waren. Es blieb ihr Amt, sie zu pflücken und zu Sträußen zu ordnen, während es Frau Benaks Aufgabe war, dafür auf dem Markt die höchsten Preise zu erzielen. Einmal, als die Rosen blühten und Frieda sie pflückte, bat eine vorübergehende Mitschülerin um eine, die das Kind ihr unbedenklich gab. Aber Frau Wilms hatte am Fenster gestanden und diese Freigebigkeit bemerkt. Frieda zog sich einen Verweis zu, so daß sie derartiges nicht wieder wagte.

In der Schule stand Frieda ziemlich allein. Die Mitschülerinnen betrachteten sie wie eine Fremde, die nicht in ihren Kreis gehörte, sie ließen sie links liegen. Doch erwarb sie sich bald durch Fleiß und gutes Betragen die Zufriedenheit und Liebe ihrer Lehrer. Es dauerte nicht lange, so war sie eine der ersten in der Klasse.

Als sie eines Abends ihre Schularbeiten machte, klopfte es. Ein Mädchen aus ihrer Klasse kam zu ihr. Es war eine, die sich bis jetzt immer etwas hochmütig gegen sie gezeigt hatte. Jetzt erschien sie mit einem freundlichen Gesicht und mit schönen Worten. Sie wußte nicht mehr die gegebene Disposition zu einem Aufsatz, war sich auch nicht klar, wie die Arbeit ausgeführt werden solle, und bat Frieda, ihr behilflich zu sein. Sie war allein zu Hause und fürchtete nun, es möchte ihrer Tante nicht recht sein, wenn ihre Klassenkameradin sich unten in ihrem Zimmer aufhielt. Deshalb nahm sie sie mit hinauf in ihr Schlafkämmerlein, das freilich nur ein schmales Tischchen aufzuweisen hatte; es genügte jedoch zum Schreiben. Bald hatte Herta, so hieß das junge Mädchen, was sie wünschte. Sie dankte sehr und sah sich in dem Kämmerlein um. Plötzlich rief sie: »Willst du mir den Kanarienvogel nicht verkaufen? ich habe mir schon lange einen gewünscht.«

Frieda verneinte dies entschieden.

»Aber er nützt dir ja gar nicht. Du bist meistens unten, wie du vorhin sagtest.« – »Ich freue mich aber morgens und abends über ihn, oft gehe ich am Tage eine Weile hinauf und spiele mit ihm. Er kennt mich, und ich liebe ihn so sehr!«

»Bei mir würde er es aber viel besser haben. Ich habe ein feines Zimmer für mich allein, dort würde es ihm sicher besser gefallen.« – »Das glaube ich nicht, er ist zu sehr an mich gewöhnt«, entgegnete Frieda, und obgleich Herta alles aufbot, ihr den Vogel abspenstig zu machen, sie blieb fest.

Am andern Morgen bemerkte sie zu ihrem Schrecken, daß das Vogelfutter merklich abgenommen hatte. Sie bekam vom Onkel ein ganz kleines Taschengeld, für das sie Tinte, Federn und Papier kaufen sollte, davon hatte sie immer eine Kleinigkeit zum Futter aufgespart, jetzt war nur noch so viel im Beutelchen, daß es zu Federn langte, die sie notwendig gebrauchte. Unter keinen Umständen wollte sie ihren Vogel hungern lassen. Lieber nahm sie eine Rüge in der Schule hin wegen schlechter Schrift. Sie bekam ja am ersten des Monats neues Geld. Dann wollte sie neue Federn kaufen und doppelte Mühe aufs Schreiben verwenden, um die Rüge wieder auszuwetzen. Es war ihr eine Befriedigung, als sie getadelt wurde, da sie sie um ihres Lieblings willen bekam. Es war, als ob er es wüßte, sein Gesang und sein Trillern klang doppelt lieblich in ihren Ohren.

Eines Tages gingen in der Zwischenpause die jungen Mädchen unter den Bäumen auf dem Schulhof, wo sie Schatten vor der heißen Augustsonne suchten. Da trat eine Kleine auf Frieda mit bedeutsamer Miene zu. Sie hatte sich immer freundlich zu ihr gestellt, zum vertraulichen Verkehr war es jedoch noch nicht gekommen. Jetzt schien es soweit. Sie faßte sie unter den Arm und sagte: »Du, ich will dir etwas ganz Schönes sagen. In einigen Tagen ist mein Geburtstag. Meine Eltern haben mir erlaubt, acht junge Mädchen einzuladen. Du sollst auch kommen, ich lade dich dazu zum Freitagnachmittag und -abend ein.«

Frieda hatte eine Einladung hier noch nie bekommen, es war etwas so sehr Schönes; sie wußte es von früher. Plötzlich nahm das kleine Gesicht aber einen bedenklichen Ausdruck an: »Wenn ich nur darf«, stotterte sie.

»Das darf man allemal«, sagte Klärchen entschieden. »Oder hast du es nicht gut bei deinen Verwandten?«

Frieda schwieg. Nach einer Pause sagte sie: »Ich werde meine Tante fragen, ich werde dir morgen Antwort geben!«

Sie konnte sich schon denken, wie die Antwort ausfiel: »In Gesellschaften gehst du nicht, mein Kind. Noch dazu eine Waise! Das paßt ja gar nicht. Du hast in der Schule Gesellschaft genug. Wenn du eine Einladung annimmst, will man auch eingeladen werden. Wie werde ich Gesellschaften geben! Das paßt mir gar nicht. Nein, das paßt mir gar nicht«, bekräftigte sie noch einmal.

Frieda sagte am folgenden Tage ab, worauf Klärchen traurig äußerte: »Schade, ich wollte dich gern zu meiner Freundin haben, denn ich kann dich gut leiden, aber das geht nun nicht.«

Mit diesen Worten faßte sie eine andere unter den Arm und sagte: »Aber du kommst doch?«

»Natürlich«, war die Antwort. Dann flüsterten sie etwas miteinander und entfernten sich.

»Ich wollte dich zu meiner Freundin haben«, diese Worte klangen in Friedas Herzen noch lange nach. Wie gern hätte sie eine Freundin gehabt. Aber sie war ja eine Waise, vielleicht schickte sich das auch nicht für sie.

Als sie aber am Freitagnachmittag in ihrer Kammer am offenen Fenster stand, da mußte sie weinen. Der Himmel war blau, die Sonne strahlend, wie schön mußte es draußen im Walde sein, wo das Fest gefeiert werden sollte. Wie gern wäre sie dabei, zumal da sie vielleicht Klärchen zur Freundin bekommen hätte!

Während sie ihrem Kummer freien Lauf ließ, in der Meinung, niemand höre und sehe sie, hustete jemand vernehmlich. Sie zog das Taschentuch vom Gesicht und bemerkte, daß es vom Nachbarhause kam, von einem Fenster in der grauen Wand. Das Haus hatte sonst an der Seite keine Fenster, nur unter dem Dach im Giebel befand sich eins. Es war nur klein, hatte aber schneeweiße Vorhänge, und blühende Blumen standen auf dem Sims. Frieda hatte bisher nie darauf geachtet, da sie den Kopf in die Höhe recken mußte, um es zu sehen. An diesem Fenster, das geöffnet war, stand eine alte Dame in schlichtem weißem Häubchen und winkte mit der Hand, was nichts anderes bedeuten konnte als: »Komm doch einmal herüber zu mir, ich meine es gut mit dir.«

Es zog sie etwas ab von ihrem Kummer. Sie winkte unter Tränen wieder, worauf die Alte noch einmal winkte und dann das Fenster schloß. Ob die Tante diesen Besuch erlauben würde? Oder sollte sie es ohne Erlaubnis wagen? Nein, sie wollte offen und ehrlich zu Werke gehen. Schlug die Tante es ab, war es nicht so schwer wie das Verbot, zur Freundin zu gehen.

Frau Wilms schlug es nicht ab. Sie war sogar freundlicher als sonst, als sie sagte: »Du kannst gern ein halbes Stündchen fortgehen, komm aber nicht spät wieder, wir müssen dann im Garten gießen, es ist alles sehr trocken.«

Nachdem sie die Haare gebürstet und das verweinte Gesicht gewaschen hatte, ging sie ins Nachbarhaus. Sie stieg die Treppe hinauf und klopfte. Ein Mädchen öffnete. »Wohnt hier eine alte Dame mit einem weißen Häubchen?«

»Eine Treppe höher.« Mit diesen Worten schloß das Mädchen die Tür. Nachdem sie die zweite Treppe hinaufgegangen war, kam sie auf einen großen Boden, an dessen äußerstem Ende sich eine Tür befand, worauf ein Name stand. Sie klopfte leise. Da tat sich die Tür auf, vor ihr stand eine freundliche alte Dame, die ihr die Hand entgegenstreckte und sagte: »Da ist ja meine kleine Nachbarin, die immer ihr Vögelchen vor dem Fenster füttert, die ich schon lange kenne.« Erstaunt sah Frieda zu ihr auf. »Ja du kennst mich nicht, das glaube ich schon –«

»Ich habe nie bemerkt, daß oben im Giebel ein Fenster war –«

»Glaub's schon, hast nie in die Höhe zu mir hinaufgeschaut. Ich lebe hier ganz im verborgenen. Aber wir Giebelbewohnerinnen müssen doch gute Nachbarschaft halten. Komm, Kleine, setze dich zu mir und erzähle mir ein wenig.«

Die freundliche Art der alten Dame tat Frieda sehr wohl. Es war, als ob ein erquickender Sonnenstrahl ihr ins Herz schien. Es währte nicht lange, so plauderte sie von diesem und jenem, und eh' sie sich's versah, war die halbe Stunde um. Gewissenhaft stand sie auf und verabschiedete sich.

»Wirst du mich wieder einmal besuchen?«

»Gern«, war die Antwort, »wenn ich Erlaubnis bekomme.«

»Ich werde mich immer freuen, wenn du kommst, ich bin sehr einsam hier oben.« –

Der Sommer verging, die Tage nahmen ab, auch die Hitze ließ nach. Es kamen stürmische Winde und kühle Tage. Wie wurde es nur mit dem Vogel, wenn der Winter kam? Daran hatte Frieda bis jetzt noch gar nicht gedacht. Wenn es kalt war und fror, konnte er ja unmöglich in der Dachkammer bleiben, vielleicht erlaubte die Tante, daß er im Wohnzimmer stehen durfte. Eines Tages wagte sie darum zu bitten. Es war im Oktober, sie fürchtete, ihr Liebling werde krank und vielleicht sterben. Die Tante machte ein unzufriedenes Gesicht, erlaubte es aber dessenungeachtet unter der Bedingung, daß Frieda jedesmal, wenn der Vogel zu viel sänge oder schmettere, ein Tuch über den Käfig hängen müsse.

Während andere Leute gern das Singen eines Kanarienvogels hörten und sich darüber freuten, gab das der Frau Wilms stets Veranlassung zur Unzufriedenheit und zum Schelten. Oft am Tage mußte Frieda den Käfig zudecken, da verstummte das Tierchen und saß trübselig da, und seine Herrin trauerte mit ihm, hoffte aber auf den Frühling und Sommer, wenn das Vöglein wieder nach Herzenslust singen durfte.

Als Frieda eines Tages in der Stadt war, um für die Tante Besorgungen zu machen, klopfte es. Herta wünschte wieder einmal Hilfe bei ihrer Arbeit. Die Tante wies sie mit dem Bemerken ab, daß Frieda nicht daheim sei. »O«, rief Herta, »da ist ja der kleine Vogel. Warum ist er zugedeckt?«

»Weil ich Kopfschmerzen von dem Gezwitscher bekomme. Ich wollte, wir wären den Vogel los. Er stört mich täglich.«

»Ich hätte ihn gern. Ich habe Frieda schon im Sommer gebeten, ihn mir zu verkaufen, aber sie wollte nicht, obgleich ich ihr viel Geld dafür geboten habe.«

»Du hast ihr Geld geboten, und sie hat es abgeschlagen? Das ist sehr töricht, zumal Frieda arm ist und für das Geld ein Kleidungsstück gut gebrauchen könnte.«

Froh, daß die Tante nicht abgeneigt war, den Vogel los zu sein, rief sie: »Verkaufen Sie mir doch das Tier, ich zahle gern fünf Mark dafür.«

»Fünf Mark ist der Vogel allein wert, da er ein Männchen ist und ein guter Sänger. Der Drahtkäfig ist sehr schön und auch seine fünf Mark wert. Unter zehn Mark lassen wir den Vogel nicht.«

»Ich werde schnell nach Hause gehen und die Eltern fragen, ob sie mir fünf Mark dazu schenken wollen. Fünf Mark habe ich selber.« Da Herta in der Nachbarschaft wohnte, war sie bald wieder da.

»Meine Eltern haben mir erlaubt, den Vogel zu kaufen. Soll ich warten, bis Frieda zurück ist?«

»Ich kann den Handel für sie abschließen, es ist am besten, der Vogel stört uns nicht mehr. Sie kann dich ja besuchen, wenn sie ihn sehen will.«

Froh, keinen Widerstand zu finden, zahlte Herta das Geld, band das Tuch sorgfältig fest über den Käfig und verließ das Haus.

Als Frieda nach Hause kam und einen erschrockenen Blick auf den Platz warf, wo das Tierchen gestanden hatte, sagte Frau Wilms: »Ja, der Vogel ist fort. Herta Wilde war hier und hat ein schönes Geld dafür gegeben. Du kannst ihn so oft sehen, wie du willst, hat Herta gesagt, und ich bin den Quälgeist los.«

»Aber Tante!« war alles, was Frieda herausbrachte. In ihrem Herzen stieg eine Bitterkeit auf, die sie bis dahin nicht gekannt hatte.

»Für das Geld soll eine warme Winterjacke gekauft werden«, fuhr die Tante begütigend fort, »du kannst morgen mit mir in die Stadt gehen«.

»Meine Winterjacke ist noch ganz gut, ich brauche keine neue.« Frau Wilms merkte wohl, wie weh sie dem Kinde getan hatte, aber sie hatte nie gelernt, an andere zu denken, so hielt sie es für natürlich, daß ihr Wohlbefinden vorging.

Frieda hatte hart zu kämpfen, um ihren Unwillen zu überwinden. Was würde wohl ihre Mutter gesagt haben? Billigen konnte sie es nicht, daß die Tante ihr das Liebste genommen, was sie auf Erden hatte. Aber durfte sie murren? War nicht die Tante ihre Vorgesetzte, Stellvertreterin der Mutter? Hatte sie dieser nicht versprochen, alle Menschen liebzuhaben, und nun konnte sie nicht einmal Onkel und Tante von Herzen gut sein?

Als sie abends in ihr Schlafkämmerlein kam, mußte sie bitterlich weinen, wenn sie an das verkaufte Vögelchen dachte, bat aber Gott, ihr zu helfen, daß sie mit der Tante nicht länger zürne. Als sie am andern Morgen den Spruch über ihrem Bett las: »Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen«, tröstete sie sich mit dem Gedanken, daß das Vögelchen es nun doch vielleicht besser habe, und daß sie nun nicht mehr die Klagen der Tante über das Singen des Tierchens hören werde.

Zu der alten Dame im Nachbarhause zog sie es mächtig. Sie erinnerte in ihrem Wesen etwas an die eigene Mutter, sie ging so gern zu ihr. Aber leider kam sie nur selten dazu, die Zeit außer den Schulstunden war reichlich besetzt. Aber in diesen Tagen verlangte es sie nach einem Besuch bei der alten Dame, und da sie ein halbes Stündchen Urlaub bekam, ging sie hinüber. Es war so traulich und heimatlich dort; Frau Drewes, so hieß ihre alte Freundin, hatte Interesse für sie und ihre Angelegenheiten. Als eine Frage nach dem Vogel kam, erzählte sie unter Tränen sein Schicksal. Die alte Dame fühlte viel Mitleid mit der Kleinen, von dem sie aber nichts merken ließ, sondern sie suchte sie zu trösten und zu erheitern.

Sie brachte bald die Rede auf Weihnachten, erzählte ihr, wie schön es hier in der großen Stadt sei, wie herrlich die Läden geschmückt würden, wie sie dann gehen und alles ansehen müsse. »Du darfst dir auch etwas wünschen«, sagte sie.

»Das werde ich wohl nicht können«, war die kleinlaute Antwort. »Meine Verwandten sind sehr arm.«

Frau Drewes machte ein erstauntes Gesicht und schüttelte den Kopf. Sie mochte es wohl besser wissen. »Wünsche dir immerhin etwas«, sagte sie, »sage mir einmal einen recht schönen Wunsch«.

Das junge Mädchen dachte eine Weile nach. Plötzlich sagte sie: »Ich wüßte schon etwas sehr Schönes.«

»Nun, vertraue es mir an.«

»Ich – ich wünsche mir ein Licht.«

»Ein Licht!« rief die Dame erstaunt. »Ein Licht wünschest du dir? Es gibt zu Weihnachten, will's Gott, viele Lichter –«

»Ich wünsche mir aber ein langes, recht dickes Licht und – ein Kästchen mit Streichhölzern.«

Frau Drewes war betroffen über diesen Wunsch, als ihr aber die Kleine den Grund sagte, begriff sie ihn vollkommen. »Ich muß abends im Finstern zu Bett gehen, daran bin ich jetzt gewöhnt, obwohl ich gern noch ein Stück aus der Bibel lese, denn Hausandacht gibt es nicht bei uns. Werden aber die Tage kürzer, wie soll ich es morgens machen, wenn ich kein Licht habe? Ich muß mich ordentlich zur Schule ankleiden, muß die Schulbücher zurechtlegen, mein Zimmer in Ordnung bringen, ich kann das nicht ohne Beleuchtung. Bitten mag ich die Tante nicht darum, sie würde es mir gewiß abschlagen.«

»Nun gut, ich will mir's merken«, war die Antwort.

Für sich dachte Frieda, daß sie das Licht wohl schon früher würde gebrauchen können, die dunklen November- und Dezembertage standen ihr unheimlich wie ein Gespenst vor Augen. Aber die Sorge sollte nicht lange währen.

Frau Wilms hatte ihr als neueste Pflicht das Heizen der Wohnstube und des Kontors übertragen. »Du mußt ein klein wenig früher aufstehen, damit die Herren es warm finden, wenn sie in ihre Schreibstube kommen.« Das sah Frieda ein. Frau Benak, die erst später erschien, setzte ihr den Tag vorher Kohlen und Holz zum Anzünden hin, und bald hatte die Kleine es kunstgerecht gelernt, das Feuer anzufachen. Jetzt, Ende Oktober und Anfang November, konnte sie früh noch gerade ohne Licht sehen.

Eines Morgens hatte sie im Kontor gerade geheizt und freute sich der hellen Flamme, die es ihr ermöglichte, noch einmal kauernd vor dem Ofen ihr französisches Gedicht durchzulesen.

Da klingelte es leise an der Haustür, ein Klopfen am Kontor zu so früher Stunde ließ sie aufschrecken. Als sie furchtsam näher kam, trat der blonde, etwas verwachsene junge Mann mit ernstem, verlegenem Gesicht auf sie zu. »Fräulein«, begann er, da unterbrach sie ihn: »Ich heiße Frieda, bin erst zwölf Jahre alt, bitte, nennen Sie mich nicht Fräulein –«

»Nun also, Frieda, ich soll von meiner Tante grüßen und dies kleine Paket an Sie abgeben.«

Erstaunt sah sie ihn an. »Von Ihrer Tante, ich kenne sie ja gar nicht.«

»Frau Drewes im Nachbarhause ist meine Tante.«

Sie nahm das Paket und dankte, verwundert, was es sein könnte. Der junge Mann legte den Überzieher ab und ging an sein Schreibpult.

»Bleiben Sie schon hier, Herr Richter?« fragte sie.

»Ich habe zur Morgenpost noch einiges zu erledigen, da benutzte ich die günstige Gelegenheit, Ihnen dies einzuhändigen. Sie sollen es allein öffnen, hat mir die Tante empfohlen.«

Frieda dankte noch einmal und eilte nach oben, um das verheißungsvolle Paket zu öffnen. Was fand sie darin? Ein langes Kistchen mit vier dicken Lichtern, einen niedlichen Bronzeleuchter und ein Paket Streichhölzer. Ein Zettel lag dabei mit den Worten: »Ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, nur oben zu gebrauchen.«

Ein Strahl reinster Freude kam aus Friedas Augen. Nun war sie aus aller Not. Sie war so glücklich, daß sie eins der Lichter gleich auf den Leuchter setzte und probierte. Es erhellte das Kämmerchen großartig. Sie dünkte sich reich wie ein Krösus. Nun konnte sie ja auf Jahre hinaus immer und immer Beleuchtung haben. Sorgfältig löschte sie das Licht wieder und barg ihren Schatz im innersten Fach der Kommode. Dann sandte sie einen dankbaren Blick nach dem oberen Fenster der Nachbarin. Wie wollte sie ihr danken! Ihr Gesicht strahlte den ganzen Tag vor Freude über diesen Liebesbeweis, so daß die Tante sie oft verstohlen von der Seite ansah und dachte: So vergnügt hat sie seit dem Verlust des Vogels lange nicht ausgesehen.


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