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Auf der Suche

Herr Gruber hatte nach dem Tode seines Onkels sein Geschäft in andere Hände gegeben und sah sich nun als einziger Erbe im Besitz eines großen Vermögens und als Chef einer weltbekannten Firma. Er hatte nie daran gedacht, diesen Onkel, der einen Sohn hatte, zu beerben, aber der Sohn war durch einen Unglücksfall ums Leben gekommen; so war Gruber unerwarteterweise zu einem reichen Mann geworden.

Eine schwere Verpflichtung war ihm jedoch auferlegt, und dieser nachzukommen hatte es bereits viele Anstrengungen gekostet, dies um so mehr, als er Schwierigkeiten hatte, sich im Geschäft einzuleben und als Chef über die vielen meist älteren Beamten die rechte Stellung zu finden. Das Geschäftshaus in der Stadt behagte ihm als Wohnung nicht, obwohl der erste Stock üppig eingerichtet war. Auf Luxus gab er nichts, wohl aber auf Luft, Freiheit und schöne Aussicht. Er kaufte sich also in einer der Vorstädte eine hübsche Villa mit großem Garten und gab die Wohnungen im Geschäftshaus für ältere Beamte und deren Familien frei.

Gruber war ein solider, durchaus rechtlich denkender Mann von christlicher Gesinnung. Deshalb lastete auf ihm das Unrecht, das sein Onkel an der Witwe seines ehemaligen Teilhabers begangen, doppelt schwer. Er hatte schon verschiedene Erkundigungen eingezogen, allein es war zu lange her, als daß sie von Erfolg hätten sein können. Wo mochte Frau Luise Senker weilen? Lebte sie vielleicht in bitterer Armut? Oder war sie etwa schon tot? Diese Gedanken machten ihm viel zu schaffen, besonders aber, wenn sie nicht mehr erfahren könnte, daß der Mann, der sie betrogen, es bitter bereut und dafür gesorgt habe, daß sie zu ihrem Recht käme. Einen Aufruf in der Zeitung wollte er seines Onkels wegen nicht erlassen und seine letzte Bitte, die Nachforschung in der Stille zu betreiben, erfüllen.

Da geschah es eines Tages, daß ein altes Mütterchen auf dem großen Hof des Geschäftshauses suchend umherging. In der Meinung, es sei eine Bettlerin, zog er seine Börse und wollte ihr ein Geldstück einhändigen. »Ich bettle nicht«, sagte die Alte, »ich suche nur meinen Sohn, der hier als Markthelfer angestellt ist.« Dabei reckte sie den Kopf mit Stolz in die Höhe, als wollte sie sagen: »Ich habe noch nie gebettelt, und habe es nicht nötig.«

Gruber fragte, wie sie heiße, und als sie ihren Namen nannte, sagte er: »Woldach, so, also die Mutter von Ludwig Woldach! Das ist ein treuer und gewissenhafter Arbeiter, den schätze ich.«

»Das freut mich, Herr, um so mehr, als die Woldachs schon lange hier in Diensten stehen. Mein Mann war lange bei dem vorigen Herrn als Kutscher und vorher schon sein Vater bei dessen Vater.«

»Nun«, unterbrach der junge Chef die Alte, »das ist recht, das hört man gern. Treue ist etwas sehr Wertvolles. Wo man Treue findet, da hat man Vertrauen.«

Da gewann die Alte Mut und Lust weiter zu plaudern. »Ich habe sogar dort oben«, sie zeigte nach dem zweiten Stockwerk, »dort oben hab ich lange als Köchin gedient bei der – ach, sie wird nun gewiß schon gestorben sein, die Frau Senker, sie war eine so zarte gebrechliche Frau. Was mag nur aus ihr geworden sein!«

Gruber hatte gespannt zugehört. »Eine Frau Senker haben Sie gekannt?«

»Ich sage ja, ich bin Köchin dort gewesen. Herr Senker starb in den besten Jahren, und dann kam die traurige Zeit, wo Frau Senker immer weinte und sich gar nicht trösten lassen wollte. Sie müssen wohl ihr ganzes Geld verloren haben. Und dann faßte sie auf einmal den Entschluß wegzuziehen. Ich war damals nicht mehr bei ihr, war schon verheiratet, ich weiß nur, daß sie weit oben nach Norden in eine kleine Stadt gezogen ist.«

»Wissen Sie den Namen der Stadt?« Sie legte die Hand an die Stirn und dachte nach. »Ich kann's jetzt nicht sagen, wie die Stadt hieß. Aber sie hat mir einmal die Adresse gegeben, ich sollte ihr schreiben. Hab's auch getan, obgleich mir das Schreiben recht sauer ankommt. Ich kann wohl sagen, ich brate lieber einen großen Kalbsbraten oder mache einen schönen Flammeri, als daß ich einen Brief zustande bringe, dabei schwitze ich mehr. Doch – ich habe geschrieben, habe aber nie eine Antwort bekommen.«

Gruber, der gern zum Ziel kommen wollte, fragte noch einmal energisch: »Haben Sie denn die Adresse wirklich, dann bringen Sie sie mir.« Am Abend, noch vor Kontorschluß, kam die Alte wirklich an und brachte auf einem vergilbten Papier die Adresse. Sie war in zierlicher Damenhand geschrieben und lautete: »Frau Luise Senker, Steinfeld i. M.« Also da hin, sobald es möglich! Man reist schnell in heutiger Zeit, in zwei Tagen würde es sich machen lassen. Er war so froh darüber, daß er endlich einen Anhalt hatte, sich endlich von seiner Verpflichtung befreien zu können.

Schon am folgenden Tage war er auf der Reise. Das Städtchen war Bahnstation, so kam er schon in später Nachmittagsstunde an. Es war Sommerzeit und sehr belebt auf den Straßen. Vor den Türen saßen die Leute und plauderten miteinander, die Kinder spielten und tobten, die jungen Mädchen wanderten Arm in Arm, um den schönen Abend im Freien zu genießen. Bereits auf dem Bahnhof hatte Gruber nach Frau Senker gefragt. Da konnte ihm niemand Auskunft geben. Dann fragte er verschiedene Leute, die ihm begegneten, aber auch diese schüttelten den Kopf, und einer meinte: »So eine hat hier nie gewohnt.«

»Sie soll aber hier gewohnt haben!« rief Gruber ärgerlich. »Ist sie denn wieder fortgezogen?«

Da kam ein junges Mädchen und fragte, wer gesucht würde. Als sie den Namen hörte, leuchtete es wie Verständnis über ihr Gesicht. Sie rief: »Die Frau Senker habe ich gekannt, sie wohnte uns gegenüber, ich habe oft mit ihrer Tochter gespielt. Aber Frau Senker ist lange tot, und die Tochter ist mit einem Onkel weit fortgezogen.«

Das war eine große Enttäuschung für Gruber. »Weiß man denn nicht, wohin die Tochter gegangen ist?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht kann der alte Nekel, bei dem sie gewohnt haben, Auskunft geben. Dort unten in der Straße, rechts das dritte Haus gehört ihm.«

Gruber dankte und ging. Er fand einen alten Mann im Lehnstuhl am offenen Fenster sitzen; ein junges Mädchen, wahrscheinlich eine Verwandte, war dabei, den Abendtisch zu decken.

Als Gruber dem Alten, der schon ein wenig taub war, die Frage vorlegte, schien er sich lange zu besinnen, dann nickte er mit dem Kopf und sagte: »Senker, Senker? Ja, die hat früher hier gewohnt. Eine arme Dame, aber Miete hat sie stets pünktlich bezahlt. Sie liegt nun schon lange auf dem Gottesacker –«

»Also tot.« Er seufzte. »Aber ihr Kind. Sie hatte eine Tochter –«

»Die Tochter – ja – ein niedliches Mädchen, meine Frau hat noch oft von ihr gesprochen, hat viel von ihr gehalten –«

»Kann ich denn Ihre Frau nicht sprechen? Habe nicht lange Zeit, möchte aber um Auskunft über die Tochter bitten.«

»Meine Frau ist im vorigen Jahre gestorben, die hätte Ihnen viel erzählen können. Ich hatte immer meine Arbeit, konnte mich nicht viel um die Kleine kümmern.«

»Ich möchte nur wissen, wo die Tochter jetzt ist?«

»Ja, was der Onkel war, der nahm sie ja mit nach F., das war ein Herr Wilms. Ob sie es aber gut bei ihm hat, das weiß ich nicht. Meine Frau hat oft gesagt: ›Die Kleine dauert mich, sie wird's nicht gut haben bei den Leuten, der Herr wenigstens ist ein alter Filz‹.« Während der Alte noch sprach, hatte Gruber sein Notizbuch herausgenommen und sich die Adresse aufgeschrieben, die für ihn sehr wertvoll war. Dann ging er sofort zum Bahnhof und erkundigte sich nach den Zügen. Zu seiner Freude lagen sie so günstig, daß er mit dem Nachtzug reisen und dann am Vormittag in F. eintreffen konnte.

Er fand auch glücklich die kleine Villa, wo der Herr Wilms wohnen sollte. Eine ganze Schar Kinder vergnügte sich im Vorgarten. Eine junge frische Frau stand in der Haustür mit einem großen mit Kirschen gefüllten Korb und warf sie unter die Kinder, was ein allgemeines Jubelgeschrei hervorrief, das schließlich in Rauferei und Balgen ausartete.

»Hier geht's lustig zu«, dachte Herr Gruber, »ob das Kind, das ich suche, wohl auch darunter ist?« Plötzlich fiel ihm ein, daß das Kind nachgerade erwachsen sein müsse, das junge Mädchen in Steinfeld hatte gesagt, sie habe mit der Tochter der Frau Senker gespielt. Nun, gleichviel, ob Kind oder erwachsen, finden mußte er sie nun, also los aufs Ziel.

»Schämt euch, ihr Kinder, vor dem Onkel da«, rief wieder die junge Mutter, »seht, wie er sich über eure Unart wundert.«

Da erst bemerkte Gruber, daß er wie angewurzelt dastand, den Blick auf die Kinder gerichtet, mit seinen Gedanken aber weit fort.

Er grüßte und ging auf die Frau zu. »Habe ich die Ehre mit Frau Wilms zu sprechen?«

»Wilms? Frau Wilms? Nein, lieber Herr, eine Frau Wilms gibt es hier nicht. Ich heiße Schneeberger, mein Mann hat das Haus vor zwei Jahren von dem früheren Besitzer gekauft. Der hieß, wenn ich nicht irre, Wilms. Wir sind von auswärts hergezogen. Ich will doch meinen Mann fragen, wenn er mittags nach Hause kommt. Wenn Sie sich vielleicht noch einmal herbemühen möchten –«

»Ich habe allerdings nicht viel Zeit, aber natürlich werde ich noch einmal wiederkommen, da die Frage, die ich an Ihren Mann zu richten habe, von Wichtigkeit ist.«

Er bat um Entschuldigung, falls er gestört habe, grüßte und wollte gehen. Da sah er sich von einem halben Dutzend Kinder umringt, die ihm in der Hoffnung, er sei ein Onkel, so nahe gekommen waren, daß er kaum weiter konnte. Ein kleiner Dreijähriger hatte sein Patschhändchen bereits in der großen Tasche seines Mantels, weil der größere Bruder ihm zugeflüstert hatte: »Der Onkel hat etwas mitgebracht.«

»Da ist leider nichts drin, kleiner Bursche, heute nachmittag sollt ihr eine Zuckertüte haben, aber eine ganz große –«

»Ei ja, ei ja«, schrie der Haufe. »Der Onkel bringt eine Zuckertüte mit, aber eine ganz große«, was die Mutter zu dem Ruf veranlaßte: »Schämt euch doch, was muß der Herr von euch denken!«

Gruber, der Kinder und natürliches, frisches Leben liebte, lachte, machte sich Bahn und verließ den Garten, nachdem er noch einmal gegrüßt hatte.

Zunächst begab er sich in einen Gasthof, da er merklichen Hunger empfand und auch Bedürfnis nach Ruhe hatte. Es war ja wieder eine Enttäuschung, die ihn niederdrückte; er sah auch von der Unterredung mit Herrn Schneeberger wenig Hoffnung.

Gruber saß noch bei seinem Essen, als sich die Tür des Speisezimmers auftat und ein junger Mann eintrat, der ihm bekannt vorkam. Rings herum saßen Gäste an den Tischen und aßen, Gruber kümmerte sich wenig um sie. Es waren ja alles fremde, unbekannte Gesichter. Man lachte, schwatzte oder ließ sich von den Kellnern Zeitungen bringen, um zu lesen. Dieser junge Mann interessierte ihn aber. Wo hatte er ihn doch gesehen? Auf einmal wurde es ihm klar. Es war Herr Saltino, den er auf dem Gut bei seinem Freund kennengelernt und mit dem er das Abenteuer am Neuburger See gehabt hatte. Den mußte er auf jeden Fall sehen und sprechen. Er hatte so lange nichts von ihm gehört.

Saltino hatte sich ganz in eine Ecke zurückgezogen. Der Kellner hatte ihm ein Glas Bier und die Zeitung gebracht, in der er eifrig las.

Nachdem Gruber gegessen hatte, stand er auf und ging auf Saltino zu.

»Saltino, alter Freund, wie kommen Sie hierher? Kennen Sie mich nicht mehr?«

Da glitt die Zeitung herunter, der Angesprochene sah ganz verdutzt auf den Sprechenden, plötzlich sprang er auf und rief: »Herr Gruber, wie kommen Sie hierher, gerade in den Tagen, wo ich hier bin? Das ist ein glücklicher Zufall.«

»So wohnen Sie hier nicht? Sind nicht bekannt in F.?«

»Gar nicht. Ich habe mich hier nur meiner überflüssigen Gelder zu entledigen.« Er lachte bitter.

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Gruber.

Saltino sah sich im Zimmer um. Da er merkte, daß die Augen einiger auf sie gerichtet waren, sagte er halblaut: »Wollen wir nicht in ein Privatzimmer gehen! Ich möchte mich gern einmal mit Ihnen aussprechen.«

Gruber war's zufrieden. Auch er hörte gern über Saltinos Ergehen. Wenn er ihn auch im ganzen wenig kannte, so waren sie sich doch durch das Ereignis, das sie vor mehreren Jahren miteinander erlebt hatten, näher gekommen. Gruber hätte gern gewußt, was aus dem dritten geworden war. Daß er sein Leben nicht eingebüßt hatte, wußte er, auch daß die Wunde zu heilen war, hatte er gehört, das schlimmste war der etwaige Verlust des Auges gewesen, darüber hatte er nichts mehr erfahren. Saltino hatte sehr bald aufgehört, ihm Bericht zu erstatten.

Das Privatzimmer war leer. Man setzte sich auf das Ecksofa, und Saltino begann:

»Meine Heftigkeit ist mir teuer zu stehen gekommen. Ich bin ein ruinierter Mann –«

»Nun, nun, so schlimm wird es doch nicht sein?« erwiderte Gruber. »Hat die Geschichte denn damals gar so viel Kosten gemacht?«

»Die Kosten im Sanatorium, auch die im Krankenhaus hätte ich im schlimmsten Fall noch tragen können, mußte ich ja tragen, auch die Augenoperation und das Einsetzen eines Glasauges, aber der Mann verlangt von mir eine Rente auf Lebensdauer. Ich wollte mich dazu nicht verstehen, da hat er mich verklagt, ich bin dazu verurteilt, weil, wie er behauptet hat, ich ihm sein Leben zerstört habe. Diese jährliche Rente ruiniert mich, da ich nur auf bestimmtes Gehalt angewiesen bin.«

»Sie sind Kaufmann, wenn ich nicht irre?«

»Buchhalter in einem größeren Geschäft in Berlin.«

»Und dieser Herr Richter?«

»Er war Schreiber oder dergleichen; arbeitete auch in einem Kontor. Wir sind Schulkameraden gewesen, daher die Bekanntschaft. Hätte ich ihn doch nie wieder getroffen!«

Gruber sah ernst vor sich hin und schwieg.

Saltino brach das Schweigen. »Was das schlimmste ist, durch das Schicksal sind wir beide verbittert und hassen uns gründlich.«

»Eine Sünde zieht eine Kette von Sünden nach sich«, sagte Gruber traurig. »Statt nun Ihr Unrecht einzusehen und den armen Menschen, den Sie unglücklich gemacht haben, zu lieben und ihm seine Lage zu erleichtern, schelten Sie auf ihn –«

»Ihn lieben, das fehlte gerade noch«, warf Saltino bitter hin.

»Aber Gottes Wort gebietet es uns.«

»Nach Gottes Wort richte ich mich nicht.«

»Traurig genug. Wenn Sie es täten, würde Ihr Leben eine ganz andere Färbung bekommen. Gottes Wort ist die ewige Wahrheit, es wird nie untergehen, sondern sich immer siegreich gegen seine Feinde erheben.«

Saltino sah Gruber erstaunt an. »Sie sind ein eigenartiger Mensch, Gruber. Alles, was Sie tun und sagen, hat Gehalt und festen Grund. Wenn Sie dazu die Kraft aus Gottes Wort schöpfen, dann möchte man es auch zur Regel seines Lebens machen. Ich fühle, daß ich nicht so bin, wie ich sein sollte, aber wenn Sie alle meine Nöten kennten, Sie würden begreifen, warum ich so verzagt am Leben bin.«

»Erleichtern Sie nur Ihr Herz, erzählen Sie mir alles. Doch – er sah nach der Uhr – es ist höchste Zeit, daß ich noch einen Besuch mache. Hier wollen wir uns gegen 6 Uhr treffen.« Er verabschiedete sich von Saltino und eilte noch einmal in die Vorstadt, in der Hoffnung, dort womöglich Auskunft über Herrn Wilms zu erlangen.


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