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Großtante Kathinkas Heim

Tante Kathinka stand am andern Morgen am Bett der Kranken, als sie die Augen aufschlug. Mit mütterlicher Liebe strich sie ihr über die heißen Wangen und sagte besorgt: »Das war eine unruhige Nacht, Kind, hast ordentlich ein bißchen phantasiert. Was hattest du nur von einem Herrn, der einen andern verwundet haben sollte, der dich mit seinen dunklen Augen angesehen und dich wegführen wollte.«

»Ich weiß gar nicht, was ich gesagt habe. Es war mir nur so wirr im Kopf, und er schmerzte so sehr.«

»Deshalb sollst du nun stilliegen und alles tun, was der Arzt und Tante Kathinka dir verordnen, mein Kind.«

»Aber wir müssen doch noch heute nach Buschrode.«

Tante Kathinka sagte ihr nun mit freundlichen Worten, daß daran nicht zu denken sei. Sie würde mit ihr daheim bleiben und ein stilles Weihnachtsfest mit ihr feiern. Frieda bedauerte, daß die Tante durch sie von der Reise abgehalten werde, und daß sie ihr soviel Mühe mache. Da legte die alte Tante ihr die Hand auf den Mund und versicherte ihr, daß sie gern einmal still zu Hause bliebe. Wenn Frieda brav sei und den Anordnungen des Arztes folge, könnten sie vielleicht zu Silvester und Neujahr einige Tage nach Buschrode.

Frieda war's zufrieden. Ihr tat vorderhand vollständige Ruhe not. Die letzten Wochen in Grünbach, die ganze Verantwortung, die auf ihr lag, die mancherlei Ärgernisse mit der Dienerschaft, die aufregende Nacht mit dem Silberdiebstahl, das alles hatte ihre Nerven angegriffen, dazu kam nun die starke Erkältung, so daß es kein Wunder war, wenn sie jetzt ziemlich fertig dalag.

Die Schlittenfahrt und alles, was damit zusammenhing, beschäftigte sie besonders, wenn sie still in ihrem Stübchen lag. Er hatte immer von Wiesental gesprochen. Er mußte doch in dieser Gegend wohnen, oder wollte er nur jemand zum Weihnachtsfest besuchen. Er hatte sie natürlich nicht wieder erkannt, sie war damals ein halbes Kind. Auch war er zu aufgeregt, als daß er sie näher beobachtet hätte. Sie versuchte, von diesen Gedanken loszukommen, aber immer wieder fühlte sie den energischen Druck seiner Hand, mit der er sie zwang, aus dem Abteil zu steigen und ihm zu folgen. Gleichwohl mußte sie ihm dankbar sein, daß sie glücklich an Ort und Stelle war, wer weiß, wie lange der Zug noch festgesessen hätte, wenn man auch davon gesprochen hatte, daß viele Arbeiter unterwegs seien, um Hilfe zu bringen.

Am andern Tage kamen Briefe aus Buschrode voll herzlichsten Bedauerns. Man hatte sich schon sehr um Frieda gesorgt, weil man überall von Schneeverwehungen und Steckenbleiben der Züge gelesen hatte. Nun war man zwar froh, daß sie bei der Großtante gelandet war, und daß diese sie pflegt, aber daß beide nun nicht das Weihnachtsfest in Buschrode verleben könnten, war sehr schade. Die Tanten Agnes und Emilie waren schon vor dem großen Schneefall eingetroffen, und noch einer, schrieb die Pastorin, aber davon würde Martha an Frieda besonders schreiben. Es lag auch extra ein Brief an die Pflegeschwester bei, den Tante Kathinka der Kranken, der es schon besser ging, aushändigte.

Voller Erwartung griff Frieda danach und las:

»Liebste Frieda! Ich hoffte, dir mündlich mein Glück zu verkünden, nun muß ich es schriftlich tun. Der beste und liebenswürdigste Mensch der Welt ist jetzt mein Eigentum geworden. Ich bin so glücklich, daß ich es nicht zu beschreiben vermag. Gestern haben wir uns verlobt. Du hattest immer etwas gegen Riedeck, aber wenn du ihn erst näher kennenlernen wirst, dann, denke ich, wirst du deine Ansichten ändern. Den Tanten gefällt er auch sehr. Wir sind beide namenlos glücklich. Werde bald gesund, damit du an unserem Glück teilnehmen kannst. Sehr lange wird mein Verlobter nicht hier sein, er hat nur bis Neujahr Urlaub, muß Silvester schon wieder reisen. Im Mai wird, will's Gott, unsere Hochzeit sein. Gute Besserung.

Deine Martha.«

Frieda legte den Brief auf ihr Bett und schloß die Augen. Was sie gefürchtet, war nun Tatsache geworden. Wenn sie nur damals in Eichberg nicht die Äußerung, die er gegen den jungen Herrn Dorn gemacht, gehört hätte. Dann wäre nicht dies Mißtrauen in ihre Seele gekommen. Aber wer hauptsächlich bei seiner Verbindung mit einem jungen Mädchen auf das Geld sieht, das sie mitbringt, bei dem kann die Liebe nicht allzu groß sein. Aber nun ließ sich nichts in der Sache machen; daß Riedeck ihr persönlich nicht sympathisch war, tat ihr Marthas wegen leid, aber sie konnte es nicht ändern. Sie wollte sich beherrschen, wollte keine mißliebigen Äußerungen mehr machen. Marthas größter Wunsch war nun erfüllt, infolgedessen war sie wieder freundlich und liebenswürdig. Frieda wollte ihr das Glück von Herzen gönnen und froh sein, wenn sie sich täuschte. Sie wollte sich gewiß freuen, wenn die einzige Tochter ihrer Wohltäter in der Verbindung mit diesem Herrn ihre volle Zufriedenheit fände.

Schweigend gab sie der Tante den Brief. Sie setzte sich damit ans Fenster und las. Als sie fertig war, sagte sie: »Es war zu erwarten, daß es so kommen würde.«

»Freust du dich, liebe Tante?« Die Tante umging die Frage und sagte nur: »Ich hätte ebenso gern für Martha einen Pfarrer gehabt.« Dann schwiegen beide. Es war, als ob ein inneres Einverständnis da war. Nach einer Pause stand Tante Kathinka auf, strich Frieda über die Wangen und sagte: »Und ebenso gut ist es gewiß, daß wir beide jetzt nicht in Buschrode sind. Es hat alles so kommen müssen.« Weiter wurde nichts über die Angelegenheit gesprochen.

Die alte Großtante war rührend in ihrer Güte für Frieda. Eine bessere Pflegerin konnte Frieda sich nicht wünschen. Das Mädchen, das schon viele Jahre bei der Tante diente, unterstützte sie darin. In der kleinen gemütlichen Wohnung herrschte eine Ruhe und ein Friede, die auf Friedas Nerven einen sehr wohltuenden Einfluß ausübten. So fühlte sie sich am Heiligen Abend schon um vieles besser und hatte Lust aufzustehen. Doch dagegen wurde entschieden protestiert. Aber die Tante ließ die Tür des kleinen Stübchens, in dem Frieda lag, nach dem Wohnzimmer weit geöffnet, so daß das junge Mädchen an dem geschäftigen Treiben der alten Dame vom Bett aus teilnehmen konnte.

»Siehst du, Marie«, hörte sie sie zum Mädchen sagen, »nun feierst du einmal Weihnachten bei mir; auch die Bescherung für meine Armen kann nun am Heiligen Abend stattfinden, statt daß ich sie sonst schon einige Tage früher hatte. Du hast sie doch bestellt?«

»Natürlich. Sie hatten schon große Angst, daß in diesem Jahr nichts damit würde, weil sie dachten, Frau Schubert wäre schon verreist.«

»Da sollten mich doch die Leute besser kennen, Marie; nun machen wir alles, wie es war, als mein seliger Mann noch lebte. Komm mit auf den Boden. Im großen Koffer liegt noch ein altes Weihnachtstransparent, es wird heute abend aufgestellt, damit das Kind da im Bett eine Freude hat.« Wie freute sich Frieda über diese Bezeichnung. Sich unter mütterlicher Pflege und Liebe als Kind zu fühlen, wie wohl tat das nach allen Aufregungen der letzten Zeit.

Nun wurde ein großer Tisch in die angrenzende Stube gebracht und ein weißes Tuch darüber gebreitet, das die Tante aber erst an Friedas Bett brachte, damit diese es bewundern sollte. Es war ein fast zweihundertjähriges feines Damastgewebe, die Jahreszahl war hineingewebt. Es war von Geschlecht auf Geschlecht vererbt und wurde hoch in Ehren gehalten und kam nur an besonderen Festtagen zum Vorschein. Dann wurden Äpfel und Nüsse abgezählt und Pfefferkuchen aufgelegt. Nun holte die Tante die Geschenke, und zuletzt erschien sie mit einem ganzen Arm voll selbstgestrickter Strümpfe. Die zeigte sie Frieda, indem sie sagte: »Daran habe ich das ganze Jahr gestrickt, sieh nur, diese Socken bekommt der alte Tischler, der keine Frau mehr hat, die ihn mit Strümpfen versorgt; die hier sind für meine alte Waschfrau, die keine Zeit hat, sich selbst welche zu stricken, und diese feinen weißen Strümpfe habe ich für zwei Konfirmandinnen gearbeitet.«

Frieda bewunderte den Fleiß der Tante und die feine Stickerei mit den bunten Rändern.

»Das Stricken kommt leider ganz aus der Mode«, sagte die Großtante traurig, »sieht man noch junge Mädchen mit Strickstrümpfen? Früher galt es als eine Ehre, daß eine Braut sich ihre Strümpfe zur Aussteuer selbst strickte.« Das war ein Lieblingsthema der alten Dame, die alte Zeit rühmend gegen die Neuzeit hervorzuheben, sie würde das Gespräch noch länger ausgedehnt haben, wenn es heute nicht an Zeit gefehlt hätte. So ging sie mit den Zeugnissen ihres Fleißes davon und legte sie auf die verschiedenen Plätze.

Schon alle diese Vorbereitungen vom Bett aus beobachten zu können, war Frieda eine große Freude. Sie bedauerte zwar immer wieder, der Tante nicht helfen zu können, es lag nicht in ihrer Art, still zuzusehen, wenn andere beschäftigt waren. Aber sie fühlte heute noch eine solche Schwere und Mattigkeit in allen Gliedern, daß sie froh war, liegen zu können.

Als es dunkelte, wurde das Bäumchen, das in der Mitte des Tisches stand, angezündet. Schon vorher hatte Frieda das Trappeln von Füßen auf der Treppe gehört. Jetzt wurde die äußere Tür geöffnet, und die zur Bescherung Geladenen traten ein. Das geschah alles mit solcher Ruhe und Ordnung, daß Frieda sich verwunderte.

»Grolmann, Sie setzen sich am besten hierher mit Ihrer Harmonika. Ihr Kinder stellt euch dorthin, die jungen Mädchen hier. Nun wollen wir erst singen und Gott die Ehre geben.« Die Schar begann: »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit«, der alte Grolmann begleitete dazu auf seiner Harmonika, leise und lieblich, die alte Großtante sang kräftig mit. Frieda konnte ihr liebes Gesicht gerade sehen, wie es so andächtig war und einen so glücklichen, verklärten Ausdruck trug, glücklich, weil es ihr vergönnt war, Liebe auszuteilen an solche, die kein frohes Fest hätten feiern können. Nach dem Gesang sagten noch zwei Kinder die Weihnachtsgeschichte auf, und als sie beim Lobgesang der Engel waren, da sangen sie alle vielstimmig das »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen«.

Es wurde Frieda unter dem Gesang so fröhlich zumute, daß sie meinte, noch nie ein so schönes, friedvolles Weihnachten erlebt zu haben. Sie hörte dann, als es nun ans Bescheren ging, so viele schöne Worte aus dem Mund der Tante, daß sie an diesem Abend noch viel höher als bisher in ihrer Hochachtung stieg. Wie herzlich ermahnte sie die beiden Konfirmandinnen, das Neue Testament, das sie ihnen schenkte, täglich zu benutzen. »Im Worte Gottes«, sagte sie, »liegt eine Kraft, die euch tüchtig macht, in seinen Wegen und Geboten zu wandeln, laßt es nicht links liegen, es lehrt euch euren Heiland lieben; lest jeden Morgen darin, eh ihr an eure Arbeit geht, und betet, dann wird eure Arbeit gesegnet sein.«

Zu den Kindern sprach sie liebreich und kindlich, sagte ihnen, wie der treue Heiland fromme, artige Kinder liebhabe, sie schütze und segne. »Seid ihr denn immer artig?« fragte sie zwei kleine blondlockige Mädchen. Sie schüttelten ernst ihre Köpfchen. »Nein?« fragte die Tante. »Nun? Zankt ihr miteinander?« Sie nickten stumm, die eine sagte schüchtern: »Wir schlagen uns auch.«

»Das ist freilich nicht recht, aber es tut euch gewiß leid.« Sie drückten ihre eben bekommenen Puppen fest an sich, als fürchteten sie, sie möchten ihnen entrissen werden, und stießen beide zugleich ein lautes »Ja« aus. Die Tante streichelte die Kinder wegen ihres offenen Bekenntnisses und ermahnte sie freundlich, von nun an in Liebe und Eintracht miteinander zu leben.

Die Mutter der Kinder, eine hübsche, saubere, junge Frau, die das Bekenntnis der Kinder voll Schrecken vernommen hatte, fürchtete, es möchten nun alle Wohltaten aufhören, und so trat sie dicht zu ihr heran und flüsterte: »Frau Schubert, es ist halt nicht so schlimm, es kommt mitunter wohl ein kleiner Streit vor, aber im ganzen vertragen sie sich ganz schön.«

»Ich weiß wohl, aber es freut mich, wenn die Kinder die Wahrheit sagen. Darauf halten Sie nur immer. Eine Lüge ist etwas sehr Böses.«

Zum Schluß wurde noch ein Weihnachtslied gesungen, und dann verabschiedete sich die kleine Schar unter vielen Dankesworten.

Als alles ruhig geworden war, trat Tante Kathinka zu Frieda ans Bett. Die streckte die Arme aus und umarmte sie mit den Worten: »Tante, das war eine wunderschöne Feier, ich werde sie nie in meinem Leben vergessen.«

»Am Heiligen Abend habe ich die Feier sonst nicht gehabt, immer einige Tage früher, weil ich gewöhnlich in Buschrode war.«

»Tante, welch eine reiche Bescherung konntest du den Leuten geben!«

»Ich arbeite und spare das ganze Jahr dafür. Es ist meine größte Freude im Leben.« Frieda drückte ihr stumm die Hand. Da begannen die Weihnachtsglocken zu läuten, hell und klar drangen sie durch die Winterluft in die stille Wohnung der Witwe, die Hand in Hand mit ihrem Pflegling da saß und den altvertrauten Tönen lauschte. Sie schwiegen beide und ließen Bilder aus der Vergangenheit an sich vorüberziehen. Friedas Gedanken gingen weit zurück, sie mußte an das letzte Weihnachtsfest, das sie mit ihrer seligen Mutter verlebt hatte, denken. Sie war schon recht elend und schwach gewesen damals und mochte wohl ihr nahes Ende fühlen. Sie hatte aber für ihr einziges Kind getan, was sie konnte. Viel konnte sie ihr nicht schenken, die Hauptsache für Frieda war die mütterliche Liebe, die sie umfing, und die sie so bald entbehren mußte.

»Es könnte, ja müßte alles anders sein«, hatte die Mutter an jenem Abend gesagt, »es tut mir weh, daß du, mein liebes Kind, unter den Verhältnissen leiden mußt.« Aber was hätte da anders sein müssen, darüber hatte sie als Kind wenig nachgedacht. Und der sie hätte aufklären können, war ihr persönlich nahe gewesen, ohne daß sie es beide ahnten. Sein Freund, der jenseits Neuburg ein Gut hatte, hatte ihn dringend eingeladen, das Weihnachtsfest in seinem Familienkreis zuzubringen. Und da er bis jetzt noch allein stand, weder Weib noch Kind hatte, scheute er die weite Reise nicht, um Weihnachten dort zu sein.

In den Festtagen durfte Frieda etwas aufstehen. Ihre kräftige Natur überwand allmählich die Schwäche, und man beratschlagte schon, wann der Christian kommen sollte und die beiden nach Buschrode holen.

»Es ist so schön bei dir in deinem friedlichen Heim«, rief Frieda eines Tages. »Wie kommt es nur, daß es bei dir immer wie lauter Sonnenschein ist!« Bei diesen Worten umarmte sie die alte Dame, die gerade in ihrem Gesangbuch las. Sie zeigte mit dem Finger auf einen Vers ihres Lieblingsliedes, das sie aufgeschlagen hatte, und Frieda las: »Mein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein, ist voller Lust und Singen, sieht lauter Sonnenschein. Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herr Jesus Christ, das, was mich singen machet, ist, was im Himmel ist.«

Da wußte Frieda, woher der Sonnenschein in dem Heim der Großtante Kathinka kam.


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