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Im Sanatorium

»Wie schön ist es, welch eine herrliche Luft, wie leicht atmet man hier«, sagte Martha, als die beiden Mädchen Arm in Arm durch die großen Anlagen des Sanatoriums wanderten, in dem sie den Abend vorher eingetroffen waren.

»Ja, hier kann man sich kräftigen, allein schon durch die gute Luft«, meinte Frieda. »Und sieh da die Berge mit ihren waldigen Abhängen. Da müssen wir hinauf. Wir sollen viel im Freien sein und viel gehen, sagte der Doktor, das stärke die Nerven und mache Leib und Seele gesund.« Es war ein schönes Stücklein Erde, wohin man die Mädchen geschickt hatte. Das Sanatorium lag in einem bergumkränzten Tale, umgeben von Wäldern und saftreichen Wiesen.

Munter rauschten die Bächlein durch Felder, Wiesen und blumige Auen. Die Natur gab hier ihr Bestes, und die Menschen, die hierher flüchteten, fanden Ruhe und Frieden, und die von Krankheit Geschwächten Kräftigung und frischen Lebensmut. Es war schon Spätsommer, aber trotzdem war das Sanatorium noch von Menschen aller Art überfüllt. Es war ein stetes Kommen und Gehen. Einige verließen den Ort, wie sie gekommen, unbekannt und fremd, andere, die das Bedürfnis fühlten, sich anzuschließen, redeten die Menschen, die ihnen sympathisch waren, an und schlossen Freundschaft.

Frieda und Martha waren zuerst stille Beobachter. Sie hatten einander zur Gesellschaft, daran ließen sie sich genügen. Doch interessierten sie sich für diesen und jenen, grüßten auch die Vorübergehenden freundlich und standen höflich Rede und Antwort, wenn sie angeredet wurden.

»Sieh nur den alten Herrn dort im Garten«, sagte Martha eines Tages. »Er hat ein junges Mädchen bei sich, das immer auf sich warten läßt. Jetzt stampft er wieder mit dem Fuß und sieht ungeduldig nach den Fenstern.« Frieda trat auch ans Fenster, und beide bedauerten den Alten, der unruhig hin und her trippelte und nach seiner Begleiterin ausschaute. Endlich kam sie. Er schien böse zu sein, denn er erhob drohend den Finger. Das junge Mädchen, das mit Büchern und Tüchern beladen war, schien die Verzögerung zu erklären, dann nahm sie ihn unter den Arm und wanderte mit ihm los. Es war ein sehr ungleiches Paar. Er, ein langer, dünner Herr, sie, eine kleine gedrungene Gestalt.

»Frieda«, sagte Martha zögernd, als sie ihnen von oben nachgesehen hatten, »weißt du, an wen mich die Gestalt des Mädchens erinnert?«

»An Karla, unsere Mitpensionärin«, rief Frieda. »Ich mußte schon an sie denken, als der alte Herr so ungeduldig wartete. Sie ließ ja stets auf sich warten, weil sie zu jeder Arbeit, und wenn es die kleinste war, noch einmal so viel Zeit gebrauchte als andere Menschen.«

»Das müssen wir feststellen«, rief Martha. »Es wäre doch hübsch, wenn wir hier eine Bekannte aus früherer Zeit träfen.«

»Das kommt in Kurorten oft vor«, meinte Frieda. »Doch laß uns auch hinuntergehen, es ist heute ein köstlicher Tag, wir müssen Entdeckungsreisen machen.«

Sie verließen die hübschen Anlagen und erstiegen eine kleine Anhöhe. Überall gab es Bänke zum Ausruhen, überall war Bedacht darauf genommen, es den Kurgästen so bequem als möglich zu machen. Die beiden ruhten ein wenig, dann gingen sie in den Wald. Es gab herrliche Buchen und Eichen da oben, die Waldluft war so kräftig und erfrischend. Die jungen Mädchen fühlten von Tag zu Tag mehr die wohltätige Wirkung der Luft, eine freute sich über die andere, wenn die Wangen sich rundeten und die Gesichtsfarbe frischer wurde. Frieda sah mit innerer Befriedigung, wie mehr und mehr der schmerzliche Ausdruck aus Marthas Gesicht wich, und wenn sie beide auch noch von tiefer Trauer über den Tod der Mutter erfüllt waren, so trat doch das andere Ereignis, das so tief in Marthas Leben eingegriffen hatte, mehr und mehr in den Hintergrund. Der Mann war es auch nicht wert, daß man ihm lange nachtrauerte. Es gab allerdings noch Stunden, in denen die alten Wunden aufbrachen, weniger über den Verlust Riedecks, als über ihre eigene Schwäche, über den Eigensinn, ihren Willen durchgesetzt zu haben. Da fand sie an Frieda die rechte Trösterin, die immer ein Wort bereit hatte, das dem unruhig bewegten Herzen ihrer Pflegeschwester Frieden und Ruhe gab. Wie oft versicherte sie ihr, wie dankbar sie sei, daß sie sie in dieser schweren Zeit zur Seite habe, und wie sie es sich nie vergeben könne, daß sie in ihrer Krankheit so abstoßend gewesen sei.

»Ich war in der ganzen Zeit wie mit Blindheit geschlagen«, sagte sie. »Von dem Augenblick an, da ich mich meiner törichten Liebe hingab, vergaß ich meinen Gott, ich betete nicht mehr wie sonst, ich hatte alle meine Gedanken nur auf den einen Punkt, auf das eine Ziel gerichtet, Riedeck zum Eigentum zu haben, bis das Furchtbare kam, bis mir dann, als ich von der Krankheit allmählich genas, mein Vater die Augen über mich selbst öffnete, und ich mein Unrecht in seiner ganzen Größe erkannte.« Durch solche Aussprache mit Frieda wurden die beiden wieder miteinander verbunden, besonders diente diese Zeit des Alleinseins in dem Kurort dazu, das Band der Freundschaft immer mehr zu befestigen.

Von dem alten Herrn und seiner Begleiterin sahen sie einige Tage gar nichts. Es regnete und windete, so daß jeder Gast in seiner eigenen Behausung blieb. Dazu kam, daß die jungen Mädchen sich das Mittagessen auf ihr Zimmer bringen ließen, also auch im Speisesaal keine Bekanntschaften machen konnten.

An einem Morgen war das Wetter wieder schön, so gingen Martha und Frieda miteinander plaudernd im Garten spazieren. Sie kamen in den Laubengang, einem geschützten Ort, und wollten sich dort auf einer Bank niederlassen, als sie diese schon besetzt fanden.

»Kehren Sie nicht um, meine Damen, es ist Raum für uns alle da«, rief eine freundliche Stimme. Der alte Herr erhob sich und machte mit seiner Hand eine einladende Bewegung. Die Mädchen setzten sich, und der Herr begann eine Unterhaltung. Er freute sich über das gute Wetter, meinte, in einem Kurhause seien Regentage langweilig, man habe schon in dieser Jahreszeit abends lange genug im Zimmer zu sitzen. »Ich muß mich überhaupt sehr in Geduld üben – ganz im Vertrauen zu Ihnen gesagt, meine jungen Damen, ich habe da nämlich eine Nichte zu meiner Stütze und Pflege mitgenommen, und das Mädel ist von solcher Langsamkeit und Pedanterie, daß man aus der Haut fahren möchte. Ich warte nun schon eine halbe Stunde auf sie, was tut sie? Höchstens bindet sie sich eine Schleife, die zehnmal wieder aufgemacht wird, oder steckt sich ein Tuch um, das nicht gut sitzen will. Ist das recht, meine Damen, um solcher Kleinigkeit willen einen alten Onkel warten zu lassen?«

»Heißt Ihre Nichte Karla?« fragte Frieda. »Gewiß, Karla Norden«, sagte der alte Herr. »Kennen Sie sie?«

»Ich vermute, wir sind mit ihr in der Meilerschen Pension gewesen.«

Langsam und bedächtig kam Karla dahergeschritten, verwundert aufschauend, als sie zwei junge Damen neben ihrem Onkel sitzen sah.

»Ich habe mir ein paar andere Stützen angestellt, weil meine Nichte mich immer warten läßt.«

Karla errötete und faßte die Mädchen näher ins Auge. Die sprangen auf, das Erkennen war gegenseitig. Sie schüttelten einander die Hände und sprachen ihre Freude über das Wiedersehen aus.

Fortan sah man die vier öfter beisammen. Da Martha und Frieda sehr schlank waren, so nahm der alte Herr gern einmal ihr Anerbieten, ihn führen zu dürfen, an, es ging so viel besser, als mit der untersetzten Nichte, die dann mit der andern folgte und plauderte. Es kam sogar vor, daß die jungen Mädchen schnell hinuntereilten, wenn sie den alten Herrn unten warten sahen, und ihn Karla entführten, einmal sich sogar mit ihm versteckten, so daß sie suchen mußte. Das hatte den erwünschten Erfolg. Seitdem beeilte sie sich mehr, was ihr sehr schwer wurde. Der alte Herr, der an Martha und Frieda sichtlich Wohlgefallen fand, redete ihnen sehr zu, sich doch an der Mittagstafel zu beteiligen, es sei eine so nette Gesellschaft. Da sie ihn und seine Nichte nun schon kannten, überwanden sie die Scheu und nahmen am gemeinsamen Essen teil.

Es war ganz interessant, die verschiedenen Kurgäste zu beobachten. Die Freundinnen nahmen ihre Plätze neben Karla und ihrem Onkel ein, ihnen gegenüber saß eine vornehme Dame in Trauer, die ein kleines elfjähriges Mädchen bei sich hatte. Das Kind sah blaß und kränklich aus, die Mutter klagte, daß die Kleine keinen Appetit habe, und erzählte, daß sie mit ihr hier sei, damit sie in der Gebirgsluft gesunde.

Frieda empfand bald großes Interesse für die Kleine, und die schien an Frieda Gefallen zu finden. Frieda ermunterte sie ständig zum Essen, sagte, daß es ihr noch einmal so gut schmecken würde, wenn Gretchen auch äße, machte kleine Späßchen dabei, so daß sie das Kind unmerklich dahin brachte, die Speisen zu kosten und nach und nach ein wenig mehr zu sich zu nehmen. Die Mutter bemerkte die Zuneigung ihres Töchterchens und war dankbar dafür. Trafen sie sich draußen, so redete sie die jungen Mädchen in liebenswürdiger Weise an und forderte sie einmal zu einer Wagenfahrt nach einem benachbarten Aussichtspunkt auf.

Das war ein großes Vergnügen, besonders für Margarete, die laut ihre Freude darüber äußerte, daß Frieda und Martha sich an der Fahrt beteiligten.

»Das Kind ist immer so allein und seit der schweren Krankheit so teilnahmslos«, äußerte die Mutter. »Erst jetzt, nachdem wir Ihre Bekanntschaft gemacht haben, taut sie ein wenig auf, darum ist es mir so wertvoll, wenn Sie sich an unsern Ausflügen beteiligen.« Es war den beiden auch lieb, so netten Anschluß gefunden zu haben.

Die Mutter war über die Fortschritte ihres Kindes sehr erfreut. Karla und der Onkel beteiligten sich auch mitunter an diesen Spaziergängen, doch da der Onkel ein steifes Bein hatte, mußten sie von weiteren Wegen absehen.

»Ihr glaubt es nicht«, klagte Karla mitunter, »wie schwer ich es mit dem Onkel habe. Er murrt und knurrt mitunter den ganzen Tag.« Die Mädchen rieten ihr, den Onkel nie warten zu lassen, das liebe er durchaus nicht. Sie neckten Karla noch mitunter damit, daß Herr Meiler auch oft ärgerlich gewesen sei, wenn alle auf dem Platz gewesen seien, nur Karla nicht.

»Wir glaubten, du habest dir das längst abgewöhnt«, meinte Frieda. »Doch an dem langsamen Wesen haben wir dich zuerst wiedererkannt.«

Karla mußte lachen, aber gleichgültig war es ihr nicht. Sie beschloß, von nun an nicht mehr auf sich warten zu lassen.

Am andern Morgen rief Martha lachend Frieda ans Fenster. Da stand Karla mit vergnügtem Gesicht und wartete – auf den Onkel. Das war sehr ergötzlich. Sie blieben am Fenster, bis der Alte kam. Da war er. Voll Staunen schlug er die Hände zusammen. Sie hörten Karla fröhlich lachen und sahen, wie sie ihnen noch zuwinkte. Da nahm auch der Onkel den Hut ab und schwenkte ihn vergnügt nach oben, worauf Gegengrüße erfolgten. »Heute wird er wohl nicht knurren und murren«, meinte Martha lachend. Karla hatte dies so gefallen, daß sie von nun an jeden Morgen pünktlich war. Das beste dabei war, daß sie von da an nicht mehr über Stimmungen des alten Herrn zu klagen hatte.

So vergingen die Wochen für die jungen Mädchen. Sie lernten nach und nach viele Kurgäste kennen, und da sie mit jedem Tag kräftiger wurden, so konnten sie sich sogar einige Male an längeren Ausflügen beteiligen.

Margarete schloß sich immer mehr an die jungen Mädchen an. Die Mutter aber, die nach und nach etwas über deren Lebensverhältnisse erfahren hatte und wußte, daß Frieda Lehrerin war, auch zum Herbst wieder eine Stelle suchte, hegte einen stillen Wunsch im Herzen, den sie erst gegen Ende des Urlaubs aussprach.

Als sie eines Morgens Frieda auf einem Spaziergang traf, und sie von der nahen Abreise sprachen, hing Margarete sich an Friedas Arm und sagte: »Sie dürfen aber nicht wieder fort, Fräulein Senker, Sie müssen immer bei uns bleiben.«

»Ja, liebes Fräulein Frieda, das habe ich auch schon bei mir erwogen«, fiel Frau Roller ein. »Wenn Sie doch eine Stelle annehmen wollen, möchten Sie nicht zu mir kommen und meine Margarete unterrichten, mir aber Gesellschafterin und Freundin sein?« Frieda sah verwundert auf. »Ich glaubte, Sie seien aus der großen Stadt. Besucht Gretchen da nicht lieber eine Schule?«

»Dazu reichen ihre Kräfte jetzt nicht. Sie müßte mit den andern Mädchen Schritt halten und würde es auch tun, weil sie ehrgeizig ist. Doch sie ist zu schwächlich dazu, sie muß allein unterrichtet werden. Ich aber könnte mir keine liebere Person wünschen als gerade Sie.« Frieda errötete über das Lob und sagte, sie könne sich nicht so schnell entschließen, wolle aber bis morgen Antwort geben.

Martha wurde ganz betrübt, als es mit der Trennung nun Ernst werden sollte. Aber sie kannte Friedas festen Sinn. Was sie sich einmal vorgenommen, das führte sie aus. Frieda, die gewohnt war, alles mit ihrem Gott zu beraten, bat den Herrn demütig und kindlich, ihr zu zeigen, ob es sein Wille sei, die Stelle anzunehmen.

Am nächsten Tage sagte sie zu, zur großen Freude von Frau Roller und ihrem Töchterlein.

Nicht lange mehr blieben sie im Sanatorium. Der Arzt entließ beide sehr befriedigt, und der Vater daheim war erstaunt, wie sehr sich seine Töchter zu ihrem Vorteil verändert hatten. Er konnte nicht anders, als seine Zustimmung zu der neuen Stelle zu geben, da er sah, wie sehr Frieda an ihrem Beruf hing, um das, was sie durch die Güte des Pfarrers an Kenntnissen erworben hatte, nun auch im Leben zu verwerten und auf eigenen Füßen zu stehen.

»Du kommst also in deine Vaterstadt zurück, mein liebes Kind. Möglicherweise findest du doch noch Bekannte deiner Eltern dort.«

»Wohl kaum. Die Eltern hatten keine Verwandte, auch hat Mutter nie mit mir von Freunden gesprochen. Sie hat nur mitunter gesagt, die Stadt mit allem, was drum und dran hing, wäre für sie nicht mehr vorhanden.«

Aber wunderbar fand Frieda es doch, daß sie wieder nach L. kommen sollte, wo sie geboren war und wo sie die ersten Jahre ihres Lebens zugebracht hatte.


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