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Die Pension

Es war mitten im Sommer. Ein heißer schwüler Tag mit drückender Gewitterluft. In den Anlagen, die sich mitten durch die Metropole zogen, sah man zwei junge Mädchen miteinander gehen. Die eine trug eine Büchermappe, die andere hatte Noten im Arm. Große Hüte beschatteten die Gesichter. Jetzt setzten sie sich auf eine Bank im Schatten einer großen Linde. Sie nahmen die Hüte ab, und die eine sagte zur andern, indem sie sich mit dem Taschentuch Kühlung zufächelte: »Hier ist es schön, hier wollen wir bleiben, bis die Turmuhr dreiviertel schlägt, dann kommen wir immer noch zu rechter Zeit.«

Die jungen Mädchen waren fast gleich gekleidet, sahen sich aber nicht ähnlich, obwohl beide Blondköpfe waren. Die eine hatte ein rundes Gesicht, frische Farben und braune Augen, die Farbe des Haares war aschblond, während die andere ein ovales Gesicht, feine Züge und tiefblaue Augen hatte. Ihr Haar glänzte golden, wenn ein Sonnenstrahl darauffiel; beide hatten schlichte Scheitel, das Haar war in reichen Flechten hinten aufgesteckt.

»Martha«, sagte diese, »wollen wir hier noch einmal die Briefe aus Buschrode lesen, ich habe sie erst flüchtig durchflogen, weil ich noch französische Literatur zu lernen hatte.«

»Und ich mußte noch üben und konnte sie auch nicht so gründlich lesen wie sonst. Frieda, lies du sie vor, dann haben wir beide etwas davon.«

»Wie freue ich mich auf die Ferien«, sagte Martha, nachdem die Briefe gelesen waren. »Buschrode bleibt doch das Schönste, so schön es auch hier ist.«

»Ja, Buschrode ist auch meine Heimat geworden, ich habe dort Eltern und eine Schwester gefunden«, antwortete Frieda.

»Buschrode ist für mich, seit du da bist, noch vollkommener geworden. Ich habe mir immer eine Schwester gewünscht. Dieser Wunsch ist mir aufs herzlichste erfüllt, schöner als ich es je geahnt.«

Frieda drückte ihr die Hand und sah sie mit einem Blick an, aus dem die reinste Liebe strahlte. Dann sah sie auf die Uhr und sagte: »Es muß geschlagen haben, wir haben es überhört.«

Sie sprangen eilig auf und gingen noch eine Weile miteinander. Dann trennten sie sich. »Martha«, rief Frieda der Pflegeschwester zu, »hier treffen wir uns wieder.« –

Frieda machte das Erlebnis beim Spaziergang in Neuburg die ersten Tage noch viel zu schaffen; doch sie hatte jung gelernt, über das, was sie innerlich erlebte und empfand, zu schweigen, da sie wenig Teilnahme bei ihren Verwandten gefunden hatte. So war die natürliche Folge, daß sie über ihre eigenen Gefühle und Erlebnisse verschlossen blieb. Dabei hatte sie aber ein Herz voll Liebe und Dankbarkeit gegen ihre Wohltäter und nahm an ihren Freuden und Leiden innigen Anteil. Martha, das an Liebe gewöhnte Kind, nahm es als selbstverständlich hin, daß Frieda ihre Interessen zu den eigenen machte. Frieda hätte, wenn es gefordert worden wäre, Selbstverleugnung im höchsten Grade geübt.

In der ersten Zeit beschäftigte sie das Erlebte noch oft. Sie paßte auf, ob in der Zeitung wohl von einem Unglück oder gar einem Morde berichtet wurde. Kein Mensch erzählte von dieser Begebenheit in der Nähe von Neuburg. Auch im Städtchen selbst, wohin sie öfter kam, hörte man nichts, sonst hätte die Großtante davon gewußt, deren Mädchen ihr alle kleinen Vorkommnisse von dort getreulich berichtete. So war alles ganz verborgen geblieben. Frieda wußte nur von diesen beiden, dem Verwundeten und dem andern, ahnte nicht, daß ein Dritter, der in dem Wagen an ihr vorüberfuhr, mitbeteiligt war, als sie in schnellem Lauf dem Städtchen zueilte. Eins beunruhigte sie nur, sie meinte in dem Verwundeten einen Bekannten gesehen zu haben. War es nicht Herr Richter, der Neffe der Frau Drewes? Sie konnte sich in der Eile getäuscht haben, aber immer wieder kam ihr der Gedanke. Sie schrieb mitunter an die alte Dame, die Urheberin ihrer jetzt so glücklichen Verhältnisse. Die schrieb ihr wieder, wenn auch selten, hatte aber bis jetzt nichts erwähnt.

Kurz, alle diese Gedanken bewegten sie sehr, sie drängte sie oft mit Gewalt zurück, da sie in der ernsten Konfirmationszeit, die immer näherrückte, sich nicht durch äußere Dinge zerstreuen lassen wollte. Die Stunden bei ihrem Pflegevater förderten sie seelisch und geistig. Er legte den beiden den Weg zum Himmel so klar vor Augen, wie sie durch Christus erlöst und durch die Taufe sein Eigentum geworden, nun Gottes Kinder bleiben und in der Heiligung wandeln müßten. Und weiter, wie sie durch tägliche Betrachtung des göttlichen Wortes klar den Willen Gottes zu erkennen vermöchten und durch tägliches Gebet sich die Kraft, den schmalen Weg zu wandeln, erbitten könnten, so daß die beiden Mädchen willig waren, mit Leib und Seele dem Herrn anzugehören, und am Konfirmationstage ein freudiges »Ja« vor Gottes Altar aussprachen.

Nun sollte es in die Welt hinausgehen. Frieda sollte in der Hauptstadt, wo es ein gutes Lehrerinnenseminar gab, ausgebildet werden. Den Pfarrersleuten war eine Familie bekannt, die Pensionärinnen aufnahm. Dieser Familie, die als christlich und gediegen galt, sollte Frieda anvertraut werden.

Martha war über die Trennung sehr unglücklich. Da eröffneten ihr eines Tages die Eltern, daß sie beschlossen hätten, sie auch auf ein Jahr in die Stadt zu geben, damit sie in Musik und Gesang ausgebildet werde, außerdem sollte sie an Stunden in Sprachen teilnehmen. Martha jubelte laut, als ihr dies verkündet wurde. Nun konnte sie mit ihrer Frieda weiter zusammen leben und brauchte sich vorderhand noch nicht von ihr zu trennen.

Frieda hatte sich bald in die neuen Verhältnisse eingelebt, nicht so Martha, die nie von Hause fort gewesen war und deshalb anfangs sehr an Heimweh litt, obwohl die Familie Meiler alles tat, den jungen Mädchen das Leben in ihrem Hause angenehm zu machen. Meilers hatten die Pension nicht nur, um zu verdienen, sondern weil sie geselliges Leben liebten und gern Jugend um sich hatten. Die Frau, in ihrer mütterlichen sanften Art, eignete sich besonders, erzieherischen Einfluß auf die Jugend auszuüben, auch konnte sie ihnen in praktischer Hinsicht viel sein, weshalb auch einige junge Mädchen nur zum Wirtschaftslernen dort waren. Kinder hatten sie keine. Außer Martha und Frieda waren noch vier junge Mädchen verschiedenen Alters im Hause.

Wie verabredet, trafen die jungen Mädchen sich nach etwa zwei Stunden wieder an der Ecke, an der sie sich getrennt hatten. »Jetzt aber schnell nach Hause, Martha. Es hat schon stark gedonnert, das Gewitter wird gleich losbrechen. Schirme haben wir nicht.«

Sie beschleunigten ihre Schritte, doch waren sie noch ziemlich weit von ihrer Pension entfernt, als schon einzelne schwere Regentropfen fielen, und ein Blitzstrahl herniederfuhr. »Wir kehren bei Frau Zeller ein, Frieda. Sie wohnt in dieser Straße, nur einige Häuser weiter.« Gesagt, getan. Hier fanden sie wie immer freundliche Aufnahme. Annchen und Mariechen, die beide kamen, um die Vorsaaltür zu öffnen, jubelten laut, als die Buschroder Mädchen vor ihnen standen. Waren sie doch schon mit ihnen recht bekannt geworden, weil sie auch die Osterferien im Buschroder Pfarrhaus verlebt hatten und die goldene Aussicht hatten, auch im Sommer wieder dort zu sein.

Frau Zeller kam ihnen, das Kleinste an der Hand, entgegen. Stürmische Begrüßung der jungen Mädchen mit der Kleinen. Jede wollte sie der andern wegnehmen, weshalb das Kind in klägliches Weinen ausbrach. Sie ließen es der Mutter und begrüßten Karl und Fritzchen, die gerade dabei waren, ihre Milch zu trinken, und sich wenig durch den Besuch stören ließen.

Frau Zeller mußte etwas Angenehmes erlebt haben; sie sah nicht so vergrämt wie sonst aus, im Gegenteil, sie machte den Eindruck, als sei eine große Sorge von ihrem Herzen genommen. Sie begann gleich: »Fräulein Martha, ich habe eben einen Brief von Ihrem Herrn Vater erhalten, der mich sehr glücklich macht. Mein Bruder steht vor dem Examen und soll einige Monate im Buschroder Pfarrhaus Aufnahme finden, um dort in Ruhe seine schriftlichen Arbeiten zu machen und sich auf das mündliche Examen vorzubereiten.«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie noch einen Bruder haben, Frau Zeller. Studiert er Theologie?«

»Ja, er ist Theologe. Es liegt mir so sehr daran, daß er in dieser Zeit mit einem gläubigen Menschen verkehrt. Nun wird er Ende der Woche nach Buschrode übersiedeln. Wie dankbar bin ich Ihren Eltern! Sie sind so vielen zum Segen.«

»Das sind sie«, stimmte Frieda aus Herzensgrund bei.

Das Gewitter wurde ernst. Ein Blitzstrahl folgte dem andern und mächtige Donnerschläge ängstigten die Kinder.

»Kommt, Kinder«, sagte Frau Zeller, »wir wollen ein Lied singen. Ich bin es vom Elternhause her gewohnt, eine Gewitterandacht zu halten«, fügte sie, zu den Mädchen sich wendend, hinzu, trat an das Klavier, die Kinder und jungen Mädchen scharten sich um sie, als sie anstimmte: »Allein Gott in der Höh sei Ehr«. Es war ein liebliches Bild: die Kinder mit gefalteten Händen, die Mädchen andächtig den Choral bis zu Ende singend. Man vergaß unter den Klängen der Musik alle Angst und Unruhe, und als das Lied vorüber war, hatte das Gewitter seine Arbeit getan, es rollte nur von ferne, auch der Regen hatte etwas nachgelassen. Frau Zeller versorgte die jungen Mädchen mit Schirmen, sie zogen, umringt von der ganzen Familie, ab, um schleunigst nach Hause zu kommen. Frau Meiler empfing sie besorgt. »Kinder, ich habe mich um euch gesorgt. Eben ist Rose mit Schirmen und Regenmänteln ins Seminar gegangen, von da zu Marthas Gesanglehrer.«

»Wir sind bei Zellers gewesen, Frau Meiler, und haben dort Unterschlupf gesucht, da wir mit unsern leichten Blusen dem Gewitter nicht Trotz bieten konnten. Entschuldigen Sie unser spätes Kommen«, bat Frieda.

»Immer hübsch vorsorglich, ihr jungen Mädchen. Konntet euch denken, daß es ein Gewitter geben würde. Doch nun geht, seht, ob die andern euch etwas übrig gelassen haben.«

Sie begaben sich in das große Eßzimmer, wo eben drei junge Mädchen damit beschäftigt waren, die Tassen wegzuräumen. »Beinahe hätte es nichts mehr gegeben, doch wir wollen gnädig sein«, sagte eine ganz brünette, die Lina genannt wurde. Sie war die Tochter eines vielbeschäftigten Arztes einer kleinen Stadt, nicht allzuweit von der Hauptstadt, und war hier, um den Haushalt zu lernen, hatte aber wenig Talent und wenig Lust zu praktischen Sachen. Sie saß lieber und las oder trällerte ein Liedchen, war immer heiter und guter Dinge, besonders wenn's nicht viel zu tun gab. Ein verwöhntes Kind von Haus aus, das viel Sport getrieben hatte, weshalb es die Eltern für angemessen hielten, sie in Pension zu geben, damit dort erreicht würde, was die Mutter mit ihrer schwachen Liebe nicht erreichen konnte.

Eine andere, Karla, die auch Wirtschaft lernen sollte, war dagegen fleißig, umsichtig und praktisch, nur sehr langsam und peinlich in allem, was sie tat und unternahm, konnte selten zur rechten Zeit fertig werden und ließ oft auf sich warten. Diese beiden ungleichen Naturen bewohnten ein gemeinsames Zimmer, weil Frau Meiler hoffte, die eine könnte von der andern lernen. Es gab jedoch manche Unzuträglichkeiten. Karla hatte eben das Zimmer verlassen, als sie nach einigen Minuten wieder kam und rief: »Lina, wo ist mein Fingerhut, den du gehabt hast?«

»Ach ja, das hab ich ganz vergessen. Ich konnte meinen nicht finden und nahm ihn. Er liegt unter meinem Bett, ist mir vorhin weggerollt. Ich wurde gerufen und konnte ihn nicht mehr suchen.«

»Großartig!« rief Karla mit einem Ton und Ausdruck, der eine ganze Strafpredigt enthielt. Sie warf die Tür hinter sich zu, daß es knallte, während Lina leise vor sich hinträllerte.

Martha und Frieda, die behaglich ihr Vesperbrot verzehrten, mußten wider Willen lachen. Da erhob sich ein kleines schmächtiges Mädchen, das am Fenster saß und der die andern den Namen »Vernunftskasten« beigelegt hatten, weil sie so weise und klug reden konnte, und sagte: »Das ist nichts zum Lachen. Ich weiß nicht, was aus dir werden soll, Lina, wenn du so bleibst. Du wirfst nicht nur deine Sachen weg, nein, nichts ist dir heilig, du nimmst, was du gerade bekommen kannst, gleich wem's gehört.«

»Großmutter, bist du nun fertig?« fragte Lina, und der Schalk sah ihr aus den Augen. Klotilde, so hieß das Mädchen, hatte nur ein verächtliches Achselzucken auf diese Frage.

Als Martha und Frieda oben in ihrem Stübchen waren – sie wohnten auf Wunsch der Eltern zusammen –, äußerte Frieda: »Wie gut, daß wir nicht mit Lina zusammen wohnen, sie würde alle unsere Sachen durcheinanderbringen.«

»Aber sie ist lustig«, entgegnete Martha, »sie kann die ganze Gesellschaft aufmuntern.«

»Da hast du recht. Aber für Frau Meiler wird es schwer sein, ihr alle Untugenden abzugewöhnen.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Wie gut von deinen Eltern, Martha, daß sie Frau Zellers Bruder bei sich aufnehmen wollen.« – »Es hat für die Eltern, jetzt, da sie allein sind, auch viel Angenehmes, noch einen Hausgenossen um sich zu haben. Ich freue mich für sie, Vater mag gern mit jungen Leuten verkehren. Doch ich muß jetzt meine Gesangsübungen machen.«

»Und ich muß an meinen Aufsatz gehen. Es ist ein schweres Thema, auch keine leichte Disposition. Ist Veronika schon da?«

»Ich hörte ihre Tür gehen, ich glaube wohl.«

Veronika, die sechste Pensionärin, hatte ein Zimmer für sich. Sie war auch Seminaristin, aber schon in einer höheren Klasse als Frieda und wollte schon nächste Ostern ihr Examen machen. Sie hatte etwas Zurückhaltendes in ihrem Wesen, aber Frieda fühlte sich unter allen Pensionärinnen, Martha ausgenommen, zu ihr am meisten hingezogen.

Frieda setzte sich an ihre Arbeit. Martha ging nach unten; bald hörte man einzelne Töne aus dem Musikzimmer heraufdringen. Sonst herrschte Ruhe im Pensionat, jede war mit ihrer Arbeit beschäftigt.

Meilers bewohnten ein eigenes Haus in der Vorstadt. Es lag in einem Garten und hatte nach vorn eine freie Aussicht, während hinten der Blick durch schattige Bäume und durch eine hinter dem Garten sich versteckende Häuserreihe beschränkt war. Frieda hatte die Fenster ihres Zimmers, das nach vorne lag, weit geöffnet; die Luft war nach dem Gewitter balsamisch und rein, es arbeitete sich noch einmal so gut als bei der drückenden Hitze der vorigen Tage. Sie ging mit großem Eifer an ihre Aufgaben, sie wollte im Seminar viel lernen, um eine tüchtige Lehrerin zu werden. Sehr gute Vorkenntnisse waren vorhanden, wie die Lehrer nach der Aufnahmeprüfung erklärten. Das Leben mit den andern Seminaristinnen machte ihr Freude. Es herrschte nicht jener Kastengeist, dem sie in der Töchterschule begegnet war, der sie unter den Mitschülerinnen allein dastehen ließ. Hier strebten sie alle einem Ziel zu, man war zuvorkommend und freundlich zueinander, besuchte sich gegenseitig, verabredete gemeinsame Spaziergänge, um sich über diese oder jene Frage auszusprechen, oder auch einmal alles Lernen beiseite zu schieben, um fröhlich und harmlos zu plaudern und sich ungetrübt der Natur hinzugeben. Dann und wann erlaubten Meilers den jungen Mädchen, Freundinnen einzuladen. Die Geburtstage wurden in der Regel gefeiert, im Winter durch musikalische Abende, im Sommer durch Ausflüge oder hübsche Spiele im Garten, der einen großen Rasenplatz und auch einen Platz zum Tennisspielen hatte. Es herrschte ein zwangloser fröhlicher Ton im Hause. Entstand einmal Uneinigkeit unter den Mädchen, was bei den verschieden angelegten Naturen unausbleiblich war, so wurde die Harmonie bald hergestellt, wenn Herr und Frau Meiler unter ihnen waren. Sie hatten beide in ihrem Wesen und Auftreten etwas Achtunggebietendes, jede fügte sich ohne Widerrede ihren Anordnungen.

Nach einer Stunde etwa legte Frieda die Feder befriedigt aus der Hand. Man konnte an ihrem Gesicht erkennen, daß ihr die Arbeit gelungen war. Es galt nur noch, sie sauber abzuschreiben. Da kam Martha und rief sie ins Besuchszimmer. »Tante Agnes und Emilie sind da, wir sollen sie Sonntag besuchen.«

Die Tanten hatten Sehnsucht nach den beiden Mädchen und luden sie ein, Sonntag nach der Kirche Mittag bei ihnen zu essen, nachmittags sollte ein Ausflug gemacht werden.

»Ihr Glücklichen«, seufzte Lina, als die Tanten beim Weggehen im Hausflur noch davon sprachen. Da ihnen das frische junge Mädchen gefiel, riefen sie: »Sie dürfen auch mitkommen, Kleine, wenn Frau Meiler es erlaubt.«

Als sich alle am Abend im Eßzimmer versammelt hatten, hieß es: »Wo sind Veronika und Lina?«

»Da wird wohl wieder etwas nicht in Ordnung sein«, sagte Herr Meiler. »Wir wollen uns setzen.«

Endlich erschienen sie. Veronika, ein schlankes, zartes Mädchen, sah verstört aus, Lina schielte verlegen nach Herrn Meilers Gesicht, der verdrießlich sagte: »Ich muß um etwas mehr Pünktlichkeit bitten.« Veronika wurde glühend rot, sagte aber nichts.

Lina dagegen sagte Herrn Meiler: »Ich war schuld, verzeihen Sie, Herr Meiler. Ich habe mir Veronikas Handschuhe geborgt, weil ich die meinen nicht finden konnte.«

»Unerhört«, flüsterte Karla.

»Und nun?« fragte Frau Meiler.

»Nun sind sie verschwunden«, ergänzte Veronika ärgerlich. »Ich bin gewohnt, mir meine Schulsachen, den Hut und die Handschuhe zum andern Morgen bereit zu legen.«

»Ach, bis morgen finden wir sie auch noch«, sagte Lina sorglos, »ich finde alles wieder.«

»Du mußt wenigstens die Leute fragen und nicht ungefragt nehmen, was dir nicht gehört«, erlaubte sich Klotilde zu sagen.

»Wenn ich doch noch einmal im Leben so vernünftig werden könnte wie du«, seufzte Lina.

»Na, na«, kam es von Herrn Meilers Lippen, begleitet von einem Schnalzen der Zunge, das alle nur zu gut kannten; es hieß unverkennbar: »Ich bitte nun bei Tisch von der Geschichte zu schweigen.« Die jungen Mädchen kicherten leise. Linas verblüfftes Gesicht war urkomisch anzusehen.

Nach Tisch sagte Herr Meiler einige leise Worte zu seiner Frau. Sie ging darauf mit Lina in ihr kleines Privatzimmer, wo alle Angelegenheiten erledigt wurden.

Die übrigen verfügten sich ins Wohnzimmer, weil es im Garten zu naß war. Herr Meiler las vor oder lenkte das Gespräch auf Politik und Kirche, besprach mit den jungen Mädchen die jüngsten Begebenheiten und beleuchtete alles von seinem christlichen Standpunkt aus, so daß die Stunden nach dem Abendbrot von den Pensionärinnen sehr geschätzt waren. Bald gesellte sich Frau Meiler dazu. Ihr Mann sah sie fragend an. »Lina muß suchen, bis sie die Handschuhe hat«, sagte sie, worauf der Mann lächelnd erwiderte: »Ich glaube, sie tut es ebenso gern, als daß sie hier mit der Handarbeit sitzt. An dem Mädel ist Hopfen und Malz verloren.«

Ein lautes Jubelgeschrei ließ sich draußen vernehmen. Lina stürzte ins Zimmer. »Ich hab sie, ich hab sie.« Triumphierend hielt sie ein paar angeschwärzte, zerknitterte Dinger in die Höhe.

Entrüstet rief Veronika: »Das sind nicht meine Trikothandschuhe, sie waren weiß und sauber gewaschen.«

»Sie sind in der Küche, ich weiß nicht wie, unter die Kohlen geraten, ich werde sie dir natürlich waschen.«

Veronika erklärte, das wolle sie lieber selber besorgen, sie bitte aber Lina, von jetzt ab ihr Zimmer nicht ohne ihre Erlaubnis zu betreten.

»Lina weiß, daß sie von jetzt an eine Zeitlang die Zimmer ihrer Mitpensionäre zu meiden hat, auch daß sie allein schlafen wird. Karla soll nicht mehr durch ihre Unordnung belästigt werden.« Frau Meiler sagte das ernst und ruhig, während man Lina draußen an der Wasserleitung hantieren hörte.

»Sie wäscht schon«, schmunzelte Herr Meiler, der sich des Lachens nicht erwehren konnte, worauf denn alle, die schon damit gekämpft hatten, ernsthaft zu bleiben, in ein schallendes Gelächter ausbrachen.

Frau Meiler aber beschloß, an die Mutter zu schreiben, sie möchte ihre Tochter, die nichts wie Unheil anrichte, so bald als möglich nach Hause holen. Es mache nichts Eindruck auf sie, sie füge sich schwer in die Hausordnung, sie habe als Pensionsmutter das Gefühl, daß der Aufenthalt in ihrer Pension für Lina keinen Nutzen habe. –

Da erschien die Mutter, eine lebendige, liebenswürdige Dame, selbst, sagte, ihre Lina habe sich schon überraschend verändert, seit sie in Pension Meiler sei, man solle nicht verzweifeln, es würde gewiß alles noch gut. Frau Meiler ließ sich erweichen, beschloß aber, die Zügel noch straffer zu ziehen.


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