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Das Ereignis am See

Der Wagen, der Frieda begegnet war, fuhr auf der Straße, bis er den Landweg erreicht hatte, der sich längs des Sees hinzog. Da gebot eine Stimme aus dem Wagen heraus: »Halt!« Der Kutscher hielt, ein junger Herr sprang eilfertig heraus, dem man Angst und Unruhe anmerkte, als er sagte: »Halten Sie hier, bis ich wiederkomme.«

Schnell eilte er zu der Unglücksstelle, wo der andere den Verwundeten eben notdürftig verbunden hatte. Er wurde von den beiden sorgfältig aufgehoben und, ohne miteinander zu reden, trugen sie ihn zum Wagen. Mit Hilfe des Kutschers, dem sie sagten, daß ein Unglück passiert sei, brachten sie ihn in die Kutsche und legten ihn vorsichtig in den Vordersitz. Der eben Angekommene hatte schon den Kutscher gefragt, ob es in der Nähe ein Krankenhaus oder einen Arzt gäbe, dann redete er noch eine Weile mit ihm, und nachdem er ihm ein Goldstück gegeben hatte, stieg er ein, und der Kutscher fuhr vorsichtig den Weg am See entlang auf das Schlößchen zu, das so malerisch an seinem entgegengesetzten Ende lag.

»Gott sei Dank, daß er lebt!« flüsterte der Herr, der mit dem Kutscher verhandelt hatte, dem Dunkelhaarigen zu, als sie nebeneinander auf dem Rücksitz des Wagens Platz genommen hatten.

»Es scheint wenigstens noch Leben in ihm zu sein, er ist aber schon wieder bewußtlos. Das war aber auch ein tolles Stück von Ihnen, Herr Saltino. Ich habe ein gut Teil Angst ausgestanden, während Sie fort waren. Doch sagen Sie erst, wohin fahren wir? Doch nicht in dies kleine Nest, wo es sicher keinen gescheiten Arzt und kein Krankenhaus gibt.«

»Nein, Herr Gruber. Das Schlößchen, das wir oft bewundern konnten, ist ein Sanatorium. Es sollen einige sehr geschickte Ärzte dort sein, vielleicht gelingt es, den Bewußtlosen zu retten. Ich bin ja todunglücklich, daß meine Heftigkeit wieder einmal mit mir durchgegangen ist. Hätte Rolf mich nicht so gereizt!« – »Wie kam eigentlich das Ganze? Ich war so erschrocken, so verwirrt, daß mir der Hergang nicht mehr klar ist.«

»Sie wissen, Herr Gruber«, flüsterte Saltino – da die Unterhaltung natürlich leise geführt wurde –, »daß wir in den letzten Tagen politische Auseinandersetzungen hatten, daß er heute einen Mann, den ich hochschätze, verdächtigte und sich zu Ausdrücken hinreißen ließ, die mich zornig machten. Ich schnitzte an dem Stock –«

»Mit einem handfesten Messer, und da warfen Sie, Mensch, ihm Ihr Messer mit der scharfen Klinge ins Gesicht.«

»Halt, so war es nicht. Ich wurde so wütend, daß ich den Stock aus der Hand warf. Und da flog mir – glauben Sie mir, ich lüge nicht, das Messer aus der Hand, ohne daß ich es wollte. Gott weiß es, ich habe es nicht gewollt, Herr Gruber.«

»Die Heftigkeit hat schon oft Schlimmes angerichtet«, sagte Gruber traurig. »Wenn der Wurf aus der Hand ist, sagt man, gehört er dem Teufel. Der Arme da tut mir furchtbar leid, Sie aber fast noch mehr.« Der mit »Saltino« Angeredete bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und seufzte schwer. Endlich, nach einer Pause, kamen die Worte aus seinem Munde: »Mein Gott, was wird nur!«

Der andere merkte, wie traurig und zerschlagen er war, und erfuhr nun erst, daß Saltino den Wurf nicht beabsichtigt hatte; so sagte er: »Wir wollen froh sein, daß wir die Aussicht haben, den Armen bald in die Hände von Ärzten geben zu können. Das ist noch ein Glück bei allem Unglück. Denken Sie nur, wenn wir noch stundenlang hätten fahren müssen. Auch war es für mich gut, daß ich Wasser in der Nähe hatte. Ich konnte mit meinem Taschentuch die Wunde kühlen, das reichte aber nicht, und als ich mich hilflos umsah, kam ein Mädchen und lugte durch das Gestrüpp. Halb besinnungslos habe ich ihr das Tuch entrissen, das sie aus der Tasche zog, um es als Verband auf die Wunde zu legen. Mein seidenes Halstuch habe ich darüber gebunden.« – »Das Mädchen war gewiß aus dem nahen Städtchen. Sie wird natürlich die ganze Stadt in Alarm bringen und rufen, daß ein Mord geschehen sei!« klagte Herr Saltino. – »Das wird sie nicht.«

»Mädchen und schweigen!« stöhnte der andere.

»Die Mädchen sind auch verschieden. Sie schien übrigens noch ein halbes Kind zu sein. Wie sie aussieht, kann ich nicht sagen. Ich war froh, ein reines, leinenes Tuch zu haben, und sie war froh, entfliehen zu können, so schnell ihre Füße sie zu tragen vermochten. Aber sehen Sie, die Wunde blutet noch immer.«

Saltino zog sein Tuch und hielt es dem Verwundeten, der immer noch kein Lebenszeichen von sich gab, an die Stirn. Als sie vor dem Sanatorium hielten und die Wärter den Verwundeten heraushoben, war es, als ob er ein schwaches Stöhnen hören ließ.

Obwohl Herrn Gruber dringende Geschäfte fortriefen, wollte er seinen Gefährten nicht im Stich lassen. So begleitete er mit ihm den Kranken, um das Urteil der Ärzte zu hören. Der Verwundete war aus seiner tiefen Ohnmacht erwacht, gab aber kein anderes Lebenszeichen als ein leises Stöhnen von sich. Die Ärzte veranlaßten die Herren, den Raum zu verlassen und im Empfangszimmer das Ergebnis ihrer Untersuchung zu erwarten. Es währte lange, bis einer der Assistenzärzte erschien. Er teilte ihnen mit, daß die Wunde an der Stirn nicht lebensgefährlich sei, wenn auch das Messer tief eingedrungen und der Blutverlust groß sei. »Wäre es ein wenig tiefer gegangen – dann wäre es sicher um das Leben des jungen Mannes geschehen.« Saltino zuckte schmerzlich zusammen.

»Das Schlimme ist«, fuhr der Arzt fort, »daß das linke Auge verletzt ist. Ich fürchte«, er zuckte mit den Achseln, »daß es verloren ist. Doch hier ist kein Krankenhaus, sondern ein Sanatorium für Nervenkranke. Wir wollen jedoch den jungen Mann behalten, bis er transportfähig ist. Dann muß er in die Augenklinik einer größeren Stadt. Das Auge wird wohl heraus müssen. Es ist traurig für den jungen Mann, der überdies ein körperliches Gebrechen hat, er ist ja verwachsen.«

»Kann ich mit dem Oberarzt sprechen?« fragte Saltino in gedrückter Stimmung. Nach einiger Zeit kam Saltino traurig zurück.

»Sehen darf ich Richter erst in einigen Tagen. Der Oberarzt war sehr freundlich. Ich hoffe, daß Richter, wenn er zum Bewußtsein kommt, mir verzeihen wird. Es tut mir ja so furchtbar leid.«

»Suchen Sie ihre Heftigkeit zu bezwingen, Sie sehen, wie traurig die Folgen sind. Ich muß leider jetzt fort. Helfen kann ich weiter nichts, der Kranke ist in den besten Händen.«

»Ich begleite Sie noch ein Stück. Wollen Sie von Neuburg aus weiterreisen, sonst ist die Station Wiesental ebenso nah.«

»Ich muß nach Wiesental, da mein Koffer einmal da ist.«

Saltino war unterwegs in gedrückter schweigsamer Stimmung. Der andere suchte ihn zu beruhigen. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. »Daß Sie alle Unkosten tragen müssen, wissen Sie?«

»Das weiß ich. Gern will ich alles begleichen, wenn nur das Leben meines Freundes gerettet wird.«

»Ich bin gerade gut versehen und kann Ihnen Geld vorschießen«, sagte Gruber gutmütig. Er zog seine Börse mit den Worten: »Nehmen Sie, das soll mein Anteil sein, Sie werden außerdem genug zu opfern haben.«

Saltino dankte mit warmen Worten, nicht nur für diese Hilfe, sondern für alles, was Gruber in den letzten Stunden für ihn getan hatte. Nachdem dieser gebeten hatte, ihn von Zeit zu Zeit zu unterrichten, verabschiedete Gruber sich. Saltino kehrte um und ging in das Sanatorium zurück, während Gruber sich in Wiesental eine Fahrkarte löste nach der Handelsstadt L.

Er war eine ganze Strecke allein im Abteil und konnte seinen Gedanken nachgehen. Innerhalb weniger Stunden war alles so ganz verändert. Als junger strebsamer Kaufmann hatte er eine Geschäftsreise gemacht, die ihn in die Nähe eines Landgutes führte, das einem früheren Schulfreund gehörte, mit dem er in freundschaftlicher Beziehung geblieben war. Er beschloß, ihn aufzusuchen und zwei Tage in seinem Hause zu bleiben. Dort traf er einen Herrn Saltino und einen Herrn Richter, zwei Freunde des Landmannes. Beide waren ihm unbekannt. Die Herren verlebten angenehme Tage miteinander, gingen auf die Jagd und trieben allerlei Sport. Alle drei mußten an demselben Tage abreisen. Der Gutsbesitzer war verhindert, sie zu begleiten; er wollte sie zur Bahn fahren lassen, sie zogen das Wandern vor. Der Weg, oder vielmehr das Verweilen am See, war für sie zu einem tragischen Verhängnis geworden, besonders für Saltino und Richter, aber Gruber war, ohne es zu wollen, in Mitleidenschaft gezogen.

Gruber wäre gern noch einen Tag länger bei seinem Freunde geblieben, es wurde ihm aber ein Eilbrief von einem alten Onkel nachgesandt, der auf dem Krankenbett lag und ihn bitten ließ, so bald als möglich nach L. zu kommen. Dieser wollte mit ihm einige wichtige Angelegenheiten besprechen. Es eilte um so mehr, da man geschrieben hatte, die Krankheit habe eine bedenkliche Wendung genommen, so daß er fürchten mußte, zu spät zu kommen.

Gruber mußte die Nacht durchfahren, erst am nächsten Morgen kam er an. Er ging sofort in das Haus seines Onkels. Es war ein großes vornehmes Gebäude im Mittelpunkt der Stadt. Als er an der Haustür klingelte, wurde sofort von einem alten Diener geöffnet. »Der Herr Gruber! Unser Herr hat schon von Tag zu Tag gewartet und ist sehr unruhig. Wir meinten schon, Sie hätten den Brief gar nicht bekommen.«

Gruber erklärte die Verzögerung damit, daß er verreist gewesen, und bat, ihm ein Zimmer anzuweisen, wo er sich waschen könne.

»Es ist schon seit einigen Tagen bereit, Herr Gruber!« Er führte ihn eine breite mit Teppichen belegte Treppe in ein elegantes Gastzimmer hinauf, das wohldurchwärmt einen behaglichen Eindruck machte. Der Diener berichtete, der alte Herr habe eine schlimme Nacht gehabt, schlafe augenblicklich ein wenig, vor Mittag würde Herr Gruber ihn kaum sprechen können.

Gruber war's zufrieden. Er war selbst von der Nachtfahrt und von allem Erlebten so angegriffen, daß er Ruhe brauchte. Nachdem er sich erfrischt, warf er sich auf einen Liegestuhl und fiel bald in einen festen Schlaf. Durch lautes Klopfen wurde er geweckt. Er fuhr auf und mußte sich besinnen, wo er war. Der alte Diener öffnete die Tür und meldete, daß ihn der Onkel dringend zu sprechen wünsche.

Gruber folgte dem Alten in ein halbdunkles großes Gemach. In der Mitte der Stube, zwischen zwei hohen Fenstern, die mit schweren Portieren verhangen waren, stand ein Bett, in dem, durch Kissen gestützt, ein kranker Mann vornübergebeugt saß. Als Gruber vor seinem Bett stand, blickte er auf.

»Hattest du mich auch vergessen? Du hast mich lange warten lassen.« Der junge Mann erklärte die Verzögerung und versicherte, daß es ihm herzlich leid tue, den Onkel so krank zu sehen.

»Ich bin schwer krank. Meine Tage sind gezählt. Du weißt, daß ich dich nach dem plötzlichen Tod meines Sohnes zum Erben eingesetzt habe. Du sollst das große Geschäft, das nur einmal einen Krach durchgemacht hat, sich aber dann um so mächtiger wieder emporhob, fortan verwalten!«

»Ich weiß es, Onkel, du hast schon im vorigen Jahr mit mir über alles gesprochen. Ich konnte leider meine Geschäftsverbindungen nicht so schnell abbrechen, um, wie du wünschtest, bei dir einzutreten, um mich hier einzuleben. Nun habe ich alles soweit geordnet, es hat sich jemand gefunden, der mein junges Geschäft unter günstigen Bedingungen übernimmt, ich kann jetzt jederzeit zu dir kommen.«

Der Alte schien sichtlich erfreut und beruhigt über diese Zusage. »Ich hoffe aber«, fuhr der Jüngere fort, »daß du dich wieder erholst. Du bist noch nicht so alt, daß man nicht hoffen könnte –«

»Die Jahre machen es weniger. Ich habe in den letzten Zeiten zu viel Trübes in der Familie durchmachen müssen. Meine Frau ist gestorben und mein hoffnungsvoller Sohn verunglückt –«

»Ich weiß, ich weiß, lieber Onkel. Rege dich nicht auf, das Sprechen wird dir schwer.«

»Du hast recht, ich kann nicht mehr.« Er sank erschöpft in die Kissen zurück.

Gruber bemerkte, daß eine große Veränderung mit dem Onkel vorgegangen war. Was war aus dem stattlichen, kräftigen Mann geworden, der ihm noch im vorigen Jahr so rüstig erschienen?

»Es ist besser, ich lasse dich jetzt allein, Onkel. Du bedarfst vollständiger Ruhe, dich hat schon die kurze Unterhaltung elend gemacht –«

Das Gesicht des Kranken nahm einen ängstlichen unruhigen Ausdruck an. Er bemühte sich wieder aufzurichten, allein es gelang ihm nicht. »Ich muß dich noch allein – – sprechen – – wegen einer – – besonderen Angelegenheit –«

»Aber jetzt nicht«, wehrte der Neffe entschieden ab. »Ich komme heute nachmittag oder gegen Abend wieder, wie es dir paßt. August kann mich jederzeit rufen, dann kannst du weiter mit mir reden.«

»Ich muß – dir etwas – Wichtiges anvertrauen, es ist doch niemand weiter im Zimmer?« Er sah sich mißtrauisch um.

Der Neffe versicherte, daß niemand da sei, und überredete endlich den Kranken, zu ruhen. Es kam ein Erstickungsanfall, so daß sich ein Weiterreden von selbst verbot. Nachdem der Anfall vorüber, war der Kranke in Schweiß gebadet und so schlaff, daß er mit geschlossenen Augen dalag. Gruber überließ ihn der Aufsicht des Dieners und ging leise hinaus.

Schon am Nachmittag ließ ihn der Onkel wieder rufen. Er saß, wie am Morgen, von Kissen unterstützt aufrecht und begann gleich: »Was ich jetzt mit dir rede, bleibt unter vier Augen, versprich es mir.« Er sah sich wieder angstvoll um. »Es ist niemand hier, Onkel. Ich verspreche dir, ich werde, was du mir zu sagen hast, als dein Geheimnis wahren.«

»Ich bin nicht der rechtliche Mann, für den du mich hältst. Aber das Sterben wird schwer, wenn man jemand betrogen hat.« Der Neffe zuckte zusammen. So etwas hatte er nicht erwartet.

»Es ist lange her, da hatte ich einen Teilhaber. Er hatte ein großes Kapital im Geschäft, starb aber jung und hinterließ eine Witwe. Es war gerade eine Zeit der Ebbe im Geschäft. Wir hatten ein großes Unternehmen gewagt, es schien zu scheitern. Da habe ich der Witwe gesagt – ihr Kapital – sei verloren!«

»Und es war nicht verloren?«

»Ja – nein – es schien so – nein, es war nicht verloren. Sie ist viel deswegen gelaufen – ich habe ihr eine Abfindungssumme gegeben, aber nicht so viel, daß sie anständig leben konnte. Ich habe keine Gewissensbisse gefühlt. Erst jetzt kommt die Reue.«

Er sank wieder zurück. Aber jetzt konnte Gruber ihn nicht verlassen. Er mußte den Namen der betrogenen Frau erfahren.

»Wie heißt diese Frau?« Er neigte sein Ohr zu dem Munde des erschöpften Kranken und vernahm deutlich die Worte: »Sie heißt: Frau Luise Senker.«

»Hat sie Kinder?« »Nur ein kleines Töchterchen.«

»Wo wohnt sie?« Er konnte keine Antwort darauf erhalten, weil ein starker Anfall es unmöglich machte. Erst am andern Tage konnte er noch einmal kurz erfahren, daß die Frau fortgezogen sei, niemand wisse wohin. Der Neffe mußte versprechen, nach ihr zu forschen, womöglich in der Stille, und ihr das Geld, um das sie betrogen worden, auszuzahlen.

Gruber war ein ehrlicher aufrichtiger Charakter. Er gelobte sich, alles daranzusetzen, die Frau ausfindig zu machen.

Noch in derselben Nacht starb der Onkel.

Die Lebenswege sind oft so verschlungen. Wenig ahnte der Neffe, daß das Mägdlein, das er kaum beachtet hatte, die Tochter der Frau Luise Senker war!


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