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Die neue Heimat

Es war Ende November. In einem Abteil dritter Klasse erhob sich ein junges Mädchen von einem Sitz, als der Schaffner »Neuburg« rief. Sie nahm Tasche, Mantel und Regenschirm zur Hand und stieg zögernd aus, als die Türe ihres Abteils geöffnet wurde. Mit etwas bänglichem Gefühl sah sie sich um. Es war ihr geschrieben worden, sie würde vom Neuburger Bahnhof abgeholt, nun schien niemand da zu sein. Die Welt war so weit und fremd, Frieda stand da, verlassen und einsam, wieder die arme Waise, die keine Eltern, keine Heimat hatte. Wie würde es ihr nun gehen?

Frau Drewes hatte günstige, wenn auch kurze Antwort erhalten, daß man bereit sei, das junge Mädchen aufzunehmen. Tag und Stunde der Abfahrt war genannt, der Herr werde selbst an diesem Tage in der Stadt sein und sie vom Bahnhof abholen. Nun war niemand da. Unschlüssig stand sie mit Tasche und Schirm, die Tränen wollten schon kommen, da trat ein alter Eisenbahnbeamter herzu und fragte freundlich, wen sie suche. »Den Herrn Pfarrer aus Buschrode?«

»Sein Wagen hält ja an der andern Seite, kommen Sie mit, liebes Kind.« Er ging voran, sie folgte. Als sie die Halle durchschritten hatte und dem Ausgang zueilte, kam ein Herr auf sie zu und fragte: »Sind Sie Frieda Senker, liebes Kind, unsere künftige Hausgenossin?« Sie nickte. Da ergriff er ihre Hand, drückte sie herzlich und sagte: »Willkommen, liebe Kleine. Es tut mir zu leid, daß ich einige Minuten zu spät kommen mußte, die Konferenz war nicht früher aus, auch mußte ich noch einen kurzen Besuch bei einer alten Tante machen, Sie haben gewiß schon gewartet?«

»Es macht nichts«, sagte Frieda leise.

Er trug einem Dienstmann auf, Friedas Koffer zu besorgen; sie mußte dann einen warmen Pelz anziehen; er selbst versorgte sich mit warmen Sachen, »denn«, sagte er, »es ist heute kalt, auf dem offenen Wagen muß man sich vorsehen«.

Frieda meinte, sie sei nicht verwöhnt. Da sah er sie freundlich an und sagte: »Das ist recht, das höre ich gern. Junge Leute müssen alles vertragen können, aber Vorsicht ist doch beim Reisen gut, und meine Frau hat es mir ans Herz gelegt, dafür zu sorgen, daß Sie warm sitzen. Na, ich denke, nun können wir losfahren. Vorwärts, Christian.«

Christian zog an, die Pferde trabten munter davon, und bald rollten sie auf der Landstraße dahin. Der freundliche Empfang, der warme Pelz, das wohlwollende Gesicht des Pfarrers, alles war dazu angetan, der Waise das Herz warm zu machen. Sollte sie wirklich zu Leuten kommen, die es gut mit ihr meinten, die ein klein wenig Liebe für sie empfinden würden? Ihr klopfte das Herz, als sie der neuen Heimat immer näher kamen. Es dunkelte bereits, einzelne Lichter tauchten hier und dort auf. Jetzt waren sie im Dorf, der Wagen rasselte über Steinpflaster und fuhr bald in den Pfarrhof ein. Die Haustür wurde stürmisch aufgerissen, ein Mädchenantlitz wurde sichtbar, neugierig lugten die freundlichen Augen nach der neben dem Vater sitzenden Gestalt.

»Bist du da, Väterchen?« Mit diesen Worten begrüßte sie den Vater, der schon abgestiegen war. Dann half sie Frieda aus ihrer Umhüllung und sagte freundlich: »Willkommen im Pfarrhaus zu Buschrode.« Zaghaft betrat Frieda den Hausflur. Hier stand eine ältere Dame, die die arme Waise mütterlich an ihr Herz nahm mit den Worten: »Gott segne deinen Eingang in unser Haus.« Welch ein Empfang war das! Ehrenpforten und Girlanden, große Reden und dergleichen hätten bei dem verwaisten Kinde nicht solchen Eindruck gemacht, als diese schlichten aus dem Herzen kommenden Worte der Pfarrfrau.

»Du bist nun unser Kind«, fuhr sie fort, indem sie sie unter den Arm nahm und in das hell erleuchtete Wohnzimmer führte. Hier stand ein gedeckter Tisch, Martha, die Tochter, goß den Tee auf und holte noch Fehlendes herzu, dabei sah sie immer verstohlen nach ihrer Altersgenossin, mit der sie nun zusammen leben sollte. »Es war uns wie ein Wink von oben«, begann der Pfarrer, als man sich zum Abendessen an den Tisch gesetzt hatte, »als dieser Brief von der Tante Drewes kam. Wir hatten uns schon immer für unsere Martha eine Genossin gewünscht, nun fand sie sich so ungesucht.«

»Du gehörst ganz zur Familie, Frieda, wir nennen uns alle du«, bemerkte die Pfarrfrau, indem sie dem jungen Mädchen eine sehr reichliche Portion vorlegte, was dieser ein erstauntes: »Ich danke, o so viel!« entlockte.

»Du siehst mir aus, als hättest du unterwegs Hunger gehabt«, setzte sie hinzu. »Sieh nur, was für runde Backen Martha hat, die sollst du hier, will's Gott, auch bekommen.« »Das will ich meinen«, fiel der Pfarrherr ein, und Frieda dachte, indem sie tapfer aß: »Sie gönnen es mir beide.«

Der Pfarrer fragte noch nach dem Beruf des Onkels, sagte aber dann: »Nun iß noch ein wenig, wenn's schmeckt.« Mit diesen Worten hielt er ihr die schön duftenden Bratkartoffeln so verführerisch unter die Nase, daß sie wirklich noch einmal nahm. Solch freundliches Zureden kannte sie ja gar nicht.

Nach dem Essen räumte Martha den Tisch ab, da kam Frieda gleich herzu, ihr zu helfen. »Heute darfst du noch nicht, du bist müde von der Reise«, wehrte sie der Eifrigen, die trotzdem mit den Tellern in die Küche ging und dabei sagte: »Ich muß doch wissen, wohin alles gehört, damit ich nicht nötig habe, viel zu fragen.«

»Frieda«, rief Martha, als sie die Speisereste aufgehoben hatten, »wie freue ich mich, daß ich dich nun habe; ich muß dir einmal einen Kuß geben.« Mit diesen Worten umarmte sie Frieda und herzte und küßte sie. »Ich habe dich schon sehr lieb«, fügte sie hinzu.

»Ich dich auch«, flüsterte Frieda leise, voll tiefer innerer Bewegung. Wie konnte sie nur das alles, was sie in den letzten Stunden hier erfahren hatte, bewältigen. Es war des Guten zuviel.

Der Pfarrer hatte sich unterdes zu seiner Frau ins Sofa gesetzt. »Die Kleine sieht noch wie ein Kind aus; sie macht den Eindruck, als ob sie es nicht allzu gut gehabt hat.«

»Das schrieb ja schon die Tante. Sie deutete an, daß das Kind bei Verwandten gewesen, die allgemein als geizig bekannt waren. Solche Leute haben gewöhnlich nicht viel für andere übrig. Frieda hat uns gegenüber noch etwas Befangenes, ich denke, das wird sich mit der Zeit legen.«

»Wir wollen sie alle recht liebhaben«, versetzte die Pfarrfrau.

»Die beiden haben schon Freundschaft geschlossen«, rief der Pfarrer, als Martha und Frieda eng aneinander geschmiegt in die Tür traten.

Man unterhielt sich noch ein wenig im Wohnzimmer; der Pfarrer erzählte von der Stadt und packte Kleinigkeiten aus, die er für die Seinen mitgebracht hatte. Dann rief er Christian und das Hausmädchen, es wurden Gesangbücher verteilt, die Hausfrau setzte sich ans Klavier, um den Choral zu begleiten, während der Pastor mit voller Stimme anhob: »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren.« Alle andern fielen ein, auch Frieda sang tapfer mit, doch als sie an die Stelle kamen: »Lobe den Herrn, der deinen Stand sichtbar gesegnet, der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet«, versagte die Stimme, Tränen rannen über ihre Wangen, sie konnte nur innerlich Gott für den Weg, den er sie geführt hatte, danken. Der Pfarrer las einen Abschnitt aus der Bibel und erklärte ihn, dann betete er, schloß auch die neue Hausgenossin in seine Fürbitte, darauf wurde der letzte Vers des Liedes gesungen. Der Waise ging das Herz auf darüber, daß sie gemeinsam mit anderen Gottes Wort hatte betrachten dürfen, bisher hatte sie es nur verstohlen getan.

Nach der Andacht meinte die Hausfrau, es sei wohl Zeit, daß Frieda zur Ruhe komme. Martha solle sie nach oben führen, ihr den Koffer auspacken helfen und dann solle Frieda nach der langen Reise gut ausschlafen. Die jungen Mädchen sagten gute Nacht, dann gingen sie miteinander nach oben.

»Ein niedliches Mädchen, nur sehr dünn und blaß. Mutter, die müssen wir ordentlich herausfuttern, du sollst einmal sehen, was dann aus ihr wird.«

Frau Charlotte nickte ihrem Mann freundlich zu, weil er wußte, daß es so viel bedeutete wie: »Ich denke grade so wie du.« Im Punkt des Wohltuns trafen ihre Ansichten immer ganz zusammen, sonst konnte Frau Charlotte mitunter ihr Köpfchen für sich haben.

Die beiden Mädchen waren oben angelangt. Frieda dachte lebhaft an den ersten Abend bei Onkel und Tante, wo sie mit den Händen vorwärts tastend sich ihr Kämmerchen suchen mußte. Heute trug Martha eine hübsche kleine Lampe, ihr Eigentum, und leuchtete voran. Als sie in ihrem Zimmer waren, die Lampe auf dem Tisch stand und alles hell beleuchtete, rief Frieda erstaunt aus: »Welch ein hübsches Zimmer. Ist das ganz zu deinem Gebrauch?« »Jetzt auch zu dem deinen. Wir wollen hier wie Schwestern leben und uns wie Schwestern liebhaben. Nebenan«, sie öffnete eine Tür, »ist unser kleines Schlafzimmer, es ist so hübsch, wenn Freundinnen zusammen schlafen, oder wärst du lieber für dich geblieben?«

»Nein, so ist es viel schöner. Es ist überhaupt alles zu gut für mich, ich bin das gar nicht gewohnt!«

Plötzlich kam es mit Gewalt über sie. Alles, was drinnen im Herzen verborgen geschlummert hatte, die große Sehnsucht nach Liebe, sie war heute erfüllt. Es überwältigte sie so, daß sie sich nur durch Tränen Luft machen konnte. Sie weinte und schluchzte, daß es Martha ganz bange wurde.

Sie umarmte sie und bat, ihr zu sagen, was ihr fehle. Frieda schüttelte nur den Kopf, weinte immer weiter.

»Frieda, ist dir etwas nicht recht, sage es mir, ich will ja alles tun. Fehlt dir etwas?«

»Nichts, nichts«, schluchzte sie. »Ich bin nur so glücklich, so dankbar, daß ich hier bleiben darf. Ich weine – ja nur – wegen der vielen Liebe.«

Nun war es heraus. Wenn auch Martha, die im Sonnenschein der Liebe groß geworden war, nicht begreifen konnte, wie man um Liebe, die man empfing, weinen könne, so war sie doch jetzt beruhigt, daß sie nichts gefehlt hatte. Sie küßte die neu erworbene Freundin und versprach ihr noch viel mehr Liebe, dies sei ja erst ein geringer Anfang. Aber weinen dürfe sie nicht mehr, das sei so traurig, sie möchte gern ein heiteres Gesicht bei der Freundin sehen.

Allmählich beruhigte sich das junge Mädchen, und als Martha vorschlug, den Koffer auszupacken, war Frieda gleich bereit. Sie trocknete ihre Tränen, und bald waren sie mit dem Inhalt des Koffers voll beschäftigt. Martha schien etwas enttäuscht über das, was sie an Kleidungsstücken und Wäsche auspackte, aber eine Menge Bücher gab es. Die gaben Veranlassung, vom Unterricht zu sprechen. Martha war bisher allein vom Vater unterrichtet worden, während Frieda das voraushatte, mit vielen anderen Mädchen in einer großen städtischen Schule den Unterricht genossen zu haben.

»Hast du denn keine Freundin gefunden unter allen Mitschülerinnen?« fragte Martha verwundert.

»Ich hätte es wohl, es waren einige sehr nette Mädchen darunter, aber meine Verwandten liebten es nicht, wenn ich Besuch bekam, und erlaubten es mir nicht, Einladungen anzunehmen.«

Martha schwieg. Sie hätte ausrufen mögen: »Wie häßlich!« aber die Eltern hatten ihr schon immer untersagt, solche Äußerungen über ihre Mitmenschen zu machen. Sie konnte aber doch am andern Morgen nicht unterlassen, der Mutter einige Bemerkungen über Friedas unzureichende Garderobe zu machen.

»Mutter, sie ist wirklich recht dürftig ausgestattet, da mußt du Rat schaffen. Zu Weihnachten muß sie ein hübsches fertiges Kleid haben, das sie in den Feiertagen tragen kann. Ich mag nicht, wenn sie weniger gut angezogen ist als ich.«

Die Mutter lächelte über den Eifer ihres Kindes. Sie hatte schon selbst den Abend vorher bemerkt, daß Frieda recht herausgewachsen aussah, auch war die Machart des Kleides wunderlich, keine geübte Schneiderin konnte es angefertigt haben.

»Wie wär's, mein Kind«, sagte Frau Charlotte, »wenn du ihr von deiner Fülle abgäbest. Du wirst von allen Tanten und von deinen Eltern so reich bedacht, daß du fast Überfluß an guten Kleidern hast.«

»Ja, liebste Mutter, ich gebe ihr von meinem Reichtum ab«, strahlte Martha und klatschte vor Freude in die Hände. Sie lief eilfertig hinaus, um ihre Schätze zu holen.

Unterdes war Frieda von der andern Seite ins Zimmer getreten und freundlich von der Mutter begrüßt worden. Sie mußte jetzt erst ordentlich frühstücken. »Heute ist noch keine bestimmte Stunde für dich, mein Kind. Wir frühstücken sonst gemeinsam um sieben Uhr«, sagte die Pfarrerin.

Mit großen Augen sah Frieda auf Martha, als sie mit einem Stoß Kleider auf dem Arm erschien.

Mit einem Seufzer legte sie sie hin. »Es brauchte ja nicht gleich zu sein«, lachte die Mutter.

»Sieh, Frieda«, fuhr sie fort, »Martha hat einen solchen Überfluß an Kleidern, daß sie gern mit dir teilen möchte. Es ist nur die Frage, ob dir die Sachen passen werden, sie ist länger und stärker als du.«

»Sie muß sich in die Sachen hineinessen«, scherzte der Pfarrer, der eben in die Stube getreten war und das letzte gehört hatte. Frieda lächelte und meinte, das würde wohl nicht so schnell gehen.

Als der Hausvater das Zimmer wieder verlassen hatte, wurde Anprobe gehalten. Ein sehr hübsches graues Kostüm bedurfte einiger Änderungen, die von der geschickten Dorfschneiderin ausgeführt werden sollten. Frieda fand es zu fein für sich, aber niemand war froher als Martha, daß sie ihrer Freundin das erste Geschenk machen konnte.

»Wer hat denn deine Kleider gearbeitet, als du bei der Tante warst?« fragte die Pfarrerin.

»Eine Frau Benak. Sie verstand etwas vom Schneidern, hatte es aber nicht richtig gelernt. Sie machte lieber Hausarbeit und tat es nur der Tante zu Gefallen, weil die andern Schneiderinnen so teuer waren.«

Jetzt konnte Frau Pfarrer begreifen, warum das Kind so wunderlich in seinem Reisekleid aussah, warum es so schlecht paßte.

Im Laufe des Tages mußte Frieda viel kennenlernen. Die unermüdliche Martha zeigte ihr das ganze große Pfarrhaus, den Garten, die daran stoßende Wiese, die Ställe und den Hof. »Morgen gehen wir ins Dorf, dann lernst du unsere Leute kennen. Ich habe ihnen schon erzählt, daß du kommst, sie sind neugierig, dich zu sehen.«

Wie ganz anders war das Leben hier als bei den Verwandten. Eine neue Welt ging ihr auf. Ob das Denken füreinander, das Arbeiten miteinander, dieser gegenseitige Gedankenaustausch wohl immer so bleiben würden? Dann war die Welt doch gar so schön!


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